Wie es nun heißt, ist also ein Mann, ein 28jähriger, auf die Idee gekommen, eine Fußballmannschaft, ca. 20 Leute, in die Luft zu sprengen. Weil die Mannschaft börsennotiert ist und ihm das Spekulationsgewinne hätte verschaffen können von einigen hunderttausend Euro. Vielleicht hatte er sich auch mehr vorgestellt. Nehmen wir an, seine Tat wäre „geglückt“, und er hätte netto eine Millionen „verdient“. Jan Ullrich, der dopingdreiste Radsportler, erinnerst Du Dich? Der soll gerade nach Mallorca wollen und deshalb einen Käufer suchen für seine Zehnzimmervilla „mit Seeblick“ auf den Bodensee, Wohnfläche 430 qm.
Für lumpige 2 990 000.- Euro.
Demnach für den Seeblick hätte die Sprengung von gerade mal 20 Mann gar nicht gereicht! Da hätte der Sergej noch etwas rühriger sein müssen. Da hätte er, für Ullrichs Villa mit Seeblick, hochgerechnet, knapp 40 Leute mehr sprengen müssen.
Hinterher ist man immer schlauer.
Aber das Motiv und die Idee an sich…
Da muß man erst mal drauf kommen.
Die Motive wandeln sich allerdings mit den Zeiten.
Am 3. Dezember 1947 wußte der Berliner „Telegraf“ über die Verhandlung der dortigen Schwurgerichtskammer gegen einen 43jährigen Angeklagten zu vermelden:
„Ich hatte Hunger, da ist alles so gekommen“, sagte der Angeklagte. Seit Tagen hatte er nichts als einige Scheiben trockenen Brotes zu essen. NN hatte seine Lebensmittelkarten bei sich, er hatte auch noch Vesperbrot im Rucksack! Sie standen im Keller bei ihrer Arbeitsstelle, NN, mit Kohlenpacken beschäftigt, bückte sich, da erschlug ihn XN von hinten mit einer schnell ergriffenen Eisenstange. Mit beiden blutbesudelten Händen riß er das Brot aus dem Rucksack und verschlang es. Dann nahm er dem Toten die Brieftasche ab, schleifte ihn in einen Nebenkeller, verschloß die Tür und warf die Schlüssel fort. Im nächsten Restaurant verzehrte er, was er auf die Marken bekommen konnte, und hielt sich auch am folgenden Tag nur in Eßlokalen auf. Schon am Abend erfolgte seine Verhaftung.
Kohlenarbeiter, das war der Traumjob, damals, als trotz härtester Maßnahmen und Strafen beispielweise allein in Bremen lediglich an einem einzigen Tag 5000 Zentner von den Kohlezügen gestohlen wurden. Der Berliner Kohlenarbeiter hatte seinen gleichaltrigen Arbeitskameraden im Februar dieses Winters aber erschlagen, weil er dessen Marken der Brot- und Lebensmittelkarten begehrte.
Und das ist erst ein Menschalter her! Da wurden selbst frommste Gebete umformuliert, im Umlauf hielt sich beispielsweise:
„Lieber Jesus, sei unser Gast,
aber nur, wenn du Marken hast,
wenn du keine hast, bleib ferne,
denn wir essen selber gerne!“
In Bayern bestand die tägliche Markenration für einen Normalverbraucher aus 21,4g Fleisch, 7,1g Fett, 2,2g Käse, 214g Brot, 429g Kartoffeln, 21,4g Nährmittel, 17,8g Zucker, 4,5g Kaffee-Ersatz und 0,1 Liter Milch.
Die Publizistin Ruth Andrea-Friedrich schrieb im selben Februar über eine Bahnfahrt von Hamburg nach Berlin:
Anderthalb Stunden vor Abfahrt am Kopfbahnhof. Durchs Fenster in den Zug. Zwischen Kisten und Kartoffelsäcken eingeklemmt sechs Stunden im unbeleuchteten Gang. Man kann es nur aushalten, wenn man sich Gedichte aufsagt … Es riecht nach Zwiebeln, Fisch und ungewaschenen Menschen. Eine Wohltat, wenn sich hin und wieder in diesen Mief der beizende Geruch einer ‚Homemade‘-Zigarette mischt. In der Toilette quetschen sich vier Leute. Und dann der sog. Brothusten. Diese furchtbare Auswirkung schlecht verdaulicher Ernährung, die heute die Luft in jedem öffentlichen Verkehrsmittel vergiftet. – Maschinendefekt. Halten auf schneeverwehter Strecke. Als der Zug um 3 Uhr nachts in Hannover eintrifft, ist der Militärzug nach Berlin vor einer Stunde abgefahren. „Das passiert hier öfters“, sagt der Mann mit roter Mütze ungerührt. „Der nächste Zug geht morgen nacht um 1“ – Zweiundzwanzig Stunden Wartezeit. Bei 15 Grad Kälte.
Ich ertappe mich dabei, bei all dem irgendwie Verständnis zu entwickeln für die kommunistische Naivität und Menschenunkenntnis jener These der „einzig wissenschaftlichen Weltanschauung“, daß mit dem Verschwinden sozialer Not und Ungerechtigkeit sich zwangsläufig auch jegliche Motivation für Verbrechen und damit die Kriminalität an sich verlöre.
Eine Welt ohne Verbrecher!
Als ich von den am Dortmunder Tatort gefundenen drei sogenannten Bekennerschreiben erfuhr, hatte ich vermutet, es handele sich bei dem nach kommunistischer Ideologie regelwidrigen Verbrechen vielleicht um Nazis, die mit dem Anschlag auf die populäre Mannschaft in besonders perfider Weise Haß auf Ausländer, insonderheit auf Mohammedaner, hätten schüren wollen.
Stattdessen soll es sich also um einen mit seinen Eltern vor 14 Jahren aus Tscheljabinsk eingereisten Russen handeln. Und man hält es für möglich, daß dem Elektriker das 70 Millionen mal verkaufte Computerspiel „GTA V“ als Vorbild diente. Worin ein Spieler die Aktienkurse eines Unternehmens dadurch manipulieren könne, indem er einen Anschlag auf den Firmenchef der Konkurrenz verübe.
Es heißt, Facebook und ähnliche Weltbeglücker sollen gerade daran arbeiten, ihre Scheinwelten, pardon, ihre virtuellen Welten mit der wirklich wahren, der realen, täuschend echt zu verknüpfen. Dann könne man gewissermaßen endgültig eintauchen und mittels seines sogenannten Avatars mit sogenannten Freunden aus aller Welt in der Scheinwelt, pardon, in der virtuellen Realität, wie mit echten Freunden, Spiele spielen…
Schöne neue Welt.
Mir fällt ein, ich habe mal einen Film gesehen, der stammte wohl aus der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, und da bekämpften sich in einer Welt der Zukunft zwei Unternehmen namens Sodom und Gomorrha. In meiner Erinnerung stellte das eine Unternehmen, um das andere auszustechen, derart täuschend echte Filme her – also der Zuschauer der Zukunft brauchte sich dafür nur in einen sargähnlichen Kasten zu legen, ganz bequem und gepolstert, und dann wurde der Deckel zugeklappt, und er konnte dann im Film nicht nur alles täuschend echt und räumlich sehen, sondern alles in den Filminhalten Verduftete auch riechen und Servierte schmecken. Wie als wäre es echt!
Derart echt und richtig drin in der Filmwelt, pardon, in der virtuellen Realität, daß die Leute aus ihrem Kasten gar nicht mehr rauswollten.
Und in der wirklich richtigen Welt, in der echten und wahren, in der Nichtscheinwelt, also verhungerten.