A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Monatsarchive: Juli 2014

Serapion an Mephisto

 

Berceuse Des-Dur Opus 57 von Frederic Chopin

 

Die Kunst entrückt uns

Aus der Welt Der Notdurft,

Aus der Nacht Der geschäftlichen Ab-

Schnitte,

Aus der seelenlosen Organisiertheit

Und aus der organisierten Seelenlosigkeit.

Sie berührt uns

Endlich unendlich

An unserem Gefühl,

Unserer Wahrheit,

Sie versetzt uns in Stimmungen,

In denen wir uns erinnern können.

 

Wir müssen uns umstellen,

Sonst bleiben wir umstellt

Von der Uhrzeit, von der Unzeit,

Von der Unzucht und von der Zucht,

Mein flamingones Sein,

Mein Tanz,

 

Ich werde mein Leben ändern!

 

Bellarmin an Mephisto

Nein, man sendet zwei Tage lang als erste Nachricht, daß am dritten Alexander Dobrindt die Pläne für eine Maut vorstellen werde und verbreitet sich in vermeintlicher Objektivität ausführlich über konsequenzlose Sprechblasen xrangiger Politiker jeglicher Couleur zu den noch unvorgestellten Plänen. Die vorhersehbare Halbwertzeit jener Nachrichten über jene Äußerungen über jene noch unvorgestellten Planungen liegt, wenn es hochkommt, im Bereich von Stunden. Alternativ formuliere ich Dir einmal in drei Sätzen eine Meldung, die anstelle des Wieder- und Wiedergekäuten in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmedien Deutschlands leider keine Erwähnung fand, noch nicht einmal unter „ferner liefen“ vor dem Wetterbericht:

„Die Moskauer Internetzeitung Slon.ru veröffentlichte jetzt einen E-Mail-Verkehr, der belegt, daß in Rußland ein geheimer Stab hoher Regierungsbeamter seit Anfang des Jahres die Annexion der Krim durch russische Sicherheitskräfte vorbereitete. Danach wurden unter anderem über eine Agentur Blogger auf der Krim bezahlt für die Verbreitung von Desinformationen und das Streuen von Gerüchten, beispielsweise zur Diffamierung der europafreundlichen Kiewer Regierung als illegitime faschistische Macht. Der russische Präsident Putin hatte eine Steuerung der Aktionen von russischer Seite geleugnet.“

Das „jetzt“ in der ungemeldeten Meldung meint den wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen.

Die Linsenschleifer der Nation, die öffentlich-rechtlichen Nachrichten- und Berichtserstattungsmedien Deutschlands, die sich vermutlich etwas einbilden auf gediegene Objektivität und Seriosität und Unabhängigkeit, auf Ausgewogenheit und Parteienproporz und, natürlich, auf politische Korrektheit, machen mir Angst. Sie vermitteln ein gefährlich falsches Bild von der Welt, mindestens durch Unterlassung und äußerst fragwürdige Gewichtung. Sie degradieren die Deutschen zu einem Volk, bei dem es tatsächlich als von den Medien(!!!) gefeierte Heldentat gilt, daß einer der zurückgetretenen Verteidigungsminister es „gewagt“ habe, die bereits langjährige „Mission“ der Bundeswehr in Afghanistan als Kampfeinsatz zu bezeichnen… Ein tapferes Kerlchen! Mutige Medien! Kolossal kritisch!

Armes Land! Gefährdetes Land! Denn humorlos hätte man jenes Beispiel ja auch als das werten können, was es in Wahrheit ist, nämlich als ungewolltes (und unbemerktes!) Eingeständnis von Unfähigkeit und einer tendenziösen Nachrichtenberichterstattung mit den Merkmalen: Weglassung, Ausblendung des Wesentlichen, euphemistische Lexik, Nivellierung von Unterschieden oder gar Insuffizienz in ihrem Erkennen, demnach analytisches Unvermögen nebst mangelhafter Durchdringung des Weltgeschehens. Und schließlich und immer wieder: Falschbewertung und -gewichtung mit dem generellen Hang zur teilweise grotesk anmutenden Überbewertung von Nullnachrichten und Nebensächlichkeiten, von Eintagsgeschwätz und von Eintagsfliegen: Tellerrand statt Horizont. Resümee: Verdrängung von Realitäten.

Also sprach Friedrich Nietzsche: Es ist aber nicht unser Los, Fliegenwedel zu sein!

Serapion an Mephisto

Es gab schon einige, die mir begegneten und die leben wollten als Anachoreten. Ziehen wollten sie nach andern Kontinenten, aus dem Hafen übers Meer in australische Öde, einen Garten zu bepflanzen oder auf einer tropischen Insel Spixaras zu züchten. Auch Rick, mein seefahrender Freund, ist nun mit dem Gefährten in einem Boot hinaus auf See nach nirgendwo, und nur manchmal noch empfange ich geheimnisvolle Nachrichten, die ich nicht deuten kann, und von denen ich nicht sicher bin, kommen sie aus Westindien oder kommen sie aus Ostindien. Nur Haidee weiß ich, sie ist nach Indien gegangen und kehrte nur einmal noch zurück, um mir ein Lebwohl zu sagen. Im Grunde suchen sie in die Thebaische Wüste zu fliehen, wie einmal ich vorzeiten. Derweil fand ich aber, man braucht nicht auszuwandern in die Ferne, und viele, die solches versuchen, fliehen im Grunde nur vor sich selbst und verstehen erst spät die Tragik ihres Unterfangens.

Inzwischen glaube ich, inzwischen weiß ich, nirgendwo kann man einsamer sein als mitten unter Menschen, und dafür bedarf es weder Fahrten noch Fernen. Wenn Du Dir nur eine Stadt suchst und ein Zimmer beziehst im zwölften Stock am Ende des Flures, kannst Du alleiniger nicht sein, und ein abgeschirmteres Kloster wirst Du kaum finden auf dem explodierenden Planeten. Hinter solche Türe dringt kein Enthusiast mehr wie damals in meinen Garten zwei Stunden südlich von B***, um mir einreden zu wollen, ich irrte, wenn ich bestritte, der verschwundene Neffe des Grafen P** zu sein statt in Wahrheit unter den drei Serapionen derjenige aus dem „Paradise“ des Heraklides, dem man unter Kaiser Dezius die Junktoren seiner Gliedmaßen trennte, bevor man ihn vom Felsen in den Abgrund stürzte. Insbesondere hat mir der liebenswürdige Doktor S** meine wahre Identität noch endlich ausdrücklich bestätigt während unseres letzten Gesprächs anläßlich meiner Entlassung aus seiner Anstalt in M-. Schade indessen, daß es Jahre gebraucht hatte für die Erkenntnis. Gewiß, meine Anstalt war sicher eine etwas andere als die für Deine Denkweisen. Die Menschen sind ja durchaus erfinderisch bei der Einrichtung von Anstaltsarten gegen Gedanken.

Meiner Abgeschiedenheit zugute kommt übrigens das Gerücht, ich hätte einige Jahre in der M-schen Anstalt verbracht, und mit einem Stigma lebt man freier unter Menschen als jeder Milliardär.

Was aber die beiden Kriege anbelangt, nach denen Du mich fragtest, so liegen sie durchaus im Bereich meiner Wahrnehmung. Obwohl der Krieg des ISIS der grausamere zu sein scheint und der allgemeingefährlichere, glaube ich, den russischen für den bedenkenswerteren halten zu müssen. Den Krieg des ISIS empfinde ich nicht nur wegen seiner entsetzlichen Massaker als einen archaischen. Sondern vor allem, weil er tatsächlich derselbe ist seit Jahrtausenden. Die Menschen bleiben immer die gleichen, nur die Namen ihrer Götter wechseln. Was früher Aschschur war, heißt heute Allah. Die gottesdienstliche Abschlachtung der Ungläubigen aber ist unter Tiglatpileser und Sargon dieselbe wie unter Abu Bakr al-Baghdadi. Dieselbe Gegend, die gleichen kreisläufigen Geschichten. Im Nahen Osten leider nichts Neues. Ein Déjàvu bis auf die Tatsache, daß die Gefahr eines sich ausbreitenden Flächenbrandes selten derart groß war wie in heutigen Tagen. Und die Einschläge kommen immer näher.

Es ist ein großer Irrtum zu glauben, Geschichte wiederhole sich nicht. Im Gegenteil! Alles Vergängliche ist nur ein GLEICHES, möchte man sagen, vielleicht auf verschiedenem Niveau. Geschichte spiegelt, und Du wirst das bestimmt nicht für Vulgärmarxismus halten, Geschichte spiegelt, mehr als es uns bewußt ist, in Variationen beständig den Kampf der Antagonismen, bemäntelt von nahezu beliebig wandelbaren, ja sogar vom Austausch selbst gegensätzlicher Ideologien.

Zwar ist wahr, daß man nie im selben Flusse bade, aber wahr ist auch, daß seine Wasser mich heute so nässen wie morgen, und wie es von Weisheit zeugen mag, im Strom der Zeit ein Verschiedenes zu suchen, so fördert wahrscheinlich noch mehr es unsere Erkenntnis, Analogien zu bemerken und anzuerkennen, und dieses mag der rettenden Voraussicht besser dienen als der Glaube, Geschichte wiederhole sich nicht.

Eine etwas andere Qualität in der Variation des ewig Gleichen fällt allerdings auf beim aktuellen Konflikt im Osten Europas. Trotz der ja ebenfalls nicht neuen, wenn auch mittlerweile semifaschistisch gesteigerten Russentümelei. Und die nationalsozialistische „Russische-Erde“-Rückgewinnungspolitik (da ist sie wieder, die „Blut und Boden“-Ideologie, aber schon vor den Zeiten Iwan des Schrecklichen vermerkten die fleißigen Chronisten, daß die Moskauer Großfürsten „die russische Erde sammelten“), die „Russische-Erde“-Rückgewinnungspolitik paßt ebenso fugenfrei in die Reihe jenes jahrhundertlangen Kampfes des Altrussentums gegen das Westlertum. Wobei den Moskauern der Westen in seiner Verderbtheit fast unmittelbar südlich  anfing. Denke nur an die erbitterten Abwehrkämpfe gegen jegliche Reformversuche des Patriarchen Nikon. Beispielsweise gegen die Wiederherstellung der ursprünglichen griechisch-orthodoxen Liturgie inklusive der Ausmerzung von offensichtlichen Rechtschreibfehlern in den liturgischen Texten. Da sei Gott vor! Man kämpfte, daß Jesu weiter Jssus statt Jissus geschrieben werde, am Weißen Meer verteidigte ein Kloster sein Njet! gegen diese westlichen Neuerungen acht Jahre lang mit Kanonen. Die Ideen des Westens waren den russischen Altgläubigen, dem „Raskol“, abartig. Da haben wir noch nicht einmal über den polnischen Katholizismus geredet, die römische Westkirche mit ihrem verdammten polnischen Papst, der sich nicht beseitigen ließ. Der Westen mit seinen protestantischen Ideen hat uns das sowjetische Imperium zertrümmert. Apropos Protestantismus und französische Revolution: Je westlicher desto entsetzlicher.

Der Hauptfeind Moskaus war und ist bis heute der eigenmächtig denkende Mensch.

Oder erinnere Dich nur an den Aufstand der Strelitzen und und und. Sehr sehr vieles gäbe es zu sagen. Doch allein schon die jüngste Chronik zeigt wieder, keine noch so durchsichtig verlogene Idiotologie scheint zu plump, um Menschen zu verhetzen. Es heißt, 61 Prozent der Russen fänden es toll, daß in der Ostukraine Söldner aus Rußland kämpfen. Und es wäre gefährlich, sich darin zu täuschen: Unsere Zeit steht keinesfalls auf einer höheren zivilisatorischen Stufe, nur weil wir seit vierzehn Jahren in einem neuen Jahrtausend leben und vom Juli 1914 hundert Jahre entfernt zu sein scheinen.

In der Welt waltete und waltet immer noch eine andere Kraft als die Vernunft, und damit meine ich nicht nur ihr Gegenteil.

Jene neue Qualität aber ist wohl manchem bis jetzt noch nicht zur Gänze und mit all ihrer Konsequenz ins Bewußtsein vorgedrungen, und daß es kein Zurück mehr geben wird. Der durch Rußland ausgelöste Krieg zwischen zwei Staaten ist nur die unterste Ebene des Konflikts. Gleichzeitig handelt es sich, obwohl die Ukraine nicht dazugehört, um den Beginn der offenen Aggression Rußlands gegen die Europäische Union. Ein Staat kämpft gegen eine im mühsamen Aufbau befindliche überstaatliche Ordnung, kämpft gegen einen Staatenbund, um ihn zu zerstören. Der neue Zar im Kreml will die Europäische Union, die beispielsweise, entgegen aller Wunschvorstellungen (oder Befürchtungen), eben noch nicht einmal über eine gemeinsame Außenpolitik verfügt, zerstören.

Und, auf der obersten Ebene, und damit ist gemeint jene faschistische Dimension des Konflikts, bekriegt Rußland jetzt expansiv die westliche Zivilisation als solche. Weil man sie für dekadent, schädlich und bedrohlich und demgegenüber das Russentum für gesund und überlegen hält.

Wie gesagt, an und für sich ist die Furcht vor ihr und der Kampf gegen die Lebensart der Westler, der Kampf gegen die Europäisierung Rußlands, durch die Jahrhunderte kein neuer Zug. Doch handelte es sich bisher um einen Kampf für die Reinhaltung des Inneren. Das ist jetzt anders geworden in der Weltgeschichte.

Und der dahinterstehende wesentliche Antagonismus ist letztendlich der zwischen Individuum und Staat: Rußland kämpft gegen das Individuum.

Mephisto an Bellarmin

Beine krumm, doch deutsch von Rasse, ungebildet, aber stolz, sahn wir wie vor unsrer Masse jede Geistigkeit zerschmolz – diese Verse des bedauerlicherweise vergessenen Horst Lommer kamen mir wieder in den Sinn beim Lesen Deiner Zeilen. Aber statt mit dem Wesen der Probleme beschäftigt man sich mit Kokolores. Das macht den Deutschen keiner nach – rechtwinklig an Leib und Seele, würde Nietzsche sagen. Man versucht zum Beispiel, politisch korrekt, das Wort „Zigeuner“ (italienisch „zingaro“, ungarisch „cigány“, rumänisch „tigan“, bulgarisch „ciianin“, griechisch „tsiganos“) im Deutschen auszulöschen, und beschäftigt sich tatsächlich mit dem aktualisierenden Übersetzen, zum Beispiel älterer Bücher, ins korrekte Deutsch.

Nun, mit diesem schwachsinnigen Unterfangen wird man zu tun haben. Gerade auch, was allein die Musik angeht, neben den anderen Kulturgütern. All die Stücke und Weisen und Lieder! Ich weiß auch nicht, was ich mehr fürchten soll, die erste Aufführung von Straußens Sohn „Sinti- und Roma-Baron“ oder das gehorsame Ausbleiben weiterer Aufführungen. Und welchen korrekten Namen wird man dem Sinti- und Roma-Schnitzel genehmigen?

Mir fallen leif die Negerküsse ein. Die ich nicht mehr anschaffe, seit sie in merklich verkrampfter Originalität umbenannt wurden in Köhlerküsse. Nein wie lustig! Richtig ordentlich lustig! „Neger“, lateinisch „niger“ (für „schwarz“), spanisch und portugiesisch „negro“, ins Deutsche entlehnt aus dem Französischen „nègre“, wird gelöscht. Auch da wird man zu tun haben, selbst in wissenschaftlichen Werken, bis alle Neger umbenannt sind in den alten Bundespräsidenten.

Immerhin gibt mir jene deutsche Bereinigungsaktion die Gelegenheit, Dir vor deren Abschluß unbedingt noch zum schnellen ehrlichen Erwerb einiger Bücher zu raten. Beispielsweise zu einer rechtzeitig gedruckten Werkausgabe eines der Götter aus dem Parnaß meiner sieben Lieblingspoeten, Joachim Ringelnatz geheißen:

 

 

Abendgebet einer erkälteten Negerin

 

Ich suche Sternengefunkel

All mein Karbunkel

Brennt Sonne dunkel.

Sonne drohet mit Stich.

 

Warum brennt mich die Sonne im Zorn?

Warum brennt sie gerade mich?

Warum nicht Korn?

 

Ich folge weißen Mannes Spur.

Der Mann war weiß und roch so gut.

Mir ist in meiner Muschelschnur

So négligé zu Mut.

 

Kam in mein Wigwam

Weit übers Meer,

Seit er zurückschwamm,

Das Wigwam

Blieb leer.

 

Drüben am Walde

Kängt ein Guruh – –

 

Warte nur balde

Kängurst auch Du.

 

Im übrigen aber bin ich der Meinung, der deutsche Außenminister wird in seinem Streben nach dem Friedensnobelpreis und seiner permanenten Fehleinschätzung der russischen Seite zum Sicherheitsrisiko Europas.

Rußland darf nicht das entfernteste Mitspracherecht eingeräumt werden über ukrainische und jedwede nachbarstaatlichen Angelegenheiten! Auch nicht über Hintertüren, beispielweise in Form runder Tische oder etwa russischer „Friedenstruppen“ in der Ostukraine!

An denen der Kreml sich auffällig interessiert zeigt.

Sonst Sieg der Banditen, und der Außenminister hätte sich, nach einem Ausdruck Lenins, von Rußlands nützlichen Idioten erwiesen als Rußlands nützlichster. Was schon etwas heißen will, vornehmlich in Deutschland. Die Journalistin Ola Cichowias in der britischen Zeitung The Independent:

In Deutschland, einem Land, in dem Putins Propaganda besonders erfolgreich wirkt, mindern sogar Intellektuelle Putins Verbrechen – oft getrieben durch Schuldgefühle wegen der Leiden der Russen während des Zweiten Weltkriegs. Alle werden geleitet von einer vagen Vorstellung russischer Romantik.

Zwischenzeitlich wagte ich fast schon zu hoffen, er hätte, zum Beispiel unter dem Einfluß der realistisch denkenden Polen, der erneuten Vorführung russischer Vertragstreue nach dem Genfer Vierergipfel und angesichts der russischen Anmaßung, nun doch seine Lektion dazugelernt. Aber mittlerweile spielt der Außenminister den russischen Chauvinisten wieder in die Hände und bewegt sich hin zur Quasi-Anerkennung einer Abspaltung ukrainischen Territoriums. Womöglich werden dann russische „Friedens“-Truppen, mindestens jedoch OSZE-Truppen die russische Annexion verewigen.

Der sich augenblicklich hektisch beteiligende französische Außenminister hat übrigens ein starkes Interesse an der Vermittlung auch des wurmstichigsten Waffenstillstandes in der Ostukraine, weil Frankreich Sanktionen gegen Rußland unbedingt vermeiden will. Um Kriegsschiffe nach dort zu verkaufen. Für Montag dieser Woche waren aus guten Gründen endlich schärfere Sanktionen gegen Rußland angekündigt worden. Von denen plötzlich überhaupt nicht mehr die Rede war (ohne jede journalistisch-kritische Erörterung in den Medien).

Montag waren die ersten russischen Militärkräfte in Frankreich angelandet, um sich für die Übernahme der Schiffe unterweisen zu lassen (keine Meldung darüber in den Nachrichten).

„Hast du alles vergessen, was einmal war?“

Gebietsvergrößerung Rußlands mittels Mord- und Totschlag hat Tradition seit Iwan dem Schrecklichen und seiner Opritschnina (russisch: „ausgesondertes Land“). Welcher Begriff stand für methodischen Massenmord an Landbesitzern zum Zweck der Einverleibung ihrer Ländereien. Günstigstenfalls wurden die Besitzer zwangsdeportiert. Ausführende waren die brutalen  Opritschniki, die eigens dafür geschaffenen schwarzhemdigen Truppen des Zaren.

Nein, diese Reminiszenz ist so abwegig nicht, wie Du im ersten Moment vielleicht glauben magst. Und mit nicht unbeträchtlicher Wahrscheinlichkeit wird mich die Chronik der laufenden Ereignisse vielleicht zwingen, noch einmal darauf zurückzukommen.

Wie war das aber in Moldawien und Georgien? Gerade erst gestern ist Rußland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der massenweisen Zwangsvertreibung von Georgiern für schuldig befunden worden.

Nach meiner Erinnerung beginnen 1992 in Moldawien plötzlich „Separatisten“ um sich zu schießen. Lauter vertrauenerweckende Visagen wie jüngst auf der Krim und in der Ostukraine. Na, wie auf Kommando, da eilen aber russische Truppen hinzu und greifen den „Separatisten“ mal hilfreich unter ihre Arme. Und setzen sich, zum Schutz „legitimer“ russischer Interessen, fest. Um des Friedens willen überwacht seit 1999 auch eine OSZE-Friedenstruppe eine Sicherheitszone zwischen der selbsternannten Republik Transnistrien, die zufälligerweise ihren Anschluß an Rußland erstrebt, und Moldawien. Womit das russische Militär zum Abzug verpflichtet wurde und laut eines von Rußland unterzeichneten OSZE-Abkommens auch ist. Im Dezember 2001 endlich wird damit begonnen und symbolisch ein Kontingent abgezogen. Während der folgenden dreizehn Jahre verzögert sich der Abzug der Okkupationstruppen aber bis heute.

Derweil herrscht russischer Friede.

Wenn ein Preis für die derzeit scheinintelligenteste Frage zu vergeben wäre in Deutschland, sollte man ihn der amüsanten Grübelei widmen, was Putin denn wolle mit all seinen Machinationen. Die Frage abendländischer Logiker. (Das sind auch die, die sich wundern, warum sie sich plötzlich wieder ins neunzehnte Jahrhundert versetzt sehen, und warum es nun nicht länger mit rechten Dingen zugeht: „Seid doch wieder vernünftig, setzt euch zusammen und vertragt euch wieder!“)

Zweiter Preis: Ob er noch die Kontrolle habe über die „Separatisten“. Wobei das Adverb jenes Fragesatzes als besonderes Juwel ins Auge sticht. Und zur Beruhigung: Er hat sie. Selbst wenn die manchmal so tun, als schössen sie von alleine weiter.

Tja, was mag er wohl wollen, der Wladimir?

Wenn man es nicht aus der russischen Geschichte herauszulesen weiß, den Wert russischer Bekundungen und Beteuerungen und russischer Zusagen sollte man doch zwischenzeitlich etwas besser einzuschätzen gelernt haben. Wenigstens das Kurzzeitgedächtnis anknipsen, bitte, bitte! Sonst hören wir bald aus dem Kreml die Korken des Krimsekts knallen.

Bellarmin an Mephisto

Selbstverständlich existiert jene Karte aus dem diesjährigen Verfassungsschutzbericht, deren Fehlen Du so vehement bemängeltest in Deinem dritten Ärgernis! In der analogen Welt befindet sie sich kommentarlos im SPIEGEL vom 23 Juni. Quasi versteckt in einer Rubrik für Vermischtes und im Inhaltsverzeichnis, im Gegensatz zu den anderen Beiträgen der Rubrik, nicht erwähnt. Doch fand ich hier beim Blättern auf Seite 16 links unten die im vorigen Jahr verübten Gewalttaten mit rechtem Hintergrund aus dem Bereich „Politisch motivierte Kriminalität“. Für jedes Bundesland ist eingezeichnet ein brauner Kreis, der die entsprechende Anzahl enthält pro einer Million Einwohner. Die Spitzen liegen in Sachsen-Anhalt mit 26, Berlin mit 24 und Thüringen mit 20 Gewaltverbrechen. Die drei niedrigsten Raten gibt es in Bayern mit 5, Baden-Württemberg und Bremen mit jeweils 3 und Hessen und Saarland mit jeweils 2. Mit der Ausnahme Hamburgs verteilen sich alle Höchstwerte auf die ostdeutschen Länder.

Aber an den braunen Kullern finden sich auch die Steigerungs- oder Minderungsraten hinsichtlich des Vorjahres. Wenn Du Dich nun noch verstellst und so tust, als wärst Du ein denkender Mensch, und Du rechnetest einmal unbekümmert, da dies kein anderer getan zu haben scheint, die Durchschnittszahlen jeweils für Ost- und Westdeutschland aus, was sich ja wegen der ins Auge fallenden Differenz anböte als Idee, fändest Du selbst zu Fuß mit Hilfe der vier Grundrechenarten heraus, daß 2012 der Unterschied Ostdeutschlands das knappe Zweieinhalbfache zum westdeutschen Resultat ausmacht. Während sich die Diskrepanz von 2012 zu 2013 inzwischen auf das Dreifache vergrößert hat. Man könnte natürlich auch von Abgrund reden.

Soweit ich es hörte oder sah, wurde von alldem nichts in den öffentlich-rechtlichen Anstalten der Republik verlautbart. Es ist nicht als berichtenswert eingestuft worden von den Redakteuren. Honi soit qui mal y pense!

Deutschland betäubt sich.

Aus irgend einem Grunde kommt mir der Verdacht, es handelt sich um eine kollektive Vermeidungsstrategie. Es soll die Ursachendiskussion umschifft werden, man befürchtet den Aufschrei der üblichen Verdächtigen mit DDR-Wagenburgmentalität.

Das kennzeichnet allerdings eine Kapitulation: Die üblichen Verdächtigen haben es geschafft, ein Klima zu erzeugen, in dem gewisse Tatsachen kritisch nicht mehr diskutiert werden. Und die öffentlich-rechtlichen Medien beteiligen sich an der Tabuisierung. Politische Korrektheit.

Ich könnte schließen mit: Soviel zu den Lehren, die man nach den Verbrechen des NSU gezogen zu haben vorgab. Aber zur Illustration juckt es mich, Dich wenigstens an ein interessantes Beispiel zu erinnern. Du weißt vielleicht noch, im Sommer 2007 kreiste bei einem Altstadtfest im sächsischen Städtchen Mügeln plötzlich eine Horde junger, dunkelgewandeter, kurzgeschorener Männer, bewehrt mit abgebrochenen Flaschenhälsen, mehrere Inder ein, griff sie an, schubste und schlug sie und stach nach ihnen. Als die Inder den Ring durchbrachen, wurden sie über den Marktplatz gehetzt und auf ihrer Flucht in eine nahegelegene Pizzeria verfolgt von etwa fünfzig Männern, zu denen sich noch rund zweihundert Schaulustige gesellten, „Ausländer raus!“ krakelend. Amtlich registriert wurden auch Parolen wie: „Hier regiert der nationale Widerstand!“ und „National befreite Zone!“.

Hinzugerufene Beamte waren von der Menge angegriffen worden, bis endlich Bereitschaftspolizei anrückte. Mehrere der Inder hatten sich in ärztliche Behandlung begeben müssen.

Der SPIEGEL, eine Woche vor der Nummer mit der braunen Deutschlandkullerkarte, zitierte nun aus einer sehr dankenswerten Studie der Politikwissenschaftlerin Britta Schellenberg. Sie weist nach, wie entgegen eindeutiger Zeugenaussagen die Politiker von vornherein versuchten, die Hetzjagd als normale Dorfschlägerei abzutun, rechtsextremistische Zusammenhänge verwischten und direkt abstritten. Der Bürgermeister erklärte, Ausländer-raus-Rufe könnten doch jedem einmal über die Lippen kommen. Und Ministerpräsident Georg Milbradt äußerte, man solle doch nicht jede Auseinandersetzung zwischen Ausländern und Deutschen unter dem Stichwort Ausländerfeindlichkeit verbuchen. Und legte später nach, es wäre unerträglich, wenn ein ganzer Ort und ein ganzer Landstrich stigmatisiert würden.

Prompt wurden einige Tatverdächtige vom Staatsschutz nicht weiter erwähnt und die Staatsanwaltschaft Leipzig stritt jeden fremdenfeindlichen Hintergrund ab. Im sächsischen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2007 war der Fall als „politisch motivierte Kriminalität rechts“ nicht verbucht worden.

2008 zog die NPD in den dortigen Kreistag ein.

2009 wurde die indische Pizzeria erneut angegriffen und dabei einem Mitarbeiter das Nasenbein gebrochen. Aber erst 2013 gaben die Sicherheitsbehörden zu, daß 2007 drei der Angreifer tatsächlich der rechtsextremistischen Szene angehörten.

Und jetzt paß auf, jetzt kommt der Satz der Sätze! Die Politikwissenschaftlerin stellt fest: „Eine kritische Thematisierung von extrem rechter Gewalt ist in Mügeln unmöglich geworden.“

Ende eines Beispiels.