A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Monatsarchive: Juni 2019

Die unmögliche Tatsache

 

30. Juni 2019: Bellarmin an Mephisto

 

Sonntag, 23. Juni 2019, Deutschlandfunk:

Nach Mutmaßungen über AfD: Kritik an Merz

Der CDU-Politiker Merz ist mit Äußerungen über mögliche Sympathien für die AfD in den Reihen von Bundeswehr und Bundespolizei in die Kritik geraten.

Bundesinnenminister Seehofer, CSU, sagte der „Bild“-Zeitung, Merz sollte die Bundespolizei nicht als Trittbrett für seine politische Karriereplanung missbrauchen. Die Bundespolizei stehe fest auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Verteidigungsministerin von der Leyen, CDU, sagte, Polizei und Bundeswehr seien allein der Verfassung verpflichtet und gehörten keiner Partei. Polizisten und Soldaten verdienten mehr Wertschätzung und keine Mutmaßungen, wo sie ihr Kreuz machten.

Merz hatte gesagt, seine Partei verliere offenbar Teile der Bundeswehr und der Polizei an die AfD. Die CDU müsse eine Partei sein, die ohne Wenn und Aber hinter den Sicherheitsorganen stehe.

Da ist, in der heutigen Nachrichtenberichterstattung des bundesdeutschen Journalismus typischerweise, die vor die eigentliche Nachricht gestellte parteiliche Klarstellung, damit der Rezipient auch ja immer weiß, wie er richtig zu denken hat: In 86 Wörtern die Abwehr, die Verurteilung des Ereignisses, die manifestierte Angst vor dem Faktum.

Als sogenannte Kritik getarnt.

In der Deutschen Demokratischen Republik war für die dort sogar offen geforderte Parteilichkeit der Berichterstattung die Abteilung Agitation und Propaganda zuständig. Um nicht noch weiter zurückzugehen in der Geschichte.

Erst darauf folgt, am Ende, fast beiläufig, in indirekter Rede, das scheinbar Eigentliche, nämlich eine Sprechblase über etwas, mit 31 Wörtern, und, noblerweise, man höre und staune, hier sogar in zwei Sätzen.

Statt wie gewöhnlich in einem.

Montag dann, so gut wie einzigartig in der heutigen Manier, eine weitere Nachricht zum Thema.

Montag, 24. Juni 2019, Deutschlandfunk:

Bundespolizei: Gewerkschaft sieht Sympathien für AfD

Nach Ansicht der Gewerkschaft der Polizei sympathisieren Mitarbeiter der Bundespolizei verstärkt mit rechtsnationalen Parteien.

Der stellvertretende Vorsitzende Radek sagte der „Rheinischen Post“, bei vielen Beamten sei etwas in Schieflage geraten. Das drücke sich in der Unterstützung für Parteien wie die AfD aus. Radek machte dafür das Verhalten der Bundesregierung verantwortlich. Sie habe den Beamten nie erklärt, warum diese im Jahr 2015 und später von ihrem gesetzlichen Auftrag, die unerlaubte Einreise von Menschen an der Grenze zu unterbinden, hätten abweichen müssen.

Darauf herrschte über allen Gipfeln die Ruh, und die Vögelein schwiegen im Walde.

 

 

Und er kommt zu dem Ergebnis:

Nur ein Traum war das Erlebnis.

Weil, so schließt er messerscharf,

nicht sein kann, was nicht sein darf.

Christian Morgenstern (1871 – 1914): Die unmögliche Tatsache

 

Die knackenden Gradmarken

 

24. Juni 2019: Bellarmin an Mephisto

 

Das Gute am bösen Sommer 2018 war: Endlich verstummte in den Radiosendern jenes jahrelang stumpfsinnig verübte Gequatsche über das Wetter à la: „Oh! Ist das herrlich! Strahlender Sonnenschein! Freuen Sie sich über das wunderbare Wetter! Werden wir morgen endlich die 35-Grad-Marke knacken?“

Tatsache!

Du wirst Dich erinnern!

Diese unerträgliche Ungeistigkeit!

Und das ist keineswegs lediglich gemünzt auf die schwachsinnige und uniforme Lexik des „Knackens“ von „Grad-Marken“.

Und die Wortarmut.

In der Verwendung heute so monumental wie etwa „mutmaßlich“ oder „Emotion“! Es existiert gar kein Gefühl mehr für die Sprache. Insonderheit für unsere Muttersprache ist das Gefühl völlig abgestorben.

„Gefühl“ – Was für ein schönes deutsches Wort!

Es kommt von „fühlen“.

Nein, es bezieht sich primär auf die permanente primitive Verwechslung von Quantität mit Qualität: Je höher die Temperatur, um so schöner das Wetter!

Also bis gestern dachte ich, diesen Schwachsinn hätte man im vorigen Sommer endlich begraben.

Und nichts Böses ahnend und völlig wehrlos vernahm ich gestern plötzlich erneut in einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt: „… morgen dann werden teilweise bis zu 37 Grad erreicht. Da freuen wir uns alle!“

Nein, da freuen wir uns nicht alle!

Es gab übrigens einmal Zeiten, in denen erschollen an den Schulen aus den Klassenräumen die Sprechchöre:

 

Fünf-und-zwan-zig Grad im Schat-ten!

Wir schwit-zen wie die Rat-ten!

Das Ler-nen ist ’ne Quä-le-rei!

Drum bit-ten wir um Hit-ze-frei!

 

Jawohl!

Und wenn um 10 Uhr 25 Grad im Schatten gemessen wurden, kriegten die Schüler ab 12, also nach der vierten Stunde, hitzefrei!

So war das damals. Weil die Schüler*innen und Lehrer*innen und Direktor*innen nebst allen sonstigen mutmaßlichen Hermaphrodit*innen aller Schattierungen damals mutmaßlich fühlten, pardon, die Emotion bekamen, es werde mutmaßlich zu heiß für die verdammte Schulerei.

 

Die Weltorganisation für Meteorologie – WMO – hat zwei Temperaturrekorde seit Beginn der offiziellen Aufzeichnungen vor 76 Jahren bestätigt.

Wie die Behörde in Genf bekanntgab, wurde im Juli 2016 an einer Wetterstation in Kuwait eine Temperatur von 53,9 Grad Celsius erreicht. Im Mai 2017 waren es in der pakistanischen Stadt Turbat 53,7 Grad Celsius.

18. Juni 2019, Deutschlandfunk

 

Das Dilemma der Dialektik menschlichen Daseins

 

16. Juni 2019: Kassandra an Mephisto

 

Glaube mir, es existiert keine Medizin ohne sogenannte Nebenwirkung!

Der Mensch ist ein Wesen in einer Art Hamsterrad, das sich selber zwingt, immer schneller zu laufen, um wenigstens auf der Stelle bleiben zu können.

Wann wird die Menschheit aber begreifen, daß „actio = reactio“, Newtons drittes Axiom, nicht allein separat für die Mechanik gilt?

Sondern daß wir es hier zu tun haben mit dem obersten Prinzip unseres Universums überhaupt.

Wie Du selbst leicht merken wirst, ist dies ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel von ach so vielen realen:

Nehmen wir einmal an, Max Pfiffig erfindet einen Lastkraftwagen. Das bringt große Freude, und der Mann erhält den noblen Preis. Denn: Mit Hilfe des Lastkraftwagens wird es möglich, sehr viel schneller sehr viel mehr Getreide von den Feldern an die Dreschflegel zu transportieren als mit Pferden!

Und von den Dreschflegeln zu den Mühlen der Welt!

Und das Mehl der Mühlen zu den Bäckern!

Und die Brote der Bäcker zu den Verteilern und Verkäuferinnen!

Wunderbar!

Damit wird es möglich, sehr viel mehr Menschen auf unserem Erdenball zu sättigen als zuvor.

Eine gute Sache!

Mit der Folge: Die Menschen werden satter und gesünder, die Fertilät unserer Gattung steigert sich, die Menschen vermehren sich fleißiger, können noch mehr Lastkraftwagen bauen und können mit noch mehr Lastkraftwagen noch mehr Körner zu den Mühlen fahren, und eines schönen Tages hat sich die Erdbevölkerung von drei Milliarden ungesättigten Erdenbürgern auf sechs Milliarden gesättigte verdoppelt.

Welch Fortschritt!

Einhundert Jahre später jedoch reift die Erkenntnis und stellt die UNO unwiderruflich fest, daß das Fahren von LKWn in unserem begrenzten System unweigerlich zum Erstickungstod nicht nur unserer Gattung führt, und daß man die Katastrophe nur noch mittels eines plötzlichen Stops jener Vehikel vermeide.

Da ist guter Rat teuer!

Es existieren nun exakt zwei Möglichkeiten:

Entweder man verweigert sich der Erkenntnis und schert sich nicht weiter drum, bis man es nicht mehr schafft, die Laster ausreichend stillzulegen.

Und die Menschheit geht an ihren Gasen zu Grunde.

Oder es gelingt noch rechtzeitig, die Brummis anzuhalten und meinethalben einzustampfen und rückstandslos in Plasteeimer zu rizeikeln nach einem patentierten Verfahren von Max Pfiffig junior. Oder es gelingt, sie samt ihren schädlichen Gasen bei Asse in garantiert sicheren unterirdischen Zwischenlagern endzulagern.

Und drei Milliarden Menschen verhungern.

 

Zur Erinnerung

 

10. Juni 2019: Serapion an Mephisto

 

 

Die teuflische Tragödie

 

Im ungleichen Gefecht willst du dich halten?

Dies wird dir ungewohnte Geister wecken!

Die mußt du zügeln und sogar verstecken:

Darfst deine kargen Kräfte nicht zerspalten.

 

Weißt du dich klug und besser als die kalten,

Verlognen Feinde? Darfst sie doch nicht necken!

Wirst sonst an ihrer Übermacht verrecken:

Mußt lassen deine Vor- und Nachsicht walten.

 

Denn bist du wahrlich im Besitz des Wahren,

So wirst du auch naturgesetzlich siegen:

Ihr Tun wird ihren Fehler offenbaren!

 

Dann kannst du triumphieren und erfahren:

Du mußt nicht mal den kleinsten Finger biegen

Für deinen Sieg… in hundertfünfzig Jahren!

 

 

Es kommen härtere Tage oder Der teuflischen Tragödie zweiter Teil

 

Es kommt nun eine Zeit, die werden wir nicht lieben.

Die Jahre zogen hin, wir standen voll im Saft,

Da gab’s die Mastercard, die galt es reinzuschieben,

Und prompt kroch durch den Schlitz soziale Marktwirtschaft.

 

Du meinst, das sei nicht so, die Jahre waren mager?

Du kamst mal eben hin und lebtest nicht leger?

Dann zieh jetzt Lehren draus, sonst bleibst du ein Versager

Und siehst, welch Glück in harten Zeiten blüht, erst immer hinterher…

 

 

Meinen Feinden wünsche ich, daß ihre Kinder in Luxus leben!“

Antisthenes (um 444 v. Chr. – ca. 368 v. Chr.)

 

Und was noch folgt, ist kaum auszumalen!

 

3. Juni 2019: Serapion an Mephisto

 

 

Eine Zuschauerin im Flughafen

 

»Nie wieder wird’s Menschen geben,

Die so viel erleben,

Wie wir, in unsrer gigantischen Zeit!

Der Weltkrieg und die ihm folgenden Leiden –

Wird keiner auch uns darum beneiden –

Haben doch alles, was in der Welt

Früher geschah, in den Schatten gestellt.

O unsre Zeit! Und speziell unser Land!«

 

Der Platzleiter bückte sich, hob galant

Ein Buch auf, gab’s mit der linken Hand

Der Dame zurück, nicht mit der rechten.

(Er war im Kriege in Luftgefechten

Dreimal abgeschossen und rühmlichst bekannt.)

 

»Danke. – Ach, wie der Gedanke erhebt:

Nie wird – nie hat eine Generation

Soviel Erfindungen neu erlebt.

Denken Sie nur an Edison,

An Fahrrad, Auto und Grammophon,

An Kino, Radio, Röntgenstrahlen,

Schon Trambahn, Rohrpost und Salvarsan.

All das hat unsere Zeit getan!

Und was noch folgt, ist kaum auszumalen.

Wir schreiten weiter von Siegen zu Siegen.

Nicht Fortschritt mehr, sondern Fortflug. Wir fliegen

Empor. Wir werden zu höheren Fernen

Schweben, zum Mars und zu sämtlichen Sternen.

Wir werden vielleicht

Die alleräußerste Peripherie

Des Weltalls erreichen. – –

Ich danke Ihnen, das haben Sie

Und Ihresgleichen

Durch Ihr Genie und durch Mut erreicht.«

 

Die Dame schwieg, und sie fächelte

Mit ihren Armen, als wollte sie fliegen.

 

Der Flugplatzleiter lächelte.

»Bin oft nach der Sonne zu aufgestiegen«,

So sagte er heiter,

»Doch zog sie sich immer um jedes Stück

Meiner erstrebten Annäherung weiter

Und höher zum alten Abstand zurück.«

 

 

Joachim Ringelnatz (1929)