Bruchstück einer akkadischen Schrifttafel (etwa 2016 v. Chr.):
„Einst waren die Menschen zerstreut und zerstritten
Und lebten in weiter Welt verloren.
Da haben sie Kummer und Not erlitten
Und endlich Frieden sich geschworen
Und sich gen Morgen zusammengefunden
Und waren in Mühe und Arbeit verbunden.
Dasselbige Land hieß Sinear,
Dort wohnten sie nun manches Jahr,
Lispelten milde, lächelten nett,
Wurden reicher und fraßen sich fett,
Gingen nach dem Dernier Cri
Geschmückt mit Gold bis über das Knie
Und Kupfer viel und Karneol,
Weideten Schafe, pflanzten Kohl,
Regelten Streit per Gleichstellungsquoten
Und hatten verletzende Wörter verboten.
Da sprach unter ihnen der Gleicheste
(Das war zudem der Reicheste):
‚So lasst uns bauen eine Stadt
Mit einen Turm im Handelscenter,
Der nirgendwo seinesgleichen hat.
Dann wird das Leben effizienter!
Den höchsten Turm mit einer Spitze,
Die den Zenit des Himmels ritze.
Hier machen wir uns einen Namen!
Dass nicht zerstreut sei unser Samen
Unter Barbaren fremder Länder
Bis an des Mundus entlegenste Ränder!
Selbst aus der Ferne wie ein Berg,
Einzig in diesem flachen Lande,
Erhebe sich das Meisterwerk
Aus Sinears ödweilig tristem Sande!
Über durch Pfeiler gegliederten Wänden
Sieht man in unterschiedlichen Höh’n
Dann Gärten den Menschen Schatten spenden,
Die dort auf den Terrassen gehn.
Zur ersten drei mächtige Treppen führen,
Ihr Winkel wird lassen Erhabenheit spüren
Auf jeder ihrer zahllosen Stufen,
Wenn zur Prozession berufen
Von oben über dem ebenen Land,
Wie herab vom Himmel gesandt,
In langem Zug gehüllt in Schweigen
Die Priester in wollenen Mänteln steigen
Vom krönenden Tempel der höchsten Etage
Hinab zu den Speichern und Webereien
Und Banken, die das Geld verleihen,
An Bürger mit geringerer Gage.
Der höchste Tempel dien‘ einzig nur
Der Anbetung unseres Gottes Merkur
Mit seinem schlangenumwundenen Stab,
Dieweil er uns den Wohlstand gab.
In seinem Gemach hinter güldenen Riegeln
Wird glänzen tiefblau die Glasur auf den Ziegeln.
Neben den Tempel kommt gleich das Archiv
Für Schuldverschreibung und Mahnungsbrief,
Die Registratur sowie der Kataster
Nebst Steuerverzeichnis der lässlichen Laster.
Hoch auf des obersten Tempels Dache
Halten dann Astrologen Wache,
Zählen im nächtlichen Dunkel die Sterne.
Deren Bewegungen selbst aus der Ferne
Sollen beeinflussen all unser Streben
Nach Reichtum und Glück, das menschliche Leben
Wie ebenso das Fließen der Flüsse,
Nach Dürren den Tag der Regengüsse,
Und dass die Fruchtbarkeit im Boden
Im Herbst uns schenke die Reineclauden.
Auch haben die weisen Astrologen
Berechnet des Mondes Umlaufbogen
Und in Monat und Woche, wie wunderbar,
Uns eingeteilt das ganze Jahr.
So sei es uns als Menschenwerk,
Das Höchste zu bauen den Götterberg
Für Gott Merkur, dann wird er uns gönnen,
Das Letzte zu wissen und jedes zu können!
Karret an denn den schluffigen Lehm, den weichen,
Und lasset uns daraus Ziegel streichen!
Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk!
Das Feuer entfache der Blasebalg!
Wie wir es von den Vätern her kennen,
So wollen steinhart die Ziegel wir brennen!
Und Frieden und Glück und Wohlstand fürwahr
Wird einziehn beim Turmbau in Sinear!‘
Nun war es ein lachend und scherzend Beginnen,
Ein freudiges in die Hände gespuckt,
Ein Schippen und Karren ohne Besinnen,
Da wurde nicht lange grübelnd geguckt.
Doch als gerade nach sieben mal sieben Jahren
Mit der siebten Terasse sie fertig waren,
Da zeigten sich in der dritten Risse.
Und als sie beseitigt die Ärgernisse,
Da knirschten in der zweiten die Träger,
In der vierten neigten die Wände sich schräger,
Und Unmut zog ein im ganzen Land.
Die Agitatoren, redegewandt,
Entfachten das allgemeine Lästern,
Und allenthalben aus ihren Nestern
Krochen hervor die Brunnenvergifter,
Volksverführer und Unruhestifter!
Die Demagogen und Doktrinäre
Verkündeten als Heil die Lehre:
‚Lasset aus unserer Mitte uns jagen
Die vordem hatten die Macht und das Sagen!‘
Jetzt drehte sich, wie eine Töpferscheibe,
Das Land: Es hungern nun die hohen Räte,
Die Damen stopfen selber die Nähte
Der Lumpen, die ihnen hängen am Leibe,
Und wagen sich zu sprechen nicht mehr.
Die Bürger müssen schuften schwer
Und rackernd sich abmühn, sich regen und schwitzen
Und müssen selbst an der Mühle sitzen!
Nicht wieder die Noblen sind zu erkennen,
Seit man befahl, von ihrer Brut sie zu trennen,
Das zieht durch’s Land wie Fieberschauer!
Man wirft ihre Kinder auf die Straße,
Die Meute schlägt sie an die Mauer
Und schmeißt sie hin, den Geiern zum Fraße.
Auch die Beamten sind abgetan,
Kein Amt steht mehr an seinem Platze,
Das Chaos zeigt hier seine Fratze,
Sinnlose Leute in ihrem Wahn
Der unbeschränkten Selbstentfaltung,
Die rauben dem Lande Maß und Verwaltung.
Und wo du sonst nie hingekommen,
Jedwede Bureaus, sie stehen offen!
Niemand wird mehr angetroffen,
Weit und breit steht alles leer!
Personenlisten weggenommen!
Und Untertanen gibt’s nicht mehr!
Wohin sind verschwunden all die Listen
Der Sackschreiber, die sich verpissten?
Oder sie wurden umgebracht,
Ausgetilgt durch Narrenmacht,
Und jeder folgt nun dem System,
Dass derart viel vom Korn er nehm‘,
Wie er vom Korn sich nehmen will!
Selbst in den Sälen der Gerichte
Stolzieren die geringsten Wichte.
Niemand da, der sie verstößt!
Das Haus der Dreißig steht entblößt!
Keiner wagt da mehr zu ackern,
Sich beim Bauen abzurackern.
Kein Holz mehr wird ins Land gebracht.
Der Boden liegt wüst und außer Acht
Und alles Feld bleibt unbestellt.
Jetzt gibt es kein Getreide mehr,
Denn alle Speicher blieben leer,
Und in Hungerqualen und Höllenpeinen
Das Futter sie klauben aus Trögen von Schweinen.
Die Menschen halten sich nicht mehr reinlich,
Grind und Dreck scheinen keinem mehr peinlich,
Kot und Mist liegen kreuz über quer.
Man blickt gehässig, man lacht nicht mehr.
Die Wörter werden fast täglich diffuser,
Die Sprache unverständlich konfuser.
Die Schreiblehrer sind überflüssig
Und Kinder lebensüberdrüssig.
Die Geburten nehmen ab zumal,
So vermindert sich täglich der Menschen Zahl,
Und von der Wüste bis hin an das Meer,
Wächst bei allen nur ein Begehr,
Dass alles sich in den Abgrund zöge
Und endlich zugrunde gehen möge.
Und nun beginnt das Reich des Pöbels
…“
(Hier bricht der lesbare Teil der Tafel kurz vor ihrer Bruchstelle ab. Doch von der aus anderweitigen Quellen überlieferten Historie jenes Reiches hatte ich ja dereinst Dir berichtet: => Das Reich des Pöbels.)