Selten, aber manchmal kommen doch im Leben jene Momente, an denen sich die Geister erfreulich deutlich scheiden. Weil sie zum Beispiel selbst sich veranlaßt sehen oder gedrängt werden durch die Macht der Verhältnisse und Umstände, ihre Sicht der Dinge zu offenbaren. (Das Wort „offenbaren“ halte ich übrigens für ein sehr schönes Wort, das ich der Journaille als Ersatz für das Wort „outen“ an ihr Herz lege. Weil Sprache doch ihr Handwerkszeug ist.) Jemand richtet den Scheinwerfer auf den Kaiser, der Kaiser steht plötzlich nackt in vollem Lichte, und nun erzählen die Verblüfften, was ihnen so in ihr staunendes Auge fällt, und was sie darüber alles denken mögen und meinen.
Nach dem Auftritt des Barden Wolf Biermann im Bundestag, o! mit welchen attributiven Unterstellungen wurde er in einer erstaunlichen Geschwindigkeit belegt, schneller als jeder Gedanke. Von Biermanns „ewigem Groll“ ist die Rede, von „Respektvergessenheit“ und „Geifer“, von einer „Beschimpfungsorgie“, vom „aggressiven Biermannton“ und von „diffamierend“. Alles Vorwürfe, die man ähnlich auch gegen solche Typen wie Heinrich Heine erhob. In der Fuldaer Zeitung heißt es sogar erschrocken, Biermann verließ „den Boden der ‚Political Correctness'“! Das ist ja nun wirklich die Höhe.
Es scheiden sich die Geister.
Frank Capellan vom Deutschlandfunk, dessen Beiträge sich gewöhnlich, ich hörte bis zu dieser jedenfalls noch keine Ausnahme, in einer geistfrei zitierenden Aneinanderreihung irrelevanter Worthülsen von Politikern erschöpfen (also das Markenzeichen moderner Journalistik in Reinform, das spart auch Sachkenntnis und Eigenrecherche, ist dann am nächsten Tag garantiert vergessen und auf jeden Fall politisch korrekt) spricht plötzlich von „Hasstiraden“ und unterstellend von alten Rechnungen, die der „selbstgefällige Biermann“ habe begleichen wollen. Und man hätte doch auch statt seiner und zur Vermeidung vorhersehbarer Skandale, Karat oder die Puhdys in den Bundestag einladen können. Hierbei handelt es sich um zwei Pop-Gruppen, welchen zu DDR-Zeiten die erforderliche „Spielerlaubnis“ erteilt worden war, im Gegensatz zu anderen. Im Gegensatz zur Renft-Combo beispielsweise, oder der Gruppe „Sputniks“, denen die Spielerlaubnis wieder entzogen und nicht erlaubt worden war, sich „Telstars“ zu nennen. Und erst recht natürlich im Gegensatz zu Wolf Biermann, der jahraus jahrein in seiner Stube in der Berliner Chausseestraße seinen Kachelofen hatte ansingen müssen. Also, der Schein hieß „Staatliche Spielerlaubnis“, Puhdys und Karat besaßen ihn, und ich spreche von sich scheidenden Geistern.
Nun mag der Vorschlag mit den Puhdys vielleicht ironisch gemeint sein, aber dann zitiert Capellan bierernst ausführlich Richard Pitterle, einen Abgeordneten der Linken. Die Abgeordneten seiner Partei wären keinesfalls das, „als was Biermann sie verteufeln möchte“. „Die wenigsten von ihnen waren in der SED“, manche seien beim Mauerfall noch Kinder oder Jugendliche gewesen, viele im Westen aufgewachsen… Die armen Kleinen. Es könnte einem das Wasser in die Augen schießen vor Rührung. Doch stattdessen wollen wir mal so tun, als wären wir halbwegs intelligente Menschen und bewehrt mit einem gewissen Gedächtnis und wollen uns fragen: Könnte es nicht sein, daß der Dichter, wenn er, auf die zufällig zu seiner Linken gerade anwesenden Parteigenossen weisend, von „ihr seid der elende Rest“ spricht, die ganze Partei Der Schamlosen meinte, die heutigentags, also zum selbigen Zeitpunkt dieser seiner zornigen Äußerung, in Ostdeutschland zu 75 Prozent noch aus ehemaligen SED-Genossen besteht (laut Mitteldeutscher Zeitung aus Halle vom 8. November 2014) und die, samt ihrem Flaggschiff, dem Advokaten, welchem Zusammenarbeit mit der sogenannten Staatssicherheit und Mandantenverrat vorgeworfen wurde aus irgendeinem Grund, sich anmaßt, für die Ostdeutschen zu sprechen? Ja sollte es denn möglich sein? Haben wir nun einst Interpretation dichterischer Einlassungen gelernt und schon wieder alles vergessen? Was einmal war?
Könnte es nicht sein, daß es nicht um alte Rechnungen ging, sondern um höchst aktuelle?
Das erste Lied auf der ersten Platte Biermanns, der Platte „Chausseestraße 131“ (dort illegal aufgenommen, mit deutlich hörbarem quietschenden Straßenbahngeräusch vor den Fenstern, und in den Westen geschmuggelt) hieß übrigens „Die hab ich satt!“ Und das erste Lied auf der dritten illegalen Platte hieß „aah-ja!“ und dessen fünfte Strophe beginnt: „Die krummsten Hunde – na grade die!“ Ausgerechnet die!
Um jedoch auf den originalen, aus Westdeutschland stammenden Pitterle zurückzukommen, am Ende des originalen Interviews stellte die Moderatorin Christiane Kaess auch ihm die Gretchenfrage:
Kaess: Herr Pitterle, noch kurz zum Schluss. Gysi ist ja dennoch bei seiner Haltung geblieben, die DDR nicht pauschal als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Wäre das heute eigentlich nicht die Gelegenheit gewesen, das zu revidieren?
Pitterle: … Ich habe damit keine Probleme. Ich war auch 1992, glaube ich, mit einer Schülergruppe in Torgau und da ging es genau um das Thema, war die DDR ein Unrechtsstaat, und da habe ich das moderiert und das war sehr schwierig für die PDS in Torgau, das so zu schlucken, wie das die Schüler, die eine vergleichende Arbeit gemacht haben über Sindelfingen nach ’45 und über Torgau nach 1989, vorgetragen haben. Aber die Diskussion, denke ich mir, muss auch mit bestimmtem historischen Abstand geführt werden. Die DDR war nun mal eine Diktatur …
Kaess: Und ein Unrechtsstaat?
Pitterle: Wenn Sie das so wollen. Die Frage ist doch, wie das dann definiert wird. Bei der Definition sagen mir dann Leute, es gab ja viele Rechtsbeziehungen, die funktioniert haben. Man konnte sich scheiden lassen, man konnte Erbschaftsverträge abschließen und so weiter. Aber dann gab es den Bereich der politischen Justiz, die verbrecherisch war und die man deutlich verurteilen muss, und es war so, dass die DDR auf keinen Fall ein Rechtsstaat war, weil es dort keine freien Wahlen gab, weil es dort keine Gewaltenteilung gab und weil es auch politische Willkür gegeben hat. Wenn Sie das anders definieren, dann müsste ich mir überlegen, ob ich zustimme.
Kaess: Sagt Richard Pitterle. Er ist Abgeordneter der Linken im Bundestag. Danke für das Gespräch.
Danke für den Eiertanz.
Es scheiden sich die Geister. Selbst unverbiesterte Kleingeister haben immer wieder große Schwierigkeiten im Erkennen von Zusammenhängen, im Abstrahieren von Einzelheiten. So ein Schluß vom Besonderen aufs Allgemeine, das ist schon was. Also die guten Seiten im Dritten Reich waren beispielsweise, es gab funktionierende Rechtsbeziehungen. Man konnte Erbschaftsverträge abschließen, sich scheiden lassen, insbesondere von nichtarischen Ehepartnern. Und schließlich hat Hitler die Autobahnen gebaut und die Leute in Lohn und Brot gebracht. Und was gab es nicht alles für staatliche Spielerlaubnisse! Zwar nicht für die Comedian Harmonists, aber für Johannes Heesters. Das sollte man doch mal wieder anerkennen.
Die polnische GAZETA WYBORCZA von heute schreibt:
Politiker der Linkspartei verteidigen noch immer die Errungenschaften der DDR. Sie protestieren laut, wenn man das kommunistische Deutschland einen Unrechtsstaat nennt. Der Liedermacher Wolf Biermann kann dies nicht ertragen – aber er ist eher eine Ausnahme. Denn der Ostalgie geht es gut. Die Mehrheit der Ostdeutschen will mit der DDR nicht abrechnen – das könnte eigene schmerzhafte Wunden aufreißen.
Könnte es sein, daß Biermann statt alter Rechnungen genau das meinte?
Wolf Biermann ist ein Geschenk an die Deutschen. Und Dank an Norbert Lammert, den Präsidenten des Bundestages!