19. März 2020: Mephisto an Solon
Das ist ja alles schön und gut, daß Du die Anzahl der Musikstunden erhöhen willst, in Zeiten, in denen alle Welt sich für musikalisch hält, weil man sich tagsüber ständig bedudeln läßt. Über alle Lautsprecher auf sämtlichen Etagen in Kaufhäusern und sogar in „Super“märkten. Ich wundere mich schon immer, daß die Gewerkschaften nicht Sturm laufen gegen diese Vergewaltigung der Beschäftigten. Dieses Abschleifen jeglichen Geschmacks und musikalischen Empfindens Tag für Tag, Stunde für Stunde, vom Arbeitsbeginn bis zum Feierabend über all die Jahre des Berufslebens. Die hören doch gar nichts mehr, und das gilt als selbstverständlich.
Dieses Andressieren eines pawlowschen Reflexes.
Und die Kunden werden schon mal gar nicht gefragt, ob sie sich die Ware nicht lieber in Ruhe auswählen wollen. Das ruhige Nachdenken des Kunden liegt nicht im Geschäftsinteresse. Wenn ich mir ausbitte, die Lautsprecher abzuschalten, fällt man aus allen Wolken. Ich gelte als Exot.
Diese Angst vor der Stille!
Diese Angst vor den dann äußerlich unbeeinflußt heraufsteigenden Eigengedanken!
Viele sind dem völlig entwöhnt.
Viele sind dem nicht gewachsen.
Viele sind darauf trainiert worden, fremdbestimmt zu denken.
Beispielsweise durch halbverstandene rhythmisch vorgetragene Textbausteine.
Lebenslang!
Die werden verrückt, wenn alles still ist.
Was allerdings Deinen Vorschlag hinsichtlich der Beschränkung der logarithmischen Auswüchse des normalschulischen Mathe-Unterrichts anbelangt zu Gunsten eines wahrhaft musischen: Zumindest Exponentialfunktionen sollten schon drin sein im Standard. Dadurch könnte gerade in diesen Tagen jedermann sich unschwer zwei alternative Szenarien ausrechnen:
Nehmen wir einmal an, es bräche irgendwo auf der Welt eine Seuche aus. Vielleicht in einem Land, in welchem in Folge der Eßgewohnheiten seiner Eingeborenen ein Virus vom lebenden Wildtier überspringt auf einen Menschen. Und denken wir uns zwei Möglichkeiten der Ausbreitung: a) Der Viruswirt steckt am folgenden Tag zwei weitere Menschen an und jeder folgend Infizierte am jeweils nächsten Tag zwei weitere. Oder b), die Ansteckungsrate von Folgeinfizierten liegt mal bei zwei oder mal bei drei, und wir können sie durchschnittlich angeben mit 2,5. Dann ergeben sich innerhalb der ersten drei Wochen an Infizierten:
Am 1. Tag: 1
2. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 2
Bei 2,5facher Ansteckung: 3
3. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 4
Bei 2,5facher Ansteckung: 6
4. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 8
Bei 2,5facher Ansteckung: 16
5. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 16
Bei 2,5facher Ansteckung: 39
6.Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 32
Bei 2,5facher Ansteckung: 98
7. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 64
Bei 2,5facher Ansteckung: 244
8. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 128
Bei 2,5facher Ansteckung: 610
9. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 256
Bei 2,5facher Ansteckung: 1.526
10. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 512
Bei 2,5facher Ansteckung: 3.815
11. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 1.024
Bei 2,5facher Ansteckung: 9.537
12. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 2.048
Bei 2,5facher Ansteckung: 23.841
13. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 4.096
Bei 2,5facher Ansteckung: 59.604
14. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 8.192
Bei 2,5facher Ansteckung: 149.011
15. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 16.384
Bei 2,5facher Ansteckung: 372.529
16. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 32.768
Bei 2,5facher Ansteckung: 931.322
17. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 65.536
Bei 2,5facher Ansteckung: 2.328.306
18. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 131.072
Bei 2,5facher Ansteckung: 5.820.766
19. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 262.144
Bei 2,5facher Ansteckung: 14.551.015
20. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 524.288
Bei 2,5facher Ansteckung: 36.279.788
Und am 21. Tag:
Bei 2facher Ansteckung: 1.048.576
Bei 2,5facher Ansteckung: 90.949.470
Was bedeutet, nach drei Wochen wäre bei zweieinhalbfacher Ansteckungsrate ganz Deutschland infiziert.
Da heißt aber auch, wenn wir über den Zeitraum von drei Wochen die Ansteckungsrate um nur 1/5 senken könnten, verringerten wir die Zahl der Erkrankten um fast 99 Prozent. Und wenn wir realistischerweise dabei eine Mortalität annehmen von einem Prozent der gemessenen Infizierten, retteten wir damit 899.008 Menschen ihr Leben.
„Wenn ich manchmal all die verschiedenen Aufregungen der Menschen bedenke, und die Gefahren und Sorgen, denen sie sich aussetzen, am Hofe, im Kriege, aus denen so viele Streitigkeiten, Leidenschaften, kühne und oft böse Unternehmungen entstehen, entdecke ich, daß das ganze Unglück der Menschen nur von einer Sache herrührt, nämlich davon, daß sie es nicht fertig bringen, ruhig in einem Zimmer zu sitzen.“
Blaise Pascal (1623 – 1662): Pensées