A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Monatsarchive: Januar 2016

29.1.16 Mephisto an Bellarmin

Freitag, 22. Januar, NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG:

Wie macht man Rechtspopulisten stark? SPD und Grüne, die in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die Ministerpräsidenten stellen, machen es vor. Indem sie eine TV-Diskussion mit der AfD verweigern, verhelfen sie der umstrittenen Partei zu noch mehr Aufmerksamkeit. Richtig wäre gewesen, die Populisten im Streitgespräch zu stellen und zu entzaubern. Aber offensichtlich sind sich Malu Dreyer und Winfried Kretschmann dafür zu fein oder fühlen sich einer solchen Debatte nicht gewachsen; ein jämmerliches Bild der Schwäche.

Freitag, 22. Januar, TAGESSPIEGEL:

Über ihr Demokratieverständnis sollten die Wahlkämpfer im Süden, insbesondere von SPD und Grünen, nachdenken. Die AfD nämlich ist keine vom Verfassungsschutz beobachtete Partei, keine NPD. Sie hat demokratisch legitimiert Sitz und Stimme im Europäischen Parlament und gehört in weiten Teilen des Landes zu den relevanten Parteien. Man kann, man soll das beklagen. Und man wünschte sich Politiker, die sich mit deutlichen Worten und Argumenten mit der AfD auseinandersetzen.

Der Extremismusforscher Professor Klaus Schröder, Politikwissenschaftler an der FU Berlin, am 20. Januar im Deutschlandfunk:

Heckmann: Herr Schröder, ist die Entscheidung von SWR und MDR, die AfD nicht zu berücksichtigen, eine gute Entscheidung?

Schröder: Nein, es ist eine sehr schlechte Entscheidung, weil hiermit den Vorurteilen, die ohnehin in diesem rechtspopulistischen Milieu da sind, noch Nahrung gegeben wird. Jetzt kann sich verbreiten: Aha, die wollen nicht mit uns diskutieren, die können nicht mit uns diskutieren, die wollen uns außen vor lassen. Es wird eine Trotzreaktion geben. Das ist Wahlkampfhilfe für die AfD. Sie wird ein, zwei, drei Prozentpunkte durch diese Entscheidung mehr erhalten und es ist für die Grünen und die SPD ein Armutszeugnis.

Heckmann: Und aus Sicht der etablierten Parteien im Prinzip auch eine kontraproduktive Entscheidung?

Schröder: Ja! Damit ist überhaupt nichts gewonnen. Die Argumente der AfD sind da, mit denen muss man sich auseinandersetzen. Wenn man sie für verfassungswidrig hält im Übrigen, muss man den Antrag stellen, die Partei zu verbieten. Das habe ich bisher von den Grünen und der SPD noch nicht gehört. Also es ist allemal besser, sich offensiv auseinanderzusetzen, die Probleme, die die AfD anspricht, demokratisch zu beantworten, zu lösen, aber nicht zu kneifen. Und ich möchte noch eins sagen, gerade in Baden-Württemberg: Herr Meuthen ist nicht Herr Höcke. Mit Herrn Meuthen sich auseinanderzusetzen, dürfte wahrscheinlich für Herrn Schmid und Herrn Kretschmann eine Nummer zu groß sein. Deshalb verstehe ich deren Angst. Aber warum in Rheinland-Pfalz auch die beiden Parteien kneifen, das erschließt sich mir nicht.

Heckmann: Aber, Herr Schröder, jetzt sagt ja Nils Schmid zum Beispiel bei uns heute Früh im Deutschlandfunk, bei der AfD handele es sich nicht um eine ganz normale Partei, sondern um eine Partei, die Ausländerfeindlichkeit propagiere, und mit einer solchen Partei kann man auch nicht so umgehen wie mit einer ganz normalen Partei. Müssen sich denn Demokraten mit Parteien mit zweifelhaftem Ruf wirklich zusammensetzen?

Schröder: Solange diese Parteien nicht verboten sind, muss man sich mit ihnen auseinandersetzen. Wenn sie in die Parlamente kommen, muss man sich auch mit ihnen auseinandersetzen. Und erst in der Auseinandersetzung mit den besseren Argumenten kann man potenzielle und tatsächliche Wähler wieder zurückgewinnen, aber nicht, indem man nicht diskutiert und ausgrenzt. Das ist der falsche Weg. Das spricht die Leute nicht an und es wird fürchterlich nach hinten losschlagen, vermute ich, am Wahlabend.

Heckmann: Aber auf der anderen Seite, wenn man die AfD eingeladen hätte, dann würden solche Elefantenrunden, solche Sendungen im Fernsehen vor Wahlen im Prinzip sinnlos, weil man dann ja alle antretenden Parteien einladen müsste, und das sind sicher mehr als ein Dutzend. Wo soll das hinführen?

Schröder: Nein, man muss nicht alle einladen. Der SWR hat ja vor den letzten Landtagswahlen immer die Spitzenkandidaten der relevanten Parteien eingeladen. Da kann man die nehmen, die bei Wahlumfragen um fünf Prozentpunkte und mehr liegen. Das stimmt nicht. Man hat es früher anders praktiziert. Jetzt haben die Spitzenpolitiker den Sender gleichsam erpresst. Das ist ja nicht nur für den Sender ein Skandal im Grunde genommen, sondern auch der Journalismus leidet ja darunter, weil gerade der SWR ja hervorragende Journalisten hat, die jetzt auf einmal so dastehen, als ob sie kneifen.

Heckmann: Aber Umfrageergebnisse zur Grundlage zu nehmen, das ist ja auch problematisch, denn dann wird eine Partei, die bei 4,5 ist, sagen, wir wollen auf jeden Fall rein, und wenn die reinkommt, dann will die Partei, die bei 4,0 liegt, genauso rein.

Schröder: Noch mal: In den Jahren zuvor, als die Linkspartei und die Grünen nicht in den Landtagen vertreten waren, hat man sie trotzdem eingeladen zu den Elefantenrunden. Dann soll das, bitte schön, erklärt werden, warum bei den Parteien es anders gemacht wurde als heute.

Heckmann: War das vielleicht der grundlegende Fehler, der gemacht worden ist 2011, dass man da offenbar eine Ausnahme gemacht hat und Grüne und FDP mit hineingenommen hat?

Schröder: Nein. Entweder hat man ein Prinzip, das man durchhält, über die Jahre hinweg, nur die Spitzenkandidaten, die vertreten sind, okay. Aber sozusagen den Modus zu wechseln, bloß weil es jetzt sich um eine rechtspopulistische Partei handelt, das stößt bitter auf. Und wie gesagt, es wird nicht den Effekt haben, den sich Grüne und SPD erhoffen, nämlich Wähler abzuschrecken, sondern es wird Wähler zur AfD locken.

Heckmann: Viele Leute, vielleicht auch einige, die uns zuhören, Herr Schröder, die sind der Meinung, die öffentlich-rechtlichen Medien, die befänden sich am Gängelband der Staatskanzleien. Der Intendant des SWR, Herr Boudgoust, der hat gestern auch gesagt, es habe keinen Einfluss vonseiten der Politik gegeben. Denken Sie, dass die Leute ihm das abnehmen? Wie verheerend ist diese Entscheidung auch mit Blick auf das Bild, das die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland abgeben?

Schröder: Verheerend ist das. Verheerend, weil natürlich haben die nicht angerufen und gesagt, lad die nicht ein, sondern die haben gesagt, wir kommen nicht, und das ist ja Erpressung. Der Intendant stand vor der Frage, leere Stühle oder die anderen nicht einladen, und er hat sich dann dafür entschieden, keine leeren Stühle, sondern die anderen nicht einladen. Ein bisschen Geschmack negativer Art bekommt es dadurch, dass er ja wiedergewählt werden will, und wir wissen ja, wer die Intendanten wählt. Die sind abhängig von der Politik und man kann durchaus die Frage stellen, ob der Staatseinfluss auf die öffentlich-rechtlichen Sender nicht zu groß ist.

Heckmann: Also auch ein Konjunkturprogramm für die Skepsis gegenüber öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland?

Schröder: Ja. Die stehen ja eh unter Druck, wegen ihrer Berichterstattung über die Flüchtlingswelle. Es wird ja von vielen sehr negativ gesehen. Und man erweist sich mit dieser Entscheidung einen Bärendienst, sowohl beim SWR als auch beim MDR.

Heckmann: Würden Sie empfehlen, diese Entscheidung noch mal zu revidieren?

Schröder: Ja! Ich würde wirklich empfehlen, revidieren, den Mut zu haben. Wir haben unterschätzt, welche Auswirkungen das hat, und ich glaube, es gibt keinen ernst zu nehmenden seriösen Journalisten, der diese Entscheidung für richtig hält.

 

22.1.16 Bellarmin an Mephisto

 

Bruchstück einer akkadischen Schrifttafel  (etwa 2016 v. Chr.):

 

„Einst waren die Menschen zerstreut und zerstritten

Und lebten in weiter Welt verloren.

Da haben sie Kummer und Not erlitten

Und endlich Frieden sich geschworen

Und sich gen Morgen zusammengefunden

Und waren in Mühe und Arbeit verbunden.

 

Dasselbige Land hieß Sinear,

Dort wohnten sie nun manches Jahr,

Lispelten milde, lächelten nett,

Wurden reicher und fraßen sich fett,

Gingen nach dem Dernier Cri

Geschmückt mit Gold bis über das Knie

Und Kupfer viel und Karneol,

Weideten Schafe, pflanzten Kohl,

Regelten Streit per Gleichstellungsquoten

Und hatten verletzende Wörter verboten.

 

Da sprach unter ihnen der Gleicheste

(Das war zudem der Reicheste):

‚So lasst uns bauen eine Stadt

Mit einen Turm im Handelscenter,

Der nirgendwo seinesgleichen hat.

Dann wird das Leben effizienter!

Den höchsten Turm mit einer Spitze,

Die den Zenit des Himmels ritze.

Hier machen wir uns einen Namen!

Dass nicht zerstreut sei unser Samen

Unter Barbaren fremder Länder

Bis an des Mundus entlegenste Ränder!

 

Selbst aus der Ferne wie ein Berg,

Einzig in diesem flachen Lande,

Erhebe sich das Meisterwerk

Aus Sinears ödweilig tristem Sande!

 

Über durch Pfeiler gegliederten Wänden

Sieht man in unterschiedlichen Höh’n

Dann Gärten den Menschen Schatten spenden,

Die dort auf den Terrassen gehn.

 

Zur ersten drei mächtige Treppen führen,

Ihr Winkel wird lassen Erhabenheit spüren

Auf jeder ihrer zahllosen Stufen,

Wenn zur Prozession berufen

Von oben über dem ebenen Land,

Wie herab vom Himmel gesandt,

In langem Zug gehüllt in Schweigen

Die Priester in wollenen Mänteln steigen

Vom krönenden Tempel der höchsten Etage

Hinab zu den Speichern und Webereien

Und Banken, die das Geld verleihen,

An Bürger mit geringerer Gage.

 

Der höchste Tempel dien‘ einzig nur

Der Anbetung unseres Gottes Merkur

Mit seinem schlangenumwundenen Stab,

Dieweil er uns den Wohlstand gab.

In seinem Gemach hinter güldenen Riegeln

Wird glänzen tiefblau die Glasur auf den Ziegeln.

 

Neben den Tempel kommt gleich das Archiv

Für Schuldverschreibung und Mahnungsbrief,

Die Registratur sowie der Kataster

Nebst Steuerverzeichnis der lässlichen Laster.

 

Hoch auf des obersten Tempels Dache

Halten dann Astrologen Wache,

Zählen im nächtlichen Dunkel die Sterne.

Deren Bewegungen selbst aus der Ferne

Sollen beeinflussen all unser Streben

Nach Reichtum und Glück, das menschliche Leben

Wie ebenso das Fließen der Flüsse,

Nach Dürren den Tag der Regengüsse,

Und dass die Fruchtbarkeit im Boden

Im Herbst uns schenke die Reineclauden.

 

Auch haben die weisen Astrologen

Berechnet des Mondes Umlaufbogen

Und in Monat und Woche, wie wunderbar,

Uns eingeteilt das ganze Jahr.

 

So sei es uns als Menschenwerk,

Das Höchste zu bauen den Götterberg

Für Gott Merkur, dann wird er uns gönnen,

Das Letzte zu wissen und jedes zu können!

 

Karret an denn den schluffigen Lehm, den weichen,

Und lasset uns daraus Ziegel streichen!

Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk!

Das Feuer entfache der Blasebalg!

Wie wir es von den Vätern her kennen,

So wollen steinhart die Ziegel wir brennen!

Und Frieden und Glück und Wohlstand fürwahr

Wird einziehn beim Turmbau in Sinear!‘

 

Nun war es ein lachend und scherzend Beginnen,

Ein freudiges in die Hände gespuckt,

Ein Schippen und Karren ohne Besinnen,

Da wurde nicht lange grübelnd geguckt.

Doch als gerade nach sieben mal sieben Jahren

Mit der siebten Terasse sie fertig waren,

Da zeigten sich in der dritten Risse.

Und als sie beseitigt die Ärgernisse,

Da knirschten in der zweiten die Träger,

In der vierten neigten die Wände sich schräger,

Und Unmut zog ein im ganzen Land.

 

Die Agitatoren, redegewandt,

Entfachten das allgemeine Lästern,

Und allenthalben aus ihren Nestern

Krochen hervor die Brunnenvergifter,

Volksverführer und Unruhestifter!

Die Demagogen und Doktrinäre

Verkündeten als Heil die Lehre:

‚Lasset aus unserer Mitte uns jagen

Die vordem hatten die Macht und das Sagen!‘

 

Jetzt drehte sich, wie eine Töpferscheibe,

Das Land: Es hungern nun die hohen Räte,

Die Damen stopfen selber die Nähte

Der Lumpen, die ihnen hängen am Leibe,

Und wagen sich zu sprechen nicht mehr.

Die Bürger müssen schuften schwer

Und rackernd sich abmühn, sich regen und schwitzen

Und müssen selbst an der Mühle sitzen!

Nicht wieder die Noblen sind zu erkennen,

Seit man befahl, von ihrer Brut sie zu trennen,

Das zieht durch’s Land wie Fieberschauer!

Man wirft ihre Kinder auf die Straße,

Die Meute schlägt sie an die Mauer

Und schmeißt sie hin, den Geiern zum Fraße.

 

Auch die Beamten sind abgetan,

Kein Amt steht mehr an seinem Platze,

Das Chaos zeigt hier seine Fratze,

Sinnlose Leute in ihrem Wahn

Der unbeschränkten Selbstentfaltung,

Die rauben dem Lande Maß und Verwaltung.

 

Und wo du sonst nie hingekommen,

Jedwede Bureaus, sie stehen offen!

Niemand wird mehr angetroffen,

Weit und breit steht alles leer!

Personenlisten weggenommen!

Und Untertanen gibt’s nicht mehr!

 

Wohin sind verschwunden all die Listen

Der Sackschreiber, die sich verpissten?

Oder sie wurden umgebracht,

Ausgetilgt durch Narrenmacht,

Und jeder folgt nun dem System,

Dass derart viel vom Korn er nehm‘,

Wie er vom Korn sich nehmen will!

 

Selbst in den Sälen der Gerichte

Stolzieren die geringsten Wichte.

Niemand da, der sie verstößt!

Das Haus der Dreißig steht entblößt!

 

Keiner wagt da mehr zu ackern,

Sich beim Bauen abzurackern.

Kein Holz mehr wird ins Land gebracht.

Der Boden liegt wüst und außer Acht

Und alles Feld bleibt unbestellt.

 

Jetzt gibt es kein Getreide mehr,

Denn alle Speicher blieben leer,

Und in Hungerqualen und Höllenpeinen

Das Futter sie klauben aus Trögen von Schweinen.

 

Die Menschen halten sich nicht mehr reinlich,

Grind und Dreck scheinen keinem mehr peinlich,

Kot und Mist liegen kreuz über quer.

Man blickt gehässig, man lacht nicht mehr.

Die Wörter werden fast täglich diffuser,

Die Sprache unverständlich konfuser.

Die Schreiblehrer sind überflüssig

Und Kinder lebensüberdrüssig.

 

Die Geburten nehmen ab zumal,

So vermindert sich täglich der Menschen Zahl,

Und von der Wüste bis hin an das Meer,

Wächst bei allen nur ein Begehr,

Dass alles sich in den Abgrund zöge

Und endlich zugrunde gehen möge.

 

Und nun beginnt das Reich des Pöbels

…“

 

 

(Hier bricht der lesbare Teil der Tafel kurz vor ihrer Bruchstelle ab. Doch von der aus anderweitigen Quellen überlieferten Historie jenes Reiches hatte ich ja dereinst Dir berichtet: => Das Reich des Pöbels.)

 

15.1.16 Mephisto an Bellarmin

Sollte man ein derart schönes und klares Wort wie „Idiot“ oder „Trottel“ zum Unwort stempeln, weil es bisweilen, vielleicht sogar häufig, ungerechtfertigterweise verwendet werden könnte? Zugegebenermaßen ist „Idiot“, wie ein Nachschlagen ergäbe, ein von griechisch „idiotes“ und lateinisch „idiota“, „idiotes“ herrührendes Wort und seit dem 16. Jahrhundert deutsch im Sinne als „Laie“, „Stümper“, „gewöhnlicher Mensch“ verwendet, durch seinen seit dem 19. Jahrhundert im heutigen Sinn alleinig pejorativ gewandelten Gebrauch eventuell etwas verblaßt, jedenfalls nicht mehr ganz frisch oder gar originell wirkend. Ähnlich wird „Trottel“, von „trotteln“, „trott“ vielleicht mit den Vorläufern aus italienisch „trotto“, „trottare“ und französisch „trot“, „trotter“, „trottoir“ und zur germanischen Wortgruppe „treten“ gehörig, im Gebrauch seit dem 19. Jahrhundert pejorativ verwendet. Der Wortgebrauch wandelt sich wohl häufiger pejorativ, als umgekehrt vom dummen August zum Augustus. Doch warum sollte man deshalb das Wort an sich verdammen? Zumal wenn es eine neue Bedeutungsnuance definierte, also einen bisher unbemerkten und deshalb noch unbedachten Wirklichkeitsbereich erschlösse?

Die beiden Gremien, die sich mit Wort und Unwort im deutschen Sprachgebrauch befassen, beginnen mir zusehends bizarr zu werden mit ihren Küren. Das Wort „Groko“ zum Beispiel vernahm ich, obwohl mein jährlicher Wortkonsum vielleicht nicht zu den geringsten zählt, tatsächlich zum ersten Mal, als es von der Wiesbadener Gesellschaft für deutsche Sprache ausposaunt wurde als angebliches „Wort des Jahres“.

So ließ mich das im letzten Jahr von der Jury bestimmte Unwort „Lügenpresse“ für das folgende Jahr schon wieder Schlimmes befürchten. Besonders weil sich, verläßlicher Umfragen zufolge, weit mehr als die Hälfte der Eingeborenen durch die Medien unseres Landes nicht wahrheitsgemäß unterrichtet fühlt über Geschehnisse und Stimmungen bei uns und in den übrigen vier Ecken der Welt. Und infolge einer inquisitorischen Wortverdammung dieses Problem ja keineswegs aus der Welt geschafft wurde, wenngleich eine Unworterklärung in den Augen der Jury gewiß ein Totschlagargument darstellt. Doch im Gegenteil, was sollten die Menschen denn nun machen, die nicht in der Lage sind, einen allgemein empfundenen Sachverhalt eigenständig prägnant zu artikulieren? Jene Kunst beherrschen ja noch nicht einmal unsere gegenwärtigen, demnach bildungsferneren Politiker mit ihrem stereotypen „inakzeptabel“.

„Inakzeptabel“ für „Scheißkackmistarschlochverdammtnochmal!“

Beispielsweise.

Zwar hatte ich die Hoffnung längst aufgegeben, noch einmal „leif zu erleben“, daß man sich des Wortes „leif“ und seines in deutschen Medien zu 99.999999999999999999999999999999999999 prozentigen überflüssigen Gebrauchs einmal annehmen würde, aber dennoch mir einen Funken Hoffnung bewahrt in meinem naiven Herzen, daß es wenigstens solche Dinger wie „Wisselbloa“, „Fäk“ und „fäken“, „Heip“, „Fläschmopp“, „Poost“ und „poosten“ und ähnliche einmal erwischen könnte.

Nicht zu reden von „Nohgohärea“ für „verbotene Zone“…

Vergebens.

Das Unwort des Jahres 2015 heißt also „Political Correctness“, pardon, es heißt „Gutmensch“.

 

„’Gutmensch‘ zum Unwort zu küren, entspringt einem frappierenden Mangel an Reflexion und Kritikfähigkeit genau derer, die damit gemeint sind.“

(Mittwoch, 13. Januar 2016 NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG)

 

9.1.16 Bellarmin an Mephisto

Sofern wir gut aufpaßten, konnten wir diese Woche eine Menge lernen!

Ich lernte, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, daß auch deutsche Männer Frauen vergewaltigen sollen.

Das hatte ich noch gar nicht gewußt. Danke!

Allerdings ist mir auch niemand bekannt im Angesicht des aktuellen Problems, der die Frage gestellt hätte: Vergewaltigen auch deutsche Männer Frauen?

Oder der behauptet hätte: Deutsche Männer vergewaltigen keine Frauen.

Und dennoch teilte man mir schon einmal vorauseilend jene Wahrheit mit!

Damit ich beileibe nicht erst auf den Gedanken käme, deutsche Männer vergewaltigten keine Frauen.

Oder genauer: Nur Ausländer vergewaltigen Frauen.

Danke also für diese Einschätzung meines intellektuellen Niveaus!

Und der des deutschen Publikums.

Bei all dem lernte ich übrigens weiter: Es gibt Weisheiten, die zu nichts nützen. Die, von Interessierten zum richtigen Zeitpunkt unter die Leute gebracht, das Thema zerreden. Die eine die Problemlösung befördernde Wahrheitsfindung behindern.

Also Wahrheiten, die der Wahrheit im Wege stehen.

Weiterhin konnte man wieder lernen: Tragik im aristotelischen Sinne entsteht dadurch, daß die gewählten Mittel der Katastrophenverhütung die Katastrophe herbeiführen. Ein derartiges tragisches Mittel ist die nach Meinung ihrer meist linksgläubigen Kesseltreiber probate Waffe gegen unkorrektes, also falsches Gedankengut, und es heißt, fremdsprachlich die präzisen Wörter „Zensur“ und „Denkverbot“ verhüllend, „Political Correctness“.

Also, da erlebten wir sie wieder lehrreich und in praxi, die politische Korrektur:

Mittwoch, 6. Januar, KÖLNER STADT-ANZEIGER:

Mit einer souverän agierenden Polizei hat das nichts zu tun. Deren Führung muss sich die Frage stellen, ob sie ihren Aufgaben noch gerecht wird, ob sie verfälschende Pressemitteilungen wie am Neujahrstag herausgibt, weil sie es nicht besser weiß. Oder weil sie glaubt, politischen Interessen dienen zu müssen. Informationen zum Hergang nur scheibchenweise oder gar geschönt weiterzugeben, macht alles nur noch schlimmer. Weil es der untaugliche Versuch einer überforderten Obrigkeit ist, das Idyll eines freundlichen Deutschland zu behaupten, während im Land selbst längst Sorgen und Ängste vor der dunklen Kehrseite umgehen.

Mittwoch, 6. Januar, DE TELEGRAAF:

Bislang wurden diejenigen, die der großen Zahl von Flüchtlingen aus wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Erwägungen heraus kritisch gegenüber stehen, in eine politische Ecke gedrängt, in die sie nicht gehören. Und links angehauchte Medien schreckten nicht davor zurück, ihren Beitrag zur Manipulation zu leisten: Sie bauschten Angriffe auf Flüchtlinge auf und bagatellisierten Delikte der Asylsuchenden. Heruntergespielt wird auch der Fakt, dass sich unter den Migranten überproportional viele junge Männer befinden, deren Ansichten zum Verhältnis von Mann und Frau geradezu mittelalterlich sind. Die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof und ähnliche Vorfälle in Hamburg und Stuttgart sind eine Folge davon.

Freitag, 8. Januar, RHEINISCHEN POST:

Schockierend sind Meldungen, nach denen die Kölner Polizei angeblich die Herkunft der Täter verschleiern wollte. Wer die Wahrheit über Täter aus vermeintlich politischer Korrektheit verschweigt, ist ein geistiger Brandstifter. So werden rechtsradikale Ressentiments geschürt.

Freitag, 8. Januar, KÖLNER STADT-ANZEIGER:

Was tut eine Polizei, die Fakten frisiert, eigentlich sonst noch? Wird so auch ermittelt? Sind solche Verfahren auch in anderen Behörden Praxis?

Freitag, 8. Januar, RZECZPOSPOLITA:

Bislang gab es in den Medien thematische Grenzen, die nicht überschritten wurden. Sie waren ein Ausdruck jener politischen Korrektheit, die es in Deutschland im öffentlichen Raum seit langem gibt. In privaten Gesprächen hingegen äußern viele Deutsche ganz andere Ansichten.

Samstag, 9. Januar, DIE WELT:

Der Tag, an dem der Polizeibericht über die wahren Begebenheiten der Silvesternacht bekannt wurde, wird in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen. Seit diesem Tag nämlich beginnen mehr und mehr Zeitgenossen, auf die Vorzüge und die Gefahren der Masseneinwanderung hinzuweisen und die bisherigen Tabus als das zu übergehen, was sie sind: Denkverbote, deren Herrschaft stets zu einer verklemmten Debattenkultur führt.

Samstag, 9. Januar, THE NATIONAL POST:

Die ‚Political Correctness‘ wendet sich gegen sich selbst. Der Versuch, einen öffentlichen Aufschrei durch das Frisieren der Realität zu umgehen, resultiert nur in einem umso größeren Aufschrei, wenn die Fakten zu Tage treten – und das tun sie immer. In Köln haben alle staatlichen Autoritäten versagt – die Polizei, die Bürgermeisterin, die Verwaltung, die Presse. Sie haben die Bürger belogen oder zumindest durch Unterlassungen getäuscht.

Samstag, 9. Januar, GAZETA WYBORCZCA:

Die Menschen fordern Konsequenzen – die Wut in Deutschland wächst. Zumal Populisten aus aller Welt über die Deutschen lachen und sagen, wer eine Million Flüchtlinge ins Land lasse, müsse mit den Folgen leben.

Samstag, 9. Januar, TAGES-ANZEIGER:

Deutschland wird künftig ehrlicher über die Schwierigkeiten und Gefahren debattieren müssen, die die Zuwanderung mit sich bringt, als bisher. Das Reden über Ausländer ist in diesem Land im internationalen Vergleich außergewöhnlich gehemmt.

Samstag, 9. Januar, DUMA:

Die Szenen am Kölner Dom haben zu einem Bruch mit dem bisherigen deutschen Tabu geführt, das Verhalten muslimischer Gemeinschaften öffentlich zu kritisieren. Auch den Tolerantesten wird immer klarer, dass die Flüchtlinge bei weitem nicht nur jene Mütter mit weinenden Kindern sind, die Fernsehsender uns monatelang als die Realität präsentierten.

Politische Korrektur führt zur Lüge. Politische Korrektur führt zum sogenannten Unwort „Lügenpresse!“ Und da wir gerade über aristotelische Tragik sprachen: Politische Korrektur führt zur Bundeskanzlerin Frauke Petry.

 

„Deutschland ist eine anatomische Merkwürdigkeit: Es schreibt links und tut rechts.“

(Kurt Tucholsky 1890-1935)

 

1.1.16 Serapion an Mephisto

Nur zur Erinnerung.

Und zur Verdeutlichung eines Verhaltensmusters.

Plötzlich brachen zeitgleich in Bosnien, Bulgarien und Serbien Aufstände gegen die Türkei los, und zwar unter exklusiver oder, um es deutlich zu sagen, unter alleiniger Beteiligung russischer „Freiwilliger“. Weil sich diese jählings von „panslawistischen“ Ideen getragen fühlten. Kann ja vorkommen. Am 24. April 1877 sah Rußland sich infolge der auch uns bekannten russischen Selbstlosigkeit veranlaßt, die spontanen Panslawisten zu unterstützen, und erklärte der Pforte den Krieg.

Merke: Diesmal ging es nicht um die orthodoxen Christen, sondern um die Panslawisten.

Nach zunächst schleppendem Beginn des Krieges fiel am 18. November die türkische Stadt Kars, am 15. Januar 1878 Philippopel und am 20. Januar Adrianopel, und für den Großfürsten Nikolaus, als Bruder des Zaren Oberbefehlshaber der russischen Truppen, stand die Einnahme Konstantinopels offen. Doch da mittlerweile der Gegenwind derart stark geworden war, daß selbst die russische Seite sein Blasen spürte, schreckte der Herr aller Reußen, der panslawistischen Hochherzigkeit zum Trotze, zurück. Denn obzwar Bismarck beherrschterweise tönte, der Balkan sei ihm nicht „die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“, drängte die Queen zum unbedingten Eingreifen und schrieb ihrem Premier Disraeli: „Oh, wäre die Königin ein Mann, sie würde hingehen und diese Russen, deren Worten man nicht trauen kann, gehörig verprügeln!“

Die Dame mißtraute russischen Worten aus irgend einem Grund.

Mehrmals drohte sie sogar abzudanken, wenn Disraeli seine von ihr als zu lasch empfundene Haltung Rußland gegenüber nicht unverzüglich ändere: „Wir werden nie wieder Freunde sein, ehe das nicht geschieht! Dessen ist die Königin sicher!“

Also zwangen die Russen, kraft ihrer derzeitigen Wassersuppe, dem Osmanischen Reich am 3. März 1878 das zufälligerweise maßlose Abkommen von San Stefano auf. Enthaltend beispielsweise ein übergroß bis an die Adria aufgequollenes und unter russischer Hegemonie stehendes „unabhängiges“ Bulgarien, dem eine zweijährige russische Besatzung zugedacht war für den Anfang. Außerdem wurde die Türkei zur Abtretung weitläufigster Gebiete an Rußland und zur Zahlung einer hohen Entschädigung gezwungen. Bolschoi, bolschoi.

Damit sollte der 8. russisch-türkische Krieg nun „panslawistisch“, also russentümlich, beendet werden. In seinem landnehmerischen Streben hatte Zar Alexander II. jedoch die übrige Welt, die sich durch den spontan zuschlagenden Panslawismus damals nicht für dumm verkaufen lassen wollte, zufälligerweise befremdet, zumal zuvorige Abkommen dreist gebrochen worden waren: Trallala, Pakte sind zum Brechen da, wenn sie sehr im Wege. Österreich verständigte sich mit England, das nun endgültig bereit war, zugunsten der Türken einzutreten.

Die allgemeine Kriegsgefahr wuchs.

Zur Entspannung schlug der österreichisch-ungarische Außenminister Gyula Andrássy im letzten Moment eine Konferenz vor. Zar Alexander wähnte in Deutschland genügend Versteher zu finden und setzte sich ein für Berlin als Ort der Tagung. Welche nach einmonatigem Tagen vom 13. Juni bis zum 13. Juli 1878 endete und, wir erinnern uns, als Berliner Kongreß Geschichte machte.

Im Auftrag der Stadt Berlin schuf Anton von Werner ein Gruppenbild ohne Dame, also ein Gruppenbild der Kongreßteilnehmer. Wobei Fürst Bismarck extra darauf pochte, in versöhnlerischer Handreichung mit Graf Schuwalow konterfeit zu werden.

Graf Schuwalow war, Du ahnst es, der Bevollmächtigte Rußlands.

Denn die Russen reagierten arg verschnupft, Zar Alexander sogar wütend. Denn seltsamerweise hatte die übrige Welt eine ganz andere Weltsicht als die panslawistische. So daß beispielsweise Bulgarien stark verkleinert werden mußte und als autonomes Fürstentum nur lumpige neun Monate russisch besetzt gehalten werden durfte.

Stell Dir vor, anschließend sah der Zar den Kongreß als europäische Verschwörung gegen Rußland! Und die sogenannte Intelligenzija, also präzise gesprochen, die russischen Intellektuellen, pflichtete dem geschlossen bei. Und die russischen Zeitungen trommelten Tag für Tag und verteufelten Deutschland als Rußlands Feind. Und der entrüstete russische Kriegsminister ließ rüsten und rüsten und rüsten und das Heer verstärken. Und die Russen verlegten enorme Truppenverbände an die deutsche Grenze.

Derart immens, daß Bismarck sich tatsächlich überwerfen mußte mit Kaiser Wilhelm. Weil ein Verteidigungsbündnis mit Wien abzuschließen er sich gedrängt fühlte. Wilhelm war natürlich kein Sozialdemokrat, aber insofern Alexanderversteher, als er noch in nostalgischen Erinnerungen schwelgte an das Dreikaiserbündnis von 1873. Welches nun aber durch den Balkankrieg verunmöglicht worden war. Erst Bismarcks herbe Drohung, mit dem gesamten Ministerium zurückzutreten, und weil von Moltke, Kronprinz Friedrich und selbst die Kaiserin auf seiner Seite standen, brachte das endlich den Alten am 16. Oktober 1879 dazu, das Vertragswerk zu unterschreiben mit dem bemerkenswerten Bemerken: „Bismarck ist notwendiger als ich…“

Nun, wie alle übrige Welt wußte und weiß, hatte man in Deutschland überhaupt nicht die Absicht auf eine Feindschaft mit Rußland, geschweige denn auf einen kriegerischen Einmarsch. Und das russische, also das paranoide Gebaren, erschien damals tatsächlich irrational.