A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Monatsarchive: November 2019

Vergangen, vergessen, vorüber

 

23. November 2019: Bellarmin an Mephisto

 

Gegenwärtig grassiert bei uns in Deutschland in den öffentlich-rechtlichen Nachrichten unter zahlreichen anderen die Unsitte, die Faktenarmut der Meldungen, die Furcht vor dem Melden des Faktischen, nicht mehr bloß zu kaschieren durch Sprechblasen der Regierungsparteipolitiker und durch Halbtagsfliegen in Form von Ankündigungen wohlmeinender Absichten auf Aussichten in kommenden segensreichen Jahren, also die moderne Form der seit alters her bewährten Hofberichterstattung. Fast hundertprozentig sogar als erste Meldung! Sondern immer beliebter werden auch als erste Meldungen überfallartig verlesen die Ergebnisse von Statistiken und Umfragen irgendwelcher Institute zu irgendwelchen Themen. Praktisch für den modernen Journalismus: So lassen sich über die Umfrageergebnisse wieder brandneue Meldungen generieren von Sprechblasen der Regierungsparteipolitiker.

Mit halbtäglicher Halbwertzeit.

Alle paar Tage wird jetzt eine neue Umfragesau übers Land getrieben. Oder auch eine alte. Ich warte schon immer auf die sich in steigernder Frequenz verkürzende Wiederkehr der Untersuchung, wie immer weiter „die Schere in Deutschland auseinander klaffe“ zwischen arm und reich.

Oder wie die armen sogenannten Bildungsfernen derart benachteiligt wären in ihrem Hunger auf Bildungserwerb.

Ja, ja, ja, ja!

Da kannst Du was lernen!

Kürzlich gab es nun wieder den „Glücksatlas“. Wie sich die glücklichen Menschen statistisch verteilen in deutschen Landen. Danach sind die Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner nebst ihre Diversinnen und Diversen am glücklichsten. Und die Restpreußinnen und Restpreußen nebst deren Diversinnen und Diversen in Brandenburg sind am unglücklichsten mit ihrem ganzen Dasein. Ebenso die Eingeborenen der übrigen ostdeutschen Länder, in denen unterirdisch die Partei Der Spalter rumort.

Und für alles Übel einen Namen nennt.

Ich habe mich gewundert, daß, soweit ich sah mit Ausnahme der Bild-Zeitung, daß, wie es früher in bildungsnäheren Zeiten ganz sicher geschehen wäre, daß aus unserer feuilletonistischen Journalisten-Riege nicht einmal im Ansatz die Frage erörtert wurde, was denn eigentlich ein glückliches Leben ausmache. Keiner fragte, ob wenigstens die Fragesteller der Meinungsforschungsinstitute sich darüber im klaren wären, wonach sie überhaupt fragten. Ob nach dem brechtschen Mackie-Messer-Glück „Dann löst sich ganz von selbst das Glücksproblem: Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!“ oder nach Eudämonie. Und ob den Befragten aus der Fragestellung der Unterschied überhaupt ersichtlich werden konnte: „Viele Menschen meinen, Glückseligkeit und Glück haben sei dasselbe“ (Aristoteles). Keiner erinnerte sich, auch nicht die Bild-Zeitung, keiner erinnerte sich auch nur Ansatzweise daran, was denn schon die Antike Wertvolles darüber wußte. Weder an den Kynismus: „Zivilisation macht krank“, noch an die Stoa: „Glück ist Tugend“. Und an Seneca beispielsweise.

 

Wenn ich mit intellektuellen Freunden spreche, festigt sich in mir die Überzeugung, vollkommenes Glück sei ein unerreichbarer Wunschtraum. Spreche ich dagegen mit meinem Gärtner, bin ich vom Gegenteil überzeugt.“

Bertrand Russel (1872 – 1970)

 

Gefährlicher Ungeist

 

15. November 2019: Bellarmin an Mephisto

 

Montag und Dienstag zelebrierten uns die Medien mit der beflissen wiedergekäuten Einleitungsfloskel „…einmalig in der Geschichte des deutschen Bundestages!“ die Abwahl des AfD-Abgeordneten Stephan Brandner (53) als Chef des Bundestags-Rechtsausschusses. Zur Begründung für den „einmaligen Vorgang“ wurde darauf verwiesen, Brandner habe in einem „antisemitischen“ Tweet die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den Musiker Udo Lindenberg als „Judaslohn“ bezeichnet.

Nun kann man natürlich das nur begrüßen, wenn Stephan Brandner antisemitische Parolen verbreite, noch dazu über Twitter, dem Medium der Inkontinenten, wenn dieser Mensch dafür haftend zur Rechenschaft gezogen wird. Noch dazu in Deutschland und noch dazu, wenn er „in öffentlicher Verantwortung“ steht.

So man als argloser, also naiver Rezipient auf eine objektive Berichterstattung bundesdeutscher Medien vertraut.

Und das muß ja stimmen, selbst in Zeiten der lauthals beklagten Fäknjus, allein schon weil der „AfD-Hetzer Brandner“ (Bild) der Partei angehört, welche seit ihrem Bestehen von den Medien sich steigernd als „eurofeindlich“, „europafeindlich“, „populistisch“, „rechtsextrem“, „rassistisch“ und seit jüngstem eben als „antisemitisch“ etikettiert und zwischenzeitlich bisweilen auch mehr oder minder unverhohlen gleichsetzend verglichen wird mit der NSDAP.

Tja.

Also alles klar?

Das Schlimme ist, was allen klar zu sein scheint von der Regierung über die ARD bis zur Antifa, ich bin zu dumm dazu. Blöderweise wartete ich immer auf die Belege unserer öffentlich rechtlichen Medien bei jeder ihrer Bezichtigungen, daß die infolge einer demokratischen Wahl zur bedeutendsten Opposition des deutschen Parlaments gewählte Partei obendrein nun auch noch antisemitisch sein soll. Stets blieb es jedoch bei einem behaupteten Antisemitismus, soviel ich auch lauschte, las und guckte – doch jetzt, mit dem antisemitischen Tweet des „AfD-Hetzers Brandner“, jetzt schien es endlich zu klappen in dem Lande, in welchem die Medien ansonsten die vorsichtigsten Sätze bilden wie „Der mutmaßliche Täter konnte fliehen“. Oder immer noch vom „mutmaßlichen Täter“ sprechen, selbst wenn er vor aller Augen nebst Blickwinkeln diverser Kameras auf frischer Tat erschossen am Boden liegt. Daß man endlich, wenn die stärkste Oppositionspartei bar jeglicher Mutmaßlichkeit des Antisemitismus bezichtigt wird, eine derart ungeheuerliche Behauptung belegbar exemplifiziere.

Während in Sekundenbruchteilen im Fernsehen der fragliche Tweet in Kleinschrift gezeigt wurde, so daß selbst ein geübter Schnell-Leser ihn wohl kaum in Gänze zu überblicken vermochte, wurde stur wiederholt, Brandner habe die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Lindenberg als Judaslohn bezeichnet. Ich wartete nun auf einen zweiten, gnadenhalber womöglich sogar ausnahmsweise einmal vollständig in wörtlicher Rede zitierten Satz, aus welchem sogar mir der Antisemitismus-Vorwurf plausibel erschiene. Bei meiner buchstäblichen Begriffsstutzigkeit, dauerte es und bedurfte gesonderter Internetrecherche zwecks Vergewisserung des Unfaßbaren, ehe ich realisierte, daß man den Antisemitismus-Vorwurf gegen den „AfD-Hetzer Brandner“ tatsächlich lediglich aus der Verwendung des Begriffes „Judaslohn“ herleite.

Es war nicht zu fassen!

Mühsam versuchte ich, das Puzzle rekonstruieren.

Also zum Beispiel nach der Thüringer Landtagswahl soll der Lindenberg im Hinblick zur Partei des „AfD-Hetzers Brandner“ auf Facebook Sätze geäußert haben wie:

24 Prozent. Und viele sagen immer noch: Das wird sich niemals wiederholen – aber seht ihr denn nicht an den Häuserwänden dieselben alten neuen Parolen? und die gleiche kalte Kotze (wie vor 80 Jahren) schwappt ihnen wieder aus dem Mund…“

Womit der in der Öffentlichkeit stehende Udo Lindenberg nach meinem Verständnis die Partei des „AfD-Hetzers Brandner“ unmutmaßlich beschuldigt, Urheberin oder gar Sprayerin von Nazi-Parolen an Häuserwänden zu sein und zudem mit der NSDAP in Zusammenhang setzt.

Worauf im Zusammenhang mit besagter Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Lindenberg der „AfD-Hetzer Brandner“ in dem besagten Tweet mit dem besagten Satz polemisierend repliziert hatte:

‚Der Musiker, der vor wenigen Tagen das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erhalten

hat…‘ #Judaslohn twitter.com/WELTnews/statu…“

Das ist der einhellig von den übrigen Bundestagsparteien und Medien als antisemitischer Tatbestand skandalisierte Satz!

Und die Philologen schweigen fein säuberlich im Walde und die Philosophen und die Politologen…

O ja: Wer schweigt, macht sich mitschuldig!

Diese Niveaulosigkeit! Diese dümmliche Primitivität!

Damit wurde der „AfD-Hetzer Brandner“ abgewählt.

Worauf der Ex-Bundestagspräsident, der SPD-Politiker Thierse, sich im Deutschlandfunk zu verlautbaren veranlaßt fühlte:

Nach den Erfahrungen mit Faschismus und den Verbrechen an den Juden, an der Ermordung der Juden wissen wir, dass Antisemitismus ein Verbrechen ist und nicht einfach eine Meinung. Wer sich antisemitisch äußert, weiß, was er tut. Er kann es wissen und er muss es erst recht als Jurist und vor allem als Vorsitzender des Rechtsausschusses wissen.

Und: Wer Menschen beleidige, erniedrige oder abwerte, gehöre nicht in ein repräsentatives Amt der Demokratie, so gleichfalls der derzeitige Vizepräsident des Bundestages, der SPD-Politiker Oppermann.

Apropos beleidigen, erniedrigen oder abwerten: 2002 hatte der Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl über den damaligen Präsidenten des Bundestages Wolfgang Thierse sich dahingehend geäußert, Thierse wäre der „schlimmste Präsident seit Hermann Göring“.

1985 hatte der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt den ehemaligen Generalsekretär der CDU, das spätere attac-Mitglied Heiner Geißler, den „schlimmsten Hetzer“ seit Joseph Goebbels geheißen.

Ein Jahr davor bezichtigte die Galionsfigur der Grünen, Joschka Fischer, den seinerzeit stellvertretenden Bundestagspräsidenten Richard Stücklen aus der CSU, er sei ein „Arschloch“.

Zehn Jahre zuvor hatte der in der CSU als Übervater verehrte Franz Josef Strauß gemeint, die „roten Ratten“ müsse man dorthin jagen, „wo sie hingehören – in ihre Löcher“.

Der Münchner Merkur schrieb zur jüngsten Skandalisierung der AfD:

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner hat ungeachtet der scharfen Kritik wegen seiner „Judaslohn“-Äußerung persönliche Konsequenzen ausgeschlossen. Die Vorwürfe, dieser Begriff wecke antisemitische Assoziationen und seine Verwendung verstoße gegen die Würde des Bundestags, seien „an den Haaren herbeigezogen, absurd und sollen ausschließlich dazu dienen, mich, die AfD und die AfD-Bundestagsfraktion zu diskreditieren“, erklärte Brandner am Montag in Berlin.

Und weit und breit ist kein Karl Kraus in Sicht und keine einzige kritische Stimme zu vernehmen, die einmal das Gedankenexperiment wagte, der „AfD-Hetzer Brandner“ könnte rechthaben.

Obwohl er zur „antisemitischen“ AfD gehört.

 

Samstag, 9. November 2019, Deutschlandfunk:

Berlin: Todesdrohung gegen den Sohn eines AfD-Politikers

In Berlin ermittelt der Polizeiliche Staatsschutz wegen Todesdrohungen gegen den Sohn eines AfD-Politikers.

Nach Angaben der Polizei hat der 16-Jährige die Drohungen unter anderem über einen Kurzmitteilungsdienst erhalten. Als Hintergrund vermuten die Ermittler das politische Engagement des Vaters, der für die AfD im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Drei Mitschüler des Jugendlichen gelten als verdächtig. Sie sollen zwischen 15 und 18 Jahre alt sein.

 

Der Begriff JUDASLOHN ist mir weder mündlich noch schriftlich jemals vorgekommen auch nur mit dem leisesten antisemitischen Anklang.

Hier einige beliebige Beispiele:

Ju | das | lohn, der [nach der von den Hohenpriestern an Judas Ischariot gezahlten Geldsumme für den Verrat Jesu; vgl. Matth. 26, 48 f.]: Bezahlung, Lohn für eine verräterische o. ä. Tat

DUDEN, Deutsches Universalwörterbuch

 

6. 21.

Ist dis der Saal, da lauter Unrecht trof?

Da Jesus ward stat Adams spott verspottet?

War vormahls hir der Römsche Kaiserhof?

Da vor Pilat ihr König ausgerottet?

Wo Judas alles geld hinwarf?

Wo er sein Richter hart und scharf?

Ist heute hir der Türkschen Pilger akker,

Den Judas kaufft um Judaslohn so wakker?

Quirinus Kuhlmann (1651 – 1689): Der Kühlpsalter, Band 1, Drittes Buch, Der 13. (43.) Kühlpsalm

 

Der Geächtete ging nach der einzigen Heimat, die er noch in seinem Vaterorte hatte, obwohl auch diese für ihn unzuverlässig geworden war. Er drückte den Riegel der Hintertüre, den Finger durch die Türspalte drängend, leise zurück, und nach wenigen Augenblicken stand er vor dem Bette seiner Schwiegermutter. Auch dieser drang ein eisiger Schreck durch die Gebeine, als sie, plötzlich erwachend, in ungewissem Sternenlichte eine geisterhafte Gestalt mit aufgehobenem Finger vor sich stehen sah und alsbald ihren verratenen Schwiegersohn erkannte.

„Welchen Judaslohn habt Ihr für die Auslieferung gekriegt?“ fragte er.

Sie vermaß sich mit den höchsten Schwüren, daß sie weder etwas bekommen noch etwas verdient habe und daß der Überfall ihr selbst ganz unversehens gekommen sei. Er ließ den Verdacht, der mehr in seinem Gemüt als an bestimmten Beweisen haftete, auf sich beruhen und weckte seinen Knaben. Der Kleine lächelte ihn mit halboffenen Augen wie im Traume an.

Hermann Kurz, bis 1848 Kurtz (1813 – 1873): Der Sonnenwirt, Dritter Teil, Kapitel 31

 

Anathem!

In flammender Empörung

Sprech‘ ich der Lüge Hohn!

Und wenn du tausend Nacken beugst

Und tausend Sklavenseelen säugst

Mit feilem Judaslohn:

Ich trotze deinen Jochen!

Ich hab‘ den Bann zerbrochen –

Ich hab‘ mich freigesprochen:

Ich bin der Freiheit Sohn!

Hermann Conradi (1862 – 1890): Lieder eines Sünders

 

Ich sah ihn nur einmal, aber er flößte mir ein instinktives Mißtrauen ein; und erst später erfuhr ich, wie vollkommen dies gerechtfertigt war. Denn als nach einigen Monaten die Verfolgungen und Verhaftungen in Berlin und Rostock erfolgten, und der lange, traurige Prozeß begann, da ergab es sich, daß dieses selbe Individuum der Verräter gewesen war, dessen freilich falschen und lügnerischen Angaben wohl auch ich meine Ausweisung zu danken gehabt hatte. Er war frech genug gewesen, ausdrücklich nach England herüberzukommen, um zu sehen, ob er seinen Judaslohn noch vergrößern und noch mehr Opfer in die Falle locken könne, die eine neue Verherrlichung des Systems werden sollte, durch das das Polizeiregiment des Herrn von Hinckeldey sich eine so klägliche Unsterblichkeit errungen hat. Welcher Zustand mußte der Deutschlands sein, wenn eine Regierung wie die preußische sich elender Spione bediente, um die Gesinnung solcher Leute auszuforschen, die wenigstens den Mut ihrer Überzeugungen gehabt, Heimat, bürgerliche Stellung, Vermögen und jede hoffnungsvolle Grundlage der Existenz aufgegeben hatten, um ihnen treu zu bleiben, und keines anderen Vergehens schuldig waren, als zu schnell und zu kühn von den Regierenden die edle Einsicht notwendiger Konzessionen, von den Massen die unmittelbare Befähigung zur vernünftigen Ausübung voller Freiheit verlangt zu haben! Wie es dort aussah, drückten schmerzvoll wenige Worte meines teuren Freundes, des Predigers der freien Gemeinde zu Hamburg, aus, der mir schrieb: „Ich beschäftige mich jetzt ausschließlich mit Kant. Gäbe es einen jüngsten Tag und an ihm ein Weltgericht, so müßte ohne alle Gnade das deutsche Volk verurteilt werden, das fünfzig Jahre nach solch einem Manne sich von Pfaffen gängeln läßt. Was mühen sich doch kleine Geister mit Denken und Reden ab, nachdem Männer wie Kant so scheinbar vergeblich gedacht haben!“

Malwida Freiin von Meysenbug (1816 – 1903): Memoiren einer Idealistin, Zweiter Teil, Drittes Kapitel – Die politischen Flüchtlinge

 

Worüber wir uns denn immer so entrüsten?

Aber, Anne Marie, hätten wir sonst keinen Stoff, wir lesen doch Zeitungen, die bieten eine Ueberfülle. Wenn wir fanden, daß einer unschuldig ins Zuchthaus wandern mußte, wenn ein Bube aus Parteipolitik für schnöden Judaslohn alle Segel aufspannte, um einen Unschuldigen unter das Beil zu bringen, wenn ein Lehrer kleine Kinder mißhandelte, wenn – – ich höre lieber auf, ich könnte Bogen mit diesem Brennstoff für unser Entrüstungsfeuer füllen. Was uns nicht zum wenigsten empört, ist die Lauheit der Menschen den größten Schändlichkeiten gegenüber.

Hedwig Dohm (1831 – 1919): Christa Ruland

 

RADIANA. Ich bin auch ein anständiges Mädchen … Sie dürfen nicht etwa denken, weil ich aus dem Zirkus bin … da denken manche gleich, man müßte durchaus ein niedriger Mensch sein … und um einen Judaslohn käuflich sein …

MUTTER BUNTSCHUH. Ih Gott … käufliches Volk gibt es überall … Buhldamen gibt es auch unter den Prinzessinnen … aber Leute, die auf Menschenwürde und Frauenehre halten, gibt es auch genug unter dem Arbeitsvolke, das sich im Schweiße seines Angesichtes seinen Bissen verdient … kommen Sie nur … setzen Sie sich nur … von wem bringen Sie denn die Blumen …

Carl Haupmann, auch Ferdinand Klar (1858 – 1921): Die goldnen Straßen 1. Akt, 5. Szene

 

Freut euch der Freiheit und fürchtet sie nicht!

 

8. November 2019: Serapion an Mephisto

 

D i e F r e i h e i t s f r e u d e

 

Ohne Freiheit kein Gedeihen!

Freiheit ist ein köstlich Ding,

Kann sie Flügel doch verleihen:

Raupe wird zum Schmetterling!

O welch tapfres Freiheitsstreben!

Vorwärts! Und die Mauer bricht!

Was für Wunder wir erleben!

Freut euch der Freiheit und fürchtet sie nicht!

 

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie erobern muß.

 

Früchte tragen wird die Freiheit:

Sät den Samen nur ins Land!

Einigkeit und Recht und Freiheit

Sind des Glückes Unterpfand –

Menschen wollen Glück auf Erden!

Keine Knechtschaft! Kein Verzicht!

Freie Menschen laßt uns werden!

Freut euch der Freiheit und fürchtet sie nicht!

 

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie erobern muß.

 

Freien Sinns das Glück erschauend,

Aussichten wie nie zuvor,

Und der eignen Kraft vertrauend,

Steigt ein frei Geschlecht empor.

Freiheit ist das Brot des Geistes,

Freiheit schenkt der Seele Licht,

Jede Tyrannei beweist es:

Freut euch der Freiheit und fürchtet sie nicht!

 

Zerfallen zu Asche

 

Allerheiligen 2019: Serapion an Mephisto

 

Nichts ist geblieben von dir als der Schatten einiger Strahlen,

Einiger Schimmer des Lichts, das sich damals glücklich in deinen

Augen reflektierte, dich zeigend, ewig, auf einem

Engen Papier in hellgrauen Tönen, die ich durchsuche,

Die ich durchforsche so manchen Tages, wenn ich mit dir rede,

Aber du selbst bist seit langen Jahren zerfallen zu Asche.