A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Schlagwort-Archiv: Friedrich Nietzsche

Schöne neue Welt

 

3. Mai 2020: Bellarmin an Mephisto

 

Der 29. April 2020 hätte als historisches Datum eingehen können in die Geschichte des bundesdeutschen Journalismus. Gewissermaßen als Wendepunkt zurück zur alten Klasse.

Doch es darf leise geweint werden…

Stell Dir vor, an diesem Abend in der Tagesschau des ersten deutschen Fernsehens vermeldete man neben der Zahl der Neuinfektionen an Covid-19 zum ersten Mal deren Vergleich zur Zahl der Neuinfektionen des Vortages: 160. Völlig problemlos. Jene wichtige und viel bedeutendere Zahl als beispielsweise die der inzwischen Genesenen wurde ohne jeden zusätzlichen Aufwand fein übersichtlich in der tagtäglichen Deutschlandgrafik unter die Absolutzahlen der Infizierten und Neuinfizierten notiert, und man konnte völlig transparent und auf deutsch klar sehen: die Anzahl der Neuinfektionen im Vergleich zum Vortag war noch nicht gesunken, sondern um 160 Fälle angestiegen.

Inzwischen sinkt sie schon seit mehreren Tagen tatsächlich!

Doch das kannst Du weder klar noch transparent sehen. Denn das müßtest Du Dir erst wieder zu Fuß ausrechnen, indem Du Dir eigenhändig die Absolutzahl des Vortages merktest und mit der aktuellen Anzahl, also zur apgedäteten, die Differenz bildetest.

Verpaßte Revolution!

Aber ein schöner Zug war es immerhin, daß da jemand mal auf die abwegige Idee gekommen war, transparent zu denken.

Preisverdächtig!

Inzwischen ist die Differenz also tatsächlich ins Negative gedreht!

Doch glaube ja nicht, irgendeiner dieser Berufsunfähigen hätte den Wendepunkt einer Bemerkung für wert erachtet. Erst heute kommentierte man, die Zahl der Neuinfektionen sei unter 1000 gesunken.

Die Zahl 1000 ist nicht so wichtig. Das kleine Minuszeichen vor der Differenz der Neuinfektionen verändert die Welt!

Was? Das sei ein verzeihliches Symptom?

Das Sekundäre nicht zu unterscheiden vom Primat?

Ich bitte Dich, was soll das erst werden, wenn sich bei derartigen Vorbildern aus der Generation der derzeit Homskulingenden ein journalistischer Nachwuchs gerieren will?

Anderes Beispiel unter anderen: Oft wiederholt schon war der Satz zu vernehmen, man wolle das Programm, also die neue Äpp, zur Alarmierung bei Kontakten mit Corona-Infizierten auf einen freiwilligen Gebrauch beschränken. Das soll offenbar beruhigend wirken, um datenrechtliche Bedenken abzuschwächen. Denn es gibt daher natürlicherweise Einwände und Widerstände.

Und was lange bedacht wird, wird bedenklich! (Nietzsche).

Doch ich vermute, mit der gnadenhalben Beschränkung auf Freiwilligkeit soll, wie bereits mit der blödsinnigen Zulassung eines Schals vor dem Maule bei der Pflicht zur Maskierung beim Brotkauf oder der Busfahrt zum Arzt, von dem eigentlich primären Problem abgelenkt werden und wird bei dem derzeitigen Niveau unseres bundesdeutschen Journalismus erfolgreich davon abgelenkt. Welcher nun Woche um Woche brav über das vorgehaltene rote Tuch eines eventuell mangelhaften Datenschutzes debattiert. Nämlich der eigentliche Skandal bei einer gesetzlichen Pflicht für ein Programm zum Registrieren mitmenschlicher Kontakte hätte zur Voraussetzung den Erlaß eines Smartphonepflichtgesetzes wie etwa:

§ 1) Jeder Bürger ist gesetzlich verpflichtet, bei kontrollierbar ausreichender Akkuleistung im eingeschalteten Zustand ein Smartphone bei sich zu tragen.

§ 2) Jeder Bürger ist gesetzlich verpflichtet, sein Smartphone in einem technisch aktualisierten (apgedäteten) Geräte(Hartwär)- und Programm(Softwär)-Zustand zu erhalten, so daß eine Ortungs(Skän)-Funktionalität auch von Personenkontakten uneingeschränkt gewährleistet wird.

§ 3) Der Gesetzgeber behält sich im Bedarfsfall vor, das Betreten von Geschäften, öffentlichen Einrichtungen sowie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel abhängig zu machen von einem über das Smartphone jederzeit ausweislich vorzeigbaren Code.

Und wie bei der Verkündung einer Maskenpflicht könnte man in den bundesdeutschen Medien dann wieder Leute auf offener Straße einsätzig zitieren, die alle dafür sind und keiner ist dagegen.

Wie in der Deutschen Demokratischen Republik.

 

Sind die Briten dumm geworden?

 

31. März 2019: Bellarmin an Mephisto

 

Da geht mehr als die Hälfte dieser traditionsverstaubten Insulaner mit dem eigentümlichen Humor und der kuriosen Küche diesen erstunkenen und verlogenen Schauermärchen jener sattsam verschrienen Populisten auf den Leim! Wenn wir, schlichten Gemütes, unserer bundesdeutschen Berichterstattung Glauben schenken. Nach deren Logik die in ihrer Naivität anfänglich verführten Briten jetzt auch noch endgültig blöd geworden sind.

Das fing spätestens an, also da beschließen die tatsächlich mehrheitlich etwas Undenkbares bis dato, nämlich den überhaupt nicht im Regelwerk vorgesehenen Austritt aus der sogenannten Europäischen Union! Dann lehnen die sturköpfig den seitens der EU mit ihrer Regierungschefin mehrjährig ausgehandelten Austrittsvertrag ab! Und dann stellt man heute fest, trotz all der unsäglichen mehrjährigen Querelen nach dem Referendum und der als sicher geltenden Gefährdung der eigenen Wirtschaft und dem monatelang allseits sichtbar sich anbahnenden und steigernden Chaos, die Briten seien ein zutiefst gespaltenes Volk.

Was ja wohl bedeutet, daß nach alldem die Briten immer noch zur Hälfte blöd geblieben sind!

Und vielleicht sogar, als wüßten sie immer noch nicht Bescheid, erneut falsch abstimmen würden!

Ein stures Volk!

Doch halt!!

Gemach!

Jene Sichtweise, dieses stete Klassifizieren, dieses gegenwärtig so sattsam geübte Schieben in das verdammend beschriftete Schubfach, umgeht natürlich jedwede weitere, weil vielleicht unbequeme Erörterung.

Wir wollen es trotzdem versuchen, unseren Hirnschmalz etwas anzustrengen.

Also, wer weiß denn hier nicht Bescheid?

Ist es nicht erstaunlich, wie marginal bis überhaupt nicht die doch eigentlich essentielle Frage analysiert wird von den Kontinentalpolitikern und unseren Medien, die Frage nach den Gründen für den Austritt unserer doch als Pragmatiker bekannten britischen Freunde aus der sogenannten Europäischen Union?

Nur ab und an hörte man es raunen, die Briten hätten Einwände vorzubringen gegen die infolge von EU-Regeln forcierte Immigration in ihr Wirtschafts- und Sozialsystem.

Auch wird ihnen des öfteren nachgesagt beim bisweilen aufwallenden Brüten über der Briten grundlose Gründe, sie unterlägen irrationalen Phantomschmerzen. Sie fühlten sich immer noch als Weltmacht, hätten den Verlust ihrer Kolonien bis heute nicht verkraftet oder sich den auch nur eingestanden und vermöchten es deshalb nicht leiden, nachteilig in Abhängigkeit unbeeinflußbarer Brüsseler Gesetzgebung gefesselt dahinzuvegetieren, weil sie in freier Eigenmächtigkeit vorteilhafter klarkämen mit dem Handel und dem Wandel.

Die verführten Briten ließen sich nicht verführen, dem Euro beizutreten, dem „Katalysator für die Vervollständigung der europäischen Einheit“, samt seinem Euro-Stabilitätspakt und den Maastricht-Kriterien.

Und traten dem Schengener Abkommen nicht bei aus irgendwelchen Gründen.

Genauso wie sie beispielsweise sich immer wendeten gegen die von Frankreich seit den sechziger Jahren aus irgendeinem Grunde so uneigennützig verfolgte Idee einer gesonderten europäischen Armee.

Neben der Nato.

Ja und dann wäre da noch am äußersten Rande nebensächlich zu vermerken, daß die verführten Briten gewisse Einwände hegten bezüglich weiterer Bestrebungen hin zu einer politischen Union.

Hier war aber immer Schluß mit dem Gehen zu den Gründen, dem zu Grunde gehen, denn, wie Nietzsche schon warnte, was lange bedacht wird, wird bedenklich.

Und so wurde die Frage nicht mehr gestellt, geschweige denn erörtert:

Welche Einwände gegen eine politische Union sind das und warum?

Welche Einwände hegen die Briten gegen eine Politik mit Sinn für alles Gute und Schöne und der Taube auf dem Dach?

Weißt Du, ich kann mich aus diesem und aus so vielem anderen des verstörenden Eindrucks nicht erwehren, die heutige Generation der Politiker und Journalisten ist nicht mehr fähig zu tiefer gehender Analyse, nüchterner Erörterung und sachbezogener Debatte und weiß anscheinend nicht mehr, was das überhaupt ist. Alles läuft immer hinaus auf bloße Etikettierung („nationales Eigeninteresse“, „Nationalismus“).

Und damit meint man tatsächlich, wär’s getan!

Hinein ins Schubfach, zugeschoben und fertig!

Permanenter Überzeugungstransfer (unsre Meinung ist die rechte!) statt Problemanalyse.

Geschweige denn Problemlösung.

Die Nachkriegsgeneration europäischer Politiker war da etwas anders.

Es war einmal…

Doch solltest Du inzwischen meinen, schlimmer ginge es nimmer, glaube mir, das bisherige war nur das Präludium, und erst jetzt komme ich zum Eigentlichen des Trauerspiels, zum Archetypischen heutigen Politikverständnisses, bei dem die Akteure ja tatsächlich der Lexik huldigen, „Kompromiß“ wäre synonym mit „Lösung“.

Nein, in der Weltgeschichte, wenn man sie denn kennte, existieren tatsächlich Probleme, da gibt es nur ein Entweder oder ein Oder, und man muß zu Potte kommen und sich entscheiden zwischen schwanger und nicht schwanger.

Und zwar zuvörderst. Vor allem weiteren. Sonst entbehrt die übrige Fleißarbeit ihres Sinnes.

Also der Vertrag, das Abkommen, die Vereinbarung, also der Diel zwischen Großbritannien und der sogenannten Europäischen Union…

Denn bei allem was man erfuhr, kreist die Welt, zumindest die europäische, nun seit Wochen und Monaten um den ausgeklammerten und, welch Zufall, den wichtigsten und, welch Zufall, nach Wesensart heutiger Kompromißpolitik verschobenen Kasus Knacktus: All die demokratieschädigenden Eiertänze des mit einer historischen Ungeheuerlichkeit unwürdigen Affentheaters der vergangenen Wochen verdanken wir der leidigen irischen Grenzfrage.

Weil deren unerledigte Behandlung in dem Diel das gesamte Abkommen für die Briten tatsächlich unannehmbar macht!

Eine Regierung und ein Parlament, welche einem derartigen Abkommen zustimmten in der vorliegenden Form mit einer für die pragmatischen Briten unbeeinflußbaren Sankt-Nimmerleins-Vertagungs-Klausel, verdienten Verjagung aus dem Amt, im mildesten Fall.

Vielmehr müßten sie angeklagt werden wegen Landesverrats!

Und letztendlich macht Europa sich hier zur Geisel von Betonköpfen, also nordirischen Hartleinern, mir fallen sofort die unionistischen ein, und zur Geisel der Angst vor einem Wiederaufflammen des unsäglichen Terrors in Nordirland.

Darum ist nun einmal die einzige Lösung, wenn man denn eine „harte Grenze“ vermeiden und gleichzeitig raus will aus der Zollunion, die Verlegung der Grenze ins Meer.

Und nicht dieses unannehmbare Abkommen!

Man kann nicht alles haben, und wer A sagt, muß auch B sagen.

Und wenn das nicht, unter anderem wegen fehlender eingehender öffentlicher Debatte, durchzusetzen war im Vereinigten Königreiche der ehemaligen Pragmatiker, heißt alles andere und zwangsläufig inklusive des „harten Brexit“, wenn kein Wunder geschieht: „Harte Grenze“.

Die IRISH TIMES aus Dublin schrieb am 13. März (Hervorhebung von mir): „Für viele im britischen Unterhaus scheint die irische Grenzfrage ein Ärgernis zu sein, das durch Versprechungen von nicht-existierenden technischen Lösungen weggewünscht werden soll.“

Scheint nicht zu sein, sondern ist!

Und zu Recht!

Nicht aber die essentielle Tatsache erkannt zu haben, daß die Backstop-Garantie-Klausel das eigentliche Vertragsziel des Vertragspartners zunichte macht, ist das historische Versagen europäischer Politik.

Und das rächt sich bitter!

 

Der Mensch ward unvernünftig!

William Shakespeare (1564 – 1616)

 

Das Sein und das Bewußtsein

 

10. Januar 2019: Bellarmin an Mephisto

 

Der typische Knallkörperkäuferkopf zählt nach meiner Beobachtung zu den runden, ist als Vertreter männlichen Jenders schlecht rasiert und in seiner nördlichen Hälfte verhüllt von einer umgeschlagenen Wollmütze. Das Beinkleid des klassischen Knallkörperkäufers besteht aus einer Trainingshose, pardon, aus einer mit den unabdingbaren weißen Seitenstreifen gezierten „Jogginghose“. Die nicht dazugehörige Jacke ist dünn und wird schlenkrig offen getragen, so daß man sich vor dem Schwenkbereich des Knallkörperkäufers hüten sollte. Zumal in den Momenten, wenn der zur Gedrungenheit neigende Knallkörperkäuferkörper mit langstielig pyrotechnischen Knallkörpern in Händen sich von der Verkaufsauslage aufrichtet und, sei es aus voller Glückseligkeit, sei es aus tiefem Mißmut, in jedem Fall jedoch mit nicht zu vernachlässigendem Drehmoment in hastiger Plötzlichkeit und unbedacht jeglicher Wirkung auf Menschen in seinem unmittelbaren Schwenkbereich zu rotieren anfängt.

Wie ich Manfred Overeschs und Friedrich Wilhelm Saals Geschichtskalendarium „Droste Geschichtskalendarium. Chronik deutscher Zeitgeschichte. Politik – Wirtschaft – Kultur“ (Düsseldorf 1982 – 1986) entnehmen kann, sang man Heiligabend hundert Jahre vor unserer Spezies des gegenwärtigen Knallkörperkäufers das Lied „O Tannenbaum, o Tannenbaum, der Kaiser hat in d’n Sack gehauen!“ In München wurde die Schließung sämtlicher Betriebe bis hinter den Jahreswechsel verordnet. Wegen Knappheit an Kohlen. In Berlin besetzen Arbeiter einen Tag nach Heiligabend die Redaktion des SPD-Blattes „Vorwärts“ und veranlassen gewaltsam das Veröffentlichen eines „Roten Vorwärts“.

Selbigen Tages in Magdeburg gründet sich als Bund der Frontsoldaten der „Stahlhelm“.

Am 28. Dezember, also exakt hundert Jahre vor dem diesjährigen ersten Tag des Knallkörperverkaufs, marschierten die erste Freiwilligenverbände durch Berlin. Währenddessen nimmt der preußische Kultusminister den erst am 29. November 1918 verkündeten Erlaß über die Freiwilligkeit einer Teilnahme am Religionsunterrichts zurück. Wegen massiver Proteste seitens der Kirchen. Einen Tag später, es ist Sonntag, kommt es in Berlin vor dem Reichstag zu einer großen Kundgebung der SPD vereint mit den Linksliberalen gegen die „Blutdiktatur des Spartakus“. Schon im Monat davor hatten in Berlin die Soldatenräte verkündet, sämtliche Spartakisten „vor die Türe zu setzen“. Als Grund wurde angegeben: Wegen ständiger „Quertreiberei“. Und die deutsche Regierung hatte sich veranlaßt gesehen, die russische Forderung, in Berlin eine Regierung Liebknecht zu bilden, als unberechtigte Einmischung in deutsche Verhältnisse zurückzuweisen.

Hinzu kommt, am Nikolaustag 1918 hatte Adolf Abramowitsch Joffe, seines Zeichens sowjetischer Exdiplomat in Berlin, sogar erklärt, „finanzielle Kontakte“ zu USPD-Politikern geknüpft zu haben. Mit dem Zweck einer „Waffenbeschaffung“. Woraufhin der Vorwurf sein züngelndes Haupt erhob, die deutsche Revolution sei vermittels russischer Gelder befördert worden…

Denn, behauptet Nietzsche, wo das Vertrauen fehle, spräche der Verdacht.

Und warum sollten allein die Deutschen fähig sein, sich Revolutionen zu kaufen?

Jedenfalls einen Tag vor dem Jahreswechsel 1918/1919 treffen sich in Berlin Delegierte der spartakistischen Vereinigungen unter Teilnahme einer sowjetischen Delegation, zu deren Mitgliedern Karl Bernhardowitsch Radek zählt, und gründen die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands.

Und lehnen bei der Gelegenheit jegliche Beteiligung an Wahlen zur Nationalversammlung ab.

Am Tag nach Neujahr protestiert die deutsche Regierung in Moskau gegen die illegale Einreise Radeks. Der ja erst 1917 im plombierten Wagen mit Lenin nach Rußland expediert worden war. Und der nach 1920, als Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewisten, innerhalb der Komintern für den Ausbau und die Anleitung der Kommunistischen Partei in Deutschland verantwortlich zeichnen wird. Also der nämlichen KPD, die infolge russischer Anleitung und Vorgabe unter Thälmann die Sozialdemokraten zum Hauptfeind erklären und gemeinsam mit den Nationalsozialisten gegen die verhaßte Weimarer Republik streiken und marschieren sollte.

Silvester treten die Dadaisten George Grosz und die Gebrüder John Heartfield und Wieland Herzfelde der neuen kommunistischen Partei bei.

Am 5. Januar nehmen sich die Kommunisten prompt die Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn aus der USPD durch den preußischen Innenminister Eugen Ernst aus der SPD zum Vorwand für den „Ausbruch“ des sogenannten Spartakusaufstandes in Berlin, zur Beförderung der von den Bolschewisten herbeigesehnten „Weltrevolution“. Spontan werden schlagartig große Zeitungshäuser besetzt. Der „Vorwärts“ wird gezwungen, am 6. Januar als „Organ der revolutionären Arbeiterschaft von Groß-Berlin“ zu erscheinen, und ein „Revolutionsausschuß“ von „revolutionären Obleuten“ des Spartakusbundes und der USPD, unter ihnen Liebknecht, ruft auf zum Sturz der Regierung. Gleichzeitig stürmen Regierungstruppen jedoch das zwischenzeitlich von „Spartakisten“ besetzte Wolffsche Telegraphenbüro, während der Berliner Vollzugsrat die Absetzung des Polizeipräsidenten mit großer Mehrheit bestätigt.

In München gründet sich, als Vorgängerin der NSDAP, die Deutsche Arbeiterpartei und, es gibt tatsächlich Zufälle in der Geschichte, in Berlin beschwört der Dichter Dehmel vermittels einer pathetischen Rede seinen Glauben an ein „drittes Reich“.

Am 7. Januar besetzen „Spartakisten“ in Braunschweig, Dortmund, Düsseldorf, Halle, Nürnberg und Zwickau ebenso spontan wie in Berlin die Zeitungsredaktionen, richten eine Zensur ein und zwingen die „Düsseldorfer Nachrichten“ als „Rote Fahne vom Niederrhein“ zu erscheinen.

Wogegen zu ihrer Überraschung sämtliche Drucker Düsseldorfs in Streik treten…

Der Historiker Ernst Piper in seiner Biographie Rosa Luxemburgs („Rosa Luxemburg – ein Leben“) kommt zu dem richtigen Schluß:

„Die Massenbasis für ihre soziale Utopie war nicht vorhanden.“

Was ja wohl heißt: Die Menschen wollten das nicht.

Und gerade auch der Sieg der sogenannten Oktoberrevolution in Rußland ist, wenn man einmal undogmatisiert nachzudenken sich bemühen wollte, die exakte Widerlegung der marxschen These, daß das Sein das Bewußtsein bestimme: Hier triumphierte nämlich das ideologisierte Bewußtsein einer diszipliniert putschenden Parteiclique über das Sein eines nicht nur industriell rückständigen Landes.

In welchem das materielle Sein eben nicht revolutionsreif gewesen wäre im Gegensatz zu England.

Nach marxschem Sinnen.

Übrigens, am selben Tage, als die „Spartakisten“ in Braunschweig, Dortmund, Düsseldorf, Halle, Nürnberg und Zwickau ausgerechnet die Zeitungszentralen unter Zensur stellen wollen mit der offensichtlichen Absicht einer Bewußtseinsmanipulation, wird das gesellschaftliche Sein in Sachsen bestimmt an jenem 7. Januar 1918 durch das unter Strafandrohung stehende Verbot jeglichen Beheizens von öffentlichen Veranstaltungsräumen, Kinos, Kirchen und Theatern.

Wegen Kohlenknappheit.

Was mich natürlich an die Jahreswende in dem extremen Winter 1946/47, ein Kriegsende später, denken läßt.

So ist über den Heiligabend 1946 und die Folgetage in der Chronik beispielsweise zu lesen:

 

24. Dezember 1946, Dienstag

„Die Nachttemperaturen in Berlin betragen 15-20° minus.“

„General McNarney verkündet in Frankfurt/Main die Amnestie für nur nominelle Nationalsozialisten.“

„Die Berliner Bevölkerung erhält von den Militärregierungen Weihnachtssonderzuteilungen. Die Russen stellen 900000 Flaschen Wodka sowie größere Mengen Zucker und Mehl zur Verfügung; die Engländer liefern Süßigkeiten, die Amerikaner Trockenobst, Früchtekonserven, Fruchtsäfte und die Franzosen 100000 Flaschen deutschen Sekt und 3000 l Moselwein. Die Verteilung soll ohne Rücksicht auf die Sektorengrenzen erfolgen.“

„Die Enttrümmerung Berlins wird nach Ansicht von Fachleuten 25 Jahre dauern und 2,7 Mrd. RM kosten.“

„In Saarbrücken hebt die französische Militärregierung die Sperrzeiten auf.“

„Die gesamte Schiffahrt auf dem westdeutschen Kanalnetz ist durch den strengen Frost der letzten Tage zum Stillstand gekommen.“

„Das Treibeis auf dem Rhein nimmt zu, und verschiedentlich ist der Fluß schon bis zur Hälfte zugefroren. Von dem Stillstand des Schiffsverkehrs werden vor allem Lieferungen von Lebensmitteln, Kohlen und Düngemitteln betroffen.“

„In Leipzig wird eine Filiale der internationalen Buchzentrale in Moskau eröffnet, über die russische Literatur für die sowjetische Zone bezogen werden kann.“

 

27. Dezember 1946, Freitag

„Die amerikanische Militärregierung genehmigt die Sendung von Care-Paketen jetzt auch für die sowjetische Zone.“

 

28. Dezember 1946, Samstag

„In Hamburg werden z. Z. durchschnittlich pro Tag 20-30 Schwarzhändler verhaftet.“

 

31. Dezember 1946, Dienstag

„Um 18.00 Uhr tritt das vom amerikanischen Präsidenten Truman proklamierte offizielle Ende des Zweiten Weltkrieges in Kraft.“

„Josef Kardinal Frings predigt im Kölner Dom über das Gebot ‚Du darfst nicht stehlen‘. Er führt aus: ‚Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise durch seine Arbeit oder durch Bitten nicht erlangen kann.‘ Nach dieser Predigt macht das Wort ‚fringsen‘ als Ausdruck für ein unrechtmäßiges Aneignen von fremdem Eigentum seine Runde.“

„Von 9598952 Heimatvertriebenen in den vier Zonen und Berlin stehen 25,4% im Alter bis zu 14 und 10% zwischen 14 und 20 Jahren. In den Westzonen werden 5,5 Mill. Kinder und Jugendliche gezählt, die durch den Krieg ihr Elternhaus verloren haben. 4,75 Mill. davon stammen aus dem Osten. Aus den deutschen Ostgebieten, die unter polnischer Verwaltung stehen, sind in diesem Jahr 1635627 Deutsche ausgesiedelt worden. Seit Beginn der Aktion erfaßte die Aussiedlung 2091949 Deutsche. Beispiele der Aufnahme: Bayern hat in diesem Jahr 544100 Ostflüchtlinge und 1089860 Ausgewiesene aus der Tschechoslowakei aufgenommen.“

„Der Oberbefehlshaber der britischen Zone, Luftmarschall Sir Sholto Douglas, hat eine zeitweilige Unterbrechung in der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den polnisch verwalteten Gebieten in die britische Zone verfügt und begründet diese Unterbrechung mit der außerordentlichen Kälte in Mitteleuropa.“

„In der amerikanischen Zone sind in diesem Jahr durch deutsche Gerichte 419600 Personen und durch Militärgerichte 859536 Personen abgeurteilt worden.“

„Die drei westlichen Zonen haben über 30% ihrer Produktion von 1938 wieder erreicht (zum Vergleich: andere westeuropäische Staaten 90%).“

„Das Volkswagen-Werk hat im vergangenen Jahr 10020 VW hergestellt.“

„In Bayern werden 1946 2917 Radiogeräte gebaut. 630 wurden an politisch Verfolgte, 114 an die Militärregierung, 488 an andere Länder der amerikanischen Zone, 603 an Blinde und Schwerstversehrte, 437 an die Presse und Behörden verteilt. 645 verblieben bei den Firmen zum Tausch gegen Materialien.“

„Die aus der sowjetischen Zone gelieferten Briketts tragen die aufgeprägten Texte: ‚UdSSR 30 Jahre Säule des Friedens‘ oder ‚Arbeiter und Bauern der UdSSR bauen eine neue Welt‘.“

„Trotz aller Anstrengungen der Wohltätigkeitsorganisationen kommt in diesem Jahr in den Westzonen einschließlich Berlins nur ein Care-Paket auf 146 Personen. Durchschnittlich können 0,62 kg Lebensmittel pro Person ausgegeben werden.“

„Nach amtlichen Statistiken stehen jedem Deutschen an Wohnraum zu: In der britischen Zone 6,2 qm, in der amerikanischen 7,6 qm, in der französischen 9,4 qm. Über die sowjetische Zone liegen keine Angaben vor.“

Einer Tabelle ist zu entnehmen: Die Wochenlöhne der Industriearbeiter betrugen 1946 in der britischen Zone für Männer an die 40 RM und für Frauen um die 20 RM.

Und

„Im letzten Sommersemester waren etwa 73000 Studierende eingeschrieben, im ersten Nachkriegsjahr 1919 waren es 89160. Mit 6300 Studenten weist die Universität München die größte Hörerzahl auf. Etwa die zehnfache Anzahl von Abiturienten ist wegen des bestehenden Numerus clausus und der Entnazifizierungsbestimmungen nicht zugelassen worden.“

„In Berlin und der sowjetischen Zone erscheinen 81 Tageszeitungen (89 Wochenzeitungen und Zeitschriften), in der amerikanischen 65, in der britischen 159 und in der französischen 88. 1932 gab es in Deutschland 4705 Tageszeitungen mit 120 unterschiedlichen Richtungsangaben.“

„Die Anzahl der ortsfesten Kinotheater in den Westzonen und in West-Berlin beläuft sich auf 2125. In diesem Jahr wurden 300 Mill. Eintrittskarten verkauft, was einer jährlichen Besucherfrequenz von 6,5 pro Kopf der Bevölkerung entspricht.“

 

1. Januar 1947, Mittwoch

„Jakob Kaiser schreibt in der ›Neuen Zeit‹ den Leitartikel ‚Deutscher Weg 1947‘. ‚Wenn nicht alle Zeichen trügen, stehen wir am Beginn des Jahres, das Deutschland eine neue Einheit gibt.’“

„Adenauer erklärt in seinem Aufruf an seine Partei, kein christlich-demokratischer Politiker werde einen Friedensvertrag unterschreiben, in dem die Oder/Neisse-Linie anerkannt wird.“

„2,37 Mill. deutsche Gefangene befinden sich noch in alliiertem Gewahrsam, je zur Hälfte in westlichen und östlichen Lagern.“

„Die SED richtet Kreisparteischulen des Marxismus- Leninismus ein.“

„In Berlin brennen von den ehemals 86000 Gaslaternen wieder 12000.“

„In der französischen Zone wird das nächtliche Ausgehverbot aufgehoben. Deutsche Kraftwagen dürfen jedoch zwischen 22.00 und 05.00 Uhr nicht verkehren.“

 

2. Januar 1947, Donnerstag

„Aufgrund zunehmender Überfälle werden Fußgänger in Potsdam in den Abendstunden mit Polizeischutz begleitet. An bestimmten Sammelstellen und Straßenbahnhaltestellen versammeln sich Fußgänger, um in Polizeibegleitung entfernter gelegene Vororte zu erreichen.“

„Auf Anordnung der britischen Militärregierung richtet der Krupp-Konzern eine eigene ‚Abbruchs-Abteilung‘ ein.“

„Wegen Kohlenmangels werden die Weihnachtsschulferien in Bremen und Hamburg bis zum 14. Januar verlängert.“

 

4. Januar 1947, Samstag

„In Oslo wird mit der Versendung norwegischer Truppen nach Deutschland begonnen.“

„In Hamburg erscheint erstmalig die Zeitschrift ‚Diese Woche‘, konzipiert als deutsches Pendant der britischen ‚News Review‘. Die britischen Presseoffiziere fordern von dem Blatt: ‚Objektive Nachrichten, um der besseren Lesbarkeit willen mit Ursache, Ablauf und Wirkung.’“ ! ! !

 

5. Januar 1947, Sonntag

„In Nürnberg werden verstärkte Stromabschaltungen notwendig. Wechselweise im nördlichen und südlichen Stadtgebiet wird von 7.30 bis 11.30 Uhr und 13.00 bis 18.00 Uhr der Strom abgeschaltet.“

 

6. Januar 1947, Montag

„Erstmalig dürfen auf einer Pressekonferenz der amerikanischen Militärregierung im OMGUS-Gebäude in Berlin wieder deutsche Pressevertreter teilnehmen.“

„Das VW-Werk in Wolfsburg muß wegen Kohlenmangels stillgelegt werden; die Arbeitspause reicht bis zum 10. März 1947.“

 

Und natürlich ist auch eine Reminiszenz an die wichtige Jahreswende vor 70 Jahren wertvoll:

 

24. Dezember 1948, Freitag

„Nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes befinden sich in Frankreich und Nordafrika noch 24140 deutsche Kriegsgefangene, in Polen noch 40000, in Albanien etwa 1000.“

„Nach Angaben der Zeitung ‚Neues Deutschland‘ dienen mindestens 40000 ehemalige deutsche Soldaten als Fremdenlegionäre in Indochina.“

„Nach Angaben des Vorsitzenden der SED, Otto Grotewohl, befinden sich noch etwa 300000 Kriegsgefangene in der Sowjetunion. Nach Angaben des bayerischen Roten Kreuzes muß sich die Zahl der Kriegsgefangenen und Vermißten in der Sowjetunion jedoch auf mindestens 1,5 Mill. belaufen.“

„Viele Werke teilen Weihnachtsgratifikationen aus. Die Belegschaft der Kölner Klöckner-AG erhält als Weihnachtsgabe u.a. 3352,5 kg Fett und 19800 Tafeln Schokolade. Im Herbst 1948 beschaffte das Werk 34000 Ztr. Einkellerungskartoffeln für die Belegschaft, die zu 5,70 DM/je Ztr. verrechnet wurden. Der Preis lag damit um 60 Pf unter dem festgesetzten amtlichen Preis.“

 

25. Dezember 1948, Samstag

„Das Leipziger ›Börsenblatt‹ ehrt in einem mehrspaltigen Artikel in Stalin den ‚Wissenschaftler und Schriftsteller‘.“

 

26. Dezember 1948, Sonntag

„Während der bisherigen 6monatigen Luftbrücke wurden 96640 Flüge nach Berlin durchgeführt. In dieser Zeit konnten 700172 t Ware nach Berlin gebracht werden. Insgesamt gingen neun Flugzeuge durch Absturz verloren, dabei waren 26 Todesopfer zu beklagen.“

 

29. Dezember 1948, Mittwoch

„Im ‚Neuen Deutschland‘ stellt Walter Ulbricht den ‚Übergang zur Volksdemokratie in der sowjetisch besetzten Zone‘ in Abrede.

Ulbricht erklärt ferner im ‚Neuen Deutschland‘: In der Westpresse wird ‚behauptet, auf der Halleschen Kreiskonferenz der Bauern sei von der Kollektivierung der deutschen Landwirtschaft gesprochen worden. Diese Meldung ist von Anfang bis Ende erlogen. Niemand wird gegen die Großbauern vorgehen.’“

 

31. Dezember 1948, Freitag

„In seiner Silvesteransprache im NWDR erklärt Ernst Reuter über die Lage in Berlin u.a.: ‚Dunkel sind die Abende, kalt sind die Wohnungen, und was das Allerschlimmste ist, wir sind abgeschnitten von jeder Berührung mit der Außenwelt.’“

„Das Evangelische Hilfswerk für Kriegsgefangene und Internierte hat im vergangenen Jahr mehr als 210000 Briefe, Pakete und Bahnsendungen an deutsche Kriegsgefangene in aller Welt verschickt. In mehr als 1600 Fällen konnte das Hilfswerk die Angehörigen von in Kriegsgefangenschaft verstorbenen Deutschen benachrichtigen. Nach britischen Berichten hat sich der durchschnittliche Gesundheitszustand der aus der Sowjetunion heimkehrenden deutschen Kriegsgefangenen in den letzten Monaten verschlechtert.“

„Nach britischen Angaben sind bei Kriegsende 3730995 deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion gewesen. Diese Aussagen beruhen auf in London gesammelten russischen Heeresberichten. Nach den Akten des Viermächtekomitees in Berlin sind bis zum 1. März 1948 erst 252395 deutsche Kriegsgefangene aus der Sowjetunion heimgekehrt; daraus ergibt sich, daß gegenwärtig 3478600 deutsche Soldaten aus der Sowjetunion noch nicht zurückgekehrt sind; die meisten sind jedoch zu diesem Zeitpunkt vermißt oder verstorben. Seit März 1946 bis zum Jahresende 1948 sind über 104000 ehemalige Kriegsgefangene nach Berlin (West) zurückgekehrt. Wie das Hauptsozialamt des Magistrats mitteilt, kamen davon 43259 aus dem Osten.“

„Während der FDGB am 1. Mai 1948 in Großberlin etwa 600000 Mitglieder hatte, sind es Ende 1948 nur noch 403000. Die ausgetretenen Mitglieder haben sich überwiegend in der UGO zusammengeschlossen, obwohl sie im Sowjetsektor Berlins nicht zugelassen ist.“

„Im Jahre 1948 flüchteten etwa 150000 Menschen aus der sowjetischen Zone nach Westdeutschland.“

„In Berlin gibt es 113000 Arbeitslose und 67000 Kurzarbeiter. Aufgrund der Blockade mußten von 62500 Betrieben 5712 stillgelegt und 10480 auf Kurzarbeit umgestellt werden.“

„Der Vollhauer-Durchschnittslohn im Ruhrbergbau beträgt im Jahresdurchschnitt 10,96 DM/je Schicht.“

„Im VWG erhält der Normalverbraucher 1800 Kal. pro Tag; davon werden 1100 durch die Inlandsproduktion gedeckt (1947: 700 – 800 Kal.). 300 – 400 Kal. werden als zusätzliche Erwerbsmöglichkeit pro Kopf und Tag geschätzt.“

„1 US-Dollar kostet 3,70 DM, 1 Paar Damenstrümpfe 10,- DM. Die Berliner Wechselstuben verkaufen 1 DM (West) für 3,50 DM (Ost).“

„Die Realeinkommen der Industriearbeiter der Bizone liegen bei 67% des Standes von 1938.“

„1948 ist das Rekordjahr der Scheidungswelle. In den drei Westzonen kommen auf 100000 Einwohner 186 Scheidungen; noch 1950 werden nur etwa 60% der gesamten bundesdeutschen Bevölkerung in ‚vollständigen Familien‘ leben.“

„In den Westzonen erhöht sich die Zahl der Kinotheater im Laufe des Jahres auf 2975. Die jährliche Besuchsfrequenz erreichte 9,1 pro Kopf der Bevölkerung. In den Westzonen Deutschlands werden im Laufe des Kalenderjahres 23 Filme uraufgeführt.“

„Die Besucherzahl der Kinos in der sowjetischen Zone ist 1948 gegenüber den Vorjahren gesunken. Vor allem der russische Film hat bei einem Besucherdurchschnitt von 30-40% bei Jahresanfang einen Stand von 10-15% am Jahresende erreicht. Lediglich politisch untendenziöse Filme wie ›Steinerne Blume‹ oder ›Wolfsblut‹ sind erfolgreich.“

„In Deutschland waren Ende 1948 bei den einzelnen Oberpostdirektionen rd. 9,8 Mill. Rundfunkhörer angemeldet. In der britischen Zone sind es 3550000, in der amerikanischen 2435000, in der französischen 600000 und in der sowjetischen 2500000. Berlin hat 730000 Hörer.“

 

1. Januar 1949, Samstag

„Der Urlaub für Bergarbeiter wird um 60% erhöht.“

„Jeder Erwerbstätige im Raum der drei westlichen Zonen wird im Jahr 1949 etwa 200 DM für die Deckung der Besatzungskosten zahlen.“

„Für den Monat Januar beträgt die Ration für Normalverbraucher: 11000 g Brot, 1625 g Nährmittel, 500 g Fleisch, 800 g Fisch, 625 g Fett, 125 g Käse und 1500 g Zucker.“

„Die Post eröffnet den Fernsprechdienst mit Finnland. Im Laufe des Jahres wird der Sprechdienst mit weiteren 46 Staaten der Welt (am 23. Dezember 1949 zuletzt mit den Philippinen) wieder aufgenommen.“

„Zur Aufhebung von kriegsbedingten Beleuchtungsvorschriften dürfen in der Bizone Kraftfahrzeuge nur noch mit 2 funktionierenden Scheinwerfern und roten Rückleuchten fahren, Motorräder müssen mindestens 1 Scheinwerfer und 1 Rücklicht haben, Pferdefuhrwerke müssen mindestens zwei weiße Lampen vorn und 1 rote Lampe hinten haben.“

„Das seit 19. Dezember 1947 geplante ‚Forschungsinstitut für den wissenschaftlichen Sozialismus‘ der SED nimmt seine Arbeit auf.“

 

3. Januar 1949, Montag

„Ernst Reuter, Oberbürgermeister von Berlin (West), fordert vor der SPD die Eingliederung Berlins in den vorgesehenen westdeutschen Staat.“

„In Berlin nimmt die ‚Zentrale für politische Ostzonenflüchtlinge‘ ihre Arbeit auf.“

„Die organisatorische Trennung der KPD der drei Westzonen von der SED findet statt. Die zuvor, am 27. April 1948, beschlossene Umbenennung der KPD in ‚Sozialistische Volkspartei Deutschlands‘ wird von den Militärregierungen in den Westzonen nicht genehmigt. Die offizielle Lösung der KPD von der SED findet in Frankfurt/Main statt.“

„Der Parteivorstand der KPD gibt in Düsseldorf seine organisatorische Trennung von der SED bekannt, um die ‚besonderen Kampfbedingungen in Bizonien‘ besser erfüllen zu können.“

„Auf Befehl der SMAD muß der Landesvorstand Brandenburg der Sowjetzonen-CDU allen Angestellten kündigen, die in einem der Berliner Westsektoren wohnen.“

„Der erste Fruchtdampfer seit 1939 ist im Hamburger Hafen mit 41600 Kisten Zitronen und Apfelsinen eingetroffen.“

 

4. Januar1949, Dienstag

„Über 150 Flüchtlinge aus der sowjetischen Zone melden sich bei der Eröffnung einer vom verfassungsmäßigen Berliner Magistrat eingerichteten ‚Ostzonenflüchtlingsfürsorgestelle‘.“

„Auf sowjetischen Befehl werden alle im Postamt 17 im Sowjetsektor Berlins eingetroffenen Auslandspakete für Westberliner Empfänger beschlagnahmt. Personen, die ihre Sendung bereits erhalten haben und sich noch im Schalterraum aufhalten, müssen ihre Sendung wieder zurückgeben. Ein Angestellter des Postamtes erklärt, daß Pakete an Westberliner nicht mehr ausgeliefert werden.“

 

5. Januar1949, Mittwoch

„Im RIAS starten die ‚Insulaner‘ ihre bekanntgewordenen Funkkabarett-Sendungen. Das Leitmotiv ihrer Programme ist: ‚Der Insulaner verliert die Ruhe nicht‘.“

 

8. Januar 1949, Samstag

„200. Tag der Berliner Luftbrücke. Vom 14. Dezember bis zum 4. Januar 1949 wurden täglich im Durchschnitt 1626 t Lebensmittel nach Berlin geflogen. Im November waren es im Tagesdurchschnitt 1128 t. Die Gesamtmenge der über die Luftbrücke nach Berlin beförderten Lebensmittel betrug zwischen dem 28. Juni 1948 und dem 4. Januar 1949 227314 t.“

 

Also, gesundes neues Jahr!

 

EU am Beispiel Glyphosat

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17. November 2017 – Bellarmin an Mephisto

Was viel bedacht wird, wird bedenklich“, meinte Nietzsche, bevor er wahnsinnig wurde und ohne noch die zuverlässigste Freundin ihrer Feinde, die Wolltemalundkonntenicht-Gesellschaft, die sogenannte Europäische Union, überhaupt zu kennen. Und vielleicht erinnerst Du Dich. An das brüsselokratische Theater vor anderthalb Jahren. Am 20. Mai 2016 schrieb ich Dir über das jeglichem echten Journalisten mit hochgehaltenem Pressekodex doch eigentlich verdächtig erscheinen müssende Procedere im Hinblick auf die vehementen Versuche, das Pestizid Glyphosat weiterhin langjährig durchzudrücken:

Da tagte man also, und die ersten Berichte unseres modernen Journalismus vermeldeten zerknirscht, es habe sich keine Mehrheit für eine Verlängerung gefunden. Wenn man nun arglos und demokratiegläubig, also vergeßlich wäre, hätte man folgern können, na bitte! Die Fachleute haben entschieden und des Giftes Verwendungsdauer um weitere neun Jahre nicht zugestimmt.

Weit gefehlt!

Plötzlich erfährt man, es sei noch überhaupt nicht abgestimmt worden! W E I L eine Mehrheit für eine Verlängerung der Verwendungsdauer sich noch nicht habe absehen lassen!

Und eine Mehrheit dagegen auch noch nicht.

Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich. Denn dieser verdammte dumme Stammtischlaie mit seinen einfachen populistischen Antworten hatte ja nun angenommen, Demokratie hieße, daß man sich am anberaumten Termin zum Zwecke der Abstimmung zusammenfinde und abstimme zu einer eindeutig formulierten Frage, etwa: Wer ist denn für die Verlängerung der sogenannten Nutzungsdauer des Giftes?

Wer ist dagegen?

Und da anstelle jenes mysteriösen N O C H von einem Patt nirgends nicht die Rede war, und bei jeder halbwegs intelligenten Regelung eines demokratischen Abstimmungsmodus, noch dazu unter Berücksichtigung von Bevölkerungszahlen, man sich sehr viel Mühe geben müßte zu einer Pattherbeiführung, wäre die Sache somit entschieden.

Stattdessen jenes bizarre N O C H.

War jemand an der Teilnahme verhindert? Standen auf dem Weg nach Brüssel die entscheidenden Bevölkerungsteile im Stau?

Ominöserweise ist allerdings die Rede, wenigsten von einigen unserer modernen Journalisten – fast müßte man sie wenigstens dafür loben, wenn einen die permanente Abwesenheit ihrer Fragen, von kritischen Fragen erst gar nicht zu reden, nicht so sehr schmerzte – ominöserweise ist allerdings die Rede, wenn man genau hinhört, von Feststellungen. Man habe vorher durchgezählt und festgestellt, daß eine Mehrheit für die Verlängerung des Gifteinsatzes N O C H nicht zustande käme. Und mit diesem Grunde die Abstimmung verschoben und sich vertagt.

Ach so… Brüsseler Demokratie. Man wartet N O C H auf ein genehmes Ergebnis.

Man muß es sich vorstellen: Ein Nein bei der sogenannten Entscheidungsfindung wird überhaupt nicht akzeptiert! Und nicht ein Journalist unserer öffentlich rechtlichen Medien, ausgestattet mit Berufsethos und Pressekodex, den ich dieserhalb mit einer erstaunten Frage hörte!

Und auch: Warum kam keine Mehrheit zustande? Welche Länder waren denn dagegen? Welche Gründe nannte man?

Von einer kritischen Erörterung gar nicht zu reden!

Und könnte es nicht sein, daß nicht nur jene unsäglichen Verschwörungstheoretiker auf den Gedanken kämen, hier habe ein gewisser Konzern namens Monsanto im Zusammenspiel mit landwirtschaftlichen Lobbyverbänden die „Europäische Union“ gekapert?

Wäre es nicht reizvoll, solcherlei Untersuchungen nicht nur lobenswerten Privatpersonen und Nichtregierungsorganisationen zu überlassen? Sondern diese mit allen professionellen Möglichkeiten, Erfahrungen, Verbindungen nebst handwerklichem Können zu unterstützen?

Muß man denn diese Leute immer erst zum Jagen tragen?

Also verschob man die „Entscheidung“ um anderthalb Jahre auf den 15. Dezember 2017, damit „für die Zulassung“ eine qualifizierte Mehrheit zustande käme.

Jenes Unterfangen einer „Entscheidung für die Zulassung“ wurde im Juli diesen Jahres wieder aufgenommen.

Nun ging es um die Suche nach einer „qualifizierten Mehrheit“ „für eine Zulassung“ in den nächsten zehn Jahren….

„Qualifizierte Mehrheit“ heißt, mindestens 16 Mitgliedsstaaten, die 65 Prozent aller EU-Bürger repräsentieren, müßten dafür stimmen, Glyphosat auf europäischen Äckern weiter einzusetzen.

Inzwischen hatten Bewertungen der Europäischen Chemikalienagentur ECHA und der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA eine „Entscheidung für die Zulassung“ des von der Internationalen Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuften und in Kalifornien auf der Krebsliste stehenden und in Italien im Urin von Schwangeren nachgewiesenen Herbizids möglich machen sollen. Der Toxikologe Peter Clausing, der die Bewertungen der Gutachten sich genauer ansah, spricht hierbei jedoch von „kapitalen Fehlern“:

Sie liegen falsch, weil sie ihre eigenen Regeln missachtet haben, weil sie existierende Dosisabhängigkeit bei den Studien negieren, weil sie die Wiederholbarkeit der Befunde gleichen Typs bei verschiedenen Studien abstreiten, obwohl sie nachweisbar sind, und weil sie sogenannte ‚historische Kontrollen‘, die sie in gravierend falscher Weise anwenden, ins Feld führen, um die existierenden Befunde abzuschwächen und zu negieren.“

Und merkwürdigerweise tendenziös: Die Datenlage sei zugunsten von Glyphosat verändert worden.

Da die Behörden so eindeutig im Sinne der Industrie argumentiert haben, ist unser Verdacht, dass sie politischen Vorgaben gefolgt sind“, sagt Heike Moldenhauer vom BUND.

Und die Politik folgte wohl kommerziellen Vorgaben. Nach Erkenntnissen einer Nichtregierungsorganisation für die Lobby-Kontrolle in Brüssel, der „Corporate Europe Observatory“, wirkten europäische Glyphosat-Hersteller an der Schlußfassung des Berichtes der EFSA mit.

Am 19. Juli wurde gemeldet, die EU-Staaten hätten wiederum nicht über die Zulassung entschieden. Und die „Entscheidung für die Zulassung“ bis nach der Bundestagswahl in Deutschland verschoben…

Zehn Tage später in der Chronik der in deutschen Medien im wesentlichen unerörterten Ereignisse entzog das Europaparlament plötzlich auf Antrag der Grünen den Lobbyisten des US-Konzerns Monsanto die Zugangsausweise zum Europäischen Parlament! Weil diese der Einladung zu einer Anhörung nicht nachgekommen waren aus irgendeinem Grunde.

Wie wäre es denn, wenn öffentlich rechtliche Medien Lobbyisten bisweilen zu kritischen Anhörungen lüden?

Und eigenständig recherchierten über deren Machenschaften und Machinationen?

Nun gut, wir wollen sie nicht mit weltfremden Ideen überfordern, unsere stolzen Journalisten.

Und immerhin, nachdem eine europäische Bürgerinitiative mit 1,1 Millionen Unterschriften für das Verbot von Glyphosat eine Anhörung im EU-Parlament und eine Stellungnahme der EU-Kommission erzwungen hatte, sendete der Deutschlandfunk am 5. Oktober ein sehr bemerkenswertes, wenn auch freilich ebenfalls im weiteren nicht diskutiertes und demnach trotz seines Brisanz folgenloses Interview mit dem Plagiatsforscher Stefan Weber:

Stefan Römermann: Über die Gefährlichkeit des Pestizids Glyphosat wird seit Jahren erbittert gestritten. Ist es nun krebserregend oder nicht? Ein langes ausführliches Gutachten des Bundesinstituts für Risikobewertung kam zum Schluss, dass das Mittel nicht gefährlich sei. Doch im vergangenen Monat wurden Vorwürfe laut, dass das Institut ganze Kapitel eins zu eins aus einem Antrag des Glyphosat-Herstellers Monsanto abgeschrieben haben soll.

Im Auftrag der österreichischen Umweltorganisation „GLOBAL 2000“ hat sich der Plagiatsforscher und Gutachter Stefan Weber die entsprechenden Passagen genau angeschaut und untersucht. Ihn habe ich vor der Sendung gefragt, ob im Text die übernommenen Passagen ausreichend gekennzeichnet wurden.

Stefan Weber: Es gab gar keinen Hinweis. Im Gegenteil! Es gibt sogar ein Kapitel von den drei Kapiteln, die ich mir jetzt genau angeschaut habe: das Kapitel über Genotoxizität, bei dem es um Fragen zur Erbgutschädigung durch Glyphosat geht. Und dieses Kapitel hat einen Autor, den Larry Kier. Larry Kier ist ein Toxikologe, der früher bei Monsanto mitgearbeitet hat und nunmehriger Consultant von Monsanto ist.

Römermann: Das Institut hat wirklich komplett von Monsanto abgeschrieben, sagen Sie?

Weber: Absolut! Und den Larry Kier als Originalautor, auf den ja der Ausgangstext, der Antrag der Glyphosat Task Force in Fettschrift hinweist – „das folgende Kapitel stammt von Larry Kier“ -, dieses Kapitel wiederum wurde von Larry Kier auch gemeinsam mit einem Co-Autor im Jahr 2013 publiziert in einem wissenschaftlichen Journal, und dieser Text findet sich eins zu eins ohne Quellenangabe Larry Kier im Bewertungsbericht.

Römermann: Jetzt stellt sich die Frage: Gelten denn die Regeln für wissenschaftliche Praxis – die zitieren Sie auch immer wieder -, die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis auch wirklich in diesem Fall? Das Bundesinstitut für Risikobewertung, das schreibt ja keine Dissertationen.

Weber: Die Frage ist zu bejahen, aus zwei Gründen. Erstens: Das Bundesinstitut für Risikobewertung bekennt sich selbst auf der eigenen Webseite zu diesen Richtlinien zur guten wissenschaftlichen Praxis, also nicht nur zur guten Laborpraxis, sondern auch zur guten wissenschaftlichen Praxis, und schließt damit Plagiat aus und bekennt, eigenes von fremdem geistigen Eigentum unterscheiden zu müssen.

Römermann: Aber Sie sagen, auf der anderen Seite sagt das Bundesinstitut auch, dass es üblich sei, in solchen Bewertungsverfahren Textpassagen nach kritischer Prüfung auch zu übernehmen. Konnten Sie das nachvollziehen?

Weber: Nein, weil ich muss ja auch die kritische Prüfung dann dokumentieren. Und die kritische Prüfung ist ja nicht damit dokumentiert, dass ich etwas mit „copy pasted“ übernehme. Genau dann muss ich ja schreiben als Bundesinstitut, nur dann ist es ja seriös und verstößt nicht gegen die gute wissenschaftliche Praxis: „Wir geben im Folgenden ein Kapitel zur Genotoxizität von Larry Kier wieder. Wir haben dieses Kapitel sorgfältig überprüft und kommen zu exakt denselben Ergebnissen.“

Römermann: Wenn man so etwas schreiben würde, dann wäre es in Ordnung. Aber so, wie es hier gelaufen ist, ist es nicht in Ordnung?

Weber: Genauso ist es. Aber auch dann, wenn so eine Passage in so einem Bewertungsbericht vorkommen würde und man exakt zu denselben Schlussfolgerungen kommt, würde das entweder heißen, was ja nicht auszuschließen ist, dass die Glyphosat Task Force sehr präzise, sehr genau gearbeitet hat, somit das Bundesinstitut für Risikobewertung hier keinen Fehler fand und keine Abweichung fand. Das ist ja nicht auszuschließen. Nur: Im Sinne der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit und der guten wissenschaftlichen Praxis muss genau das im Bewertungsbericht drinstehen.

Römermann: Was bedeutet denn so ein Plagiat nach Ihrer Erfahrung für die Beschäftigung mit dem Inhalt? Kann man denn jemand, der über so viele Stellen, ich sage mal, abschreibt, tatsächlich noch abnehmen, dass er sich auch wirklich damit auseinandergesetzt hat?

Weber: Das ist ja auch das Problem. Das wissen wir damit nicht mehr. Jetzt kann man natürlich sagen, wenn jemand einfach nur einen Text mit „copy pasted“ übernimmt und schreibt, ich schließe mich den folgenden 35 Seiten voll inhaltlich an und die Seiten werden in Kursivschrift wiedergegeben, kann es natürlich auch sein, dass er sich nie mit dem Inhalt auseinandergesetzt hat. Deshalb sagt ja auch die Rechtsprechung, dass eigentlich die seitenweise zitierte Übernahme von Texten auch wissenschaftlich problematisch ist.

Römermann: Wir sprechen hier über ungefähr 50 Seiten aus einem Gutachten von ungefähr 4.000 Seiten. Ist das wirklich entscheidend? Stößt das die Erkenntnisse dieses Gutachtens wirklich komplett um?

Weber: Das ist absolut entscheidend. Es sind genau 103 Seiten von 4.322 Seiten, die überprüft wurden. Die Bewertungen der wissenschaftlichen Studien in Bezug auf Erbgutschädigung, Krebserzeugung und Fruchtbarkeit wanderten wiederum als Textsegmente in die anderen Kapitel mit ein. Das habe ich schon rekonstruiert. Es geht hier nicht um irgendwelche Randkapitel; es geht hier um eine sehr zentrale Fragestellung und es geht darum, noch mal zusammenfassend, dass die Bewertungen der Glyphosat Task Force letztlich von Monsanto und anderen Herstellern hier wortwörtlich unzitiert in diesem Bericht wieder auftauchen und damit der Leser nicht mehr weiß, was war jetzt in diesem Kapitel noch die Eigenleistung des Bundesinstituts für Risikobewertung.

Römermann: Der österreichische Plagiatsforscher Stefan Weber über ein umstrittenes Glyphosat-Gutachten des Bundesinstituts für Risikobewertung.

Nach den ebenfalls in deutschen Medien kaum gewürdigten, geschweige denn erörterten Ergebnissen und Folgen jener Bürgerinitiative kamen die Dinge auf der europäischen Ebene endlich ins Rollen und Rutschen. Der Umweltausschuß des Europäischen Parlaments verständigte sich darauf, daß es keinerlei Verlängerung geben solle. Nachdem das Europaparlament eine Verlängerung bis höchstens 2022 gefordert hatte, sprach sich selbst die EU-Kommission dafür aus, die Genehmigung nur noch um fünf bis sieben Jahre zu verlängern. Man folge der Risiko-Einschätzung des Parlaments, erklärte ein Kommissionssprecher in Brüssel.

Insgeheim hoffte man wohl, statt der zehn wenigstens sieben Jahre durchsetzen zu können. Jedoch am 25. Oktober mußte eine weiteres Mal die „Entscheidung für eine Verlängerung“ verschoben werden. Was heißt: Da eine Zustimmung bei der Abstimmung absehbar wieder nicht zustande kam, wurde wiederum nicht abgestimmt:

Eigentlich wäre eine Einigung bereits heute möglich gewesen, doch das zuständige Expertengremium in Brüssel stimmte am Ende nicht darüber ab“, meldete der Deutschlandfunk blauäugig.

Stattdessen wolle die EU-Kommission nun weiter mit den Mitgliedstaaten an einer Lösung arbeiten…

Brüsseler Demokratie…

Also Feilschen:

Am 27. Oktober meldete der Deutschlandfunk:

Mit einem neuen Kompromissvorschlag versucht die EU-Kommission, den Streit über die Weiterverwendung des Unkrautvernichters Glyphosat zu beenden.

Die Brüsseler Behörde empfiehlt jetzt, die Chemikalie fünf weitere Jahre zuzulassen. Bisher waren sieben Jahre im Gespräch. Der neue Vorschlag sei den Mitgliedstaaten zugeschickt worden. Frankreich lehnte den Vorstoß umgehend ab und beharrt auf einer Verlängerung um maximal vier Jahre.

Und am 9. November, gleiche Stelle, gleiche Welle:

Die Europäische Kommission ist erneut mit dem Versuch gescheitert, die Zulassung des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat zu verlängern…

Im zuständigen Fachausschuss sei keine qualifizierte Mehrheit für eine fünfjährige Verlängerung zustande gekommen…

Die EU-Kommission teilte mit, bis Ende November einen neuen Vorschlag zu präsentieren.

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Juni 2017:

Wir haben von der Seite der Union in der Bundesregierung immer erklärt, dass wir der Verlängerung zustimmen würden, weil wir wissen, natürlich werden Pflanzenschutzmittel nur unter den strengsten Bedingungen angewandt.“

Mutmaßlich!

 

4.11.16 Serapion an Mephisto

 

Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen, und jetzt wird er gar noch Pöbel.

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)

 

Wenn 1970 jemand erzählt hätte, im 21. Jahrhundert werden Mohammedaner auf öffentlichen Plätzen und in Verkehrsmitteln alle zufällig anwesenden Kinder, Frauen und Männer massakrieren, sie grausam mit Äxten, noch unbarmherziger als Vieh, abschlachten und mit Küchenmessern erstechen, und mit Schwerlastern mordend in Menschenmengen rasen, und Mädchen aus Schulen entführen und ins Gesicht schießen, und archaische Religionskriege brächen aus zum Zwecke der Ausrottung Andersgläubiger – man hätte geglaubt, das werde nicht sein, und wer derart abwegig rede, sei paranoid.

Wenn es heißt, die Reformation und die religiösen Kriege seien ein Folge der Erfindung des Buchdrucks, und 1789 sei eine Folge der Erfindung des Zeitungsdrucks, dann erscheinen mir Kommunismus und Faschismus als direkte Nachfolge der Erfindung des Kinos und des Radios, und die gegenwärtig fortschreitende Inhumanität als Folge der Erfindung der „neuen Medien“.

Und wir Menschen haben noch nicht einmal die Erfindung des Telefons verkraftet…

Aber jeder zum Leben unfähige und vom Leben gekränkte Idiot und erbärmliche Narziß findet jetzt die Mittel und seine weltweite Bühne.

Politik, ob rechts oder ob links, Partei, Glaube, Religion, das ist in Wahrheit alles sekundär, im Höchstfall. Das ist Zufall, eventuell der Zufall der Geburt. Und es dient nur als eigentlich beliebig austauschbare Rechtfertigungsideologie. So weiß der sich als Nazi gebärdende, nicht einmal viertelgebildete Anders Breivik zum Beispiel es vermutlich selbst nicht, aber in erster Linie ist er Herostrat. Ein Herostrat, der heutigentags zu leicht die nötige Macht gewinnt und vor allem die gesuchte Öffentlichkeit.

Die Menschheit leidet vornehmlich an Ruhmsucht.

An und unter.

Das Virus der Ruhmsucht aber ist nicht nur wegen seiner weltweiten Verbreitung die schlimmste Geißel der Menschheit, sondern auch weil es fast immer erfolgreich kaschiert wird mittels politischem, religiösem, wirtschaftlichem, sozialem, künstlerischem, protestierendem, patriotischem Geschwafel.

Ich, der Vaterlandsretter! Ich, der Retter des rechten Glaubens! Ich, der Verkünder des neuen Glaubens!

 

Die meisten Leidenschaften scheuen den Tag und sind schon gefährlich genug; aber furchtbar verheerend sind die, die in der Finsternis geboren werden und sich am Sonnenlicht nähren: Ruhmsucht und Herrschsucht.

Johann Gottfried Seume (1763 – 1810)

 

20.5.16 Bellarmin an Mephisto

Als zuverlässigste Freundin ihrer Feinde erweist sich doch immer wieder die Europäische Union. Vom rasant vorüberlaufenden Band aktuellster Beispiele herausgegriffen: Glyphosat. Hier genauer: Das konsequenzlose Theater des stetigen Scheiterns der Hybris propagierter Transparenz und sachgerecht demokratischer Entscheidungsfindung in den lobbyistisch versumpften Niederungen schnöder Realität. Selbige Tragödie läuft in Brüssel derart erfolgreich, daß die Häufigkeit ihrer Aufführungen schon gar nicht mehr mitgezählt wird von der Schauspielertruppe Juncker und Co. Angesichts ihrer jegliche Dimension sprengenden Frequenz.

Alles ist wieder typisch. Die Kartoffel wurde so lange im Feuer gelassen, bis sich keiner mehr traute, sie anzufassen. Aber nun sind es nur noch sechs Wochen für eine Entscheidung, von der immerhin die Produktionsstruktur – ein interessantes Wort übrigens im Hinblick auf das Gedeihen von Pflanzen, das Flattern von Schmetterlingen, das Summen von Bienen und Singen von Vögeln – sechs Wochen also nur noch für eine Entscheidung, von der ganze Landschaften nebst der Produktionsstruktur agrarischer Existenzen abhängen. Und eventuell noch viel, viel mehr.

Zivilisation macht krank, wußten schon die alten Griechen…

Nun erläutert man dem staunenden Publikum, Abrakadabra, den demokratischen Abstimmungsprozeß: Eine bestimmtes Quorum an Ländern, welche aber zugleich einen wohldefinierten Anteil der Unionsbevölkerung repräsentieren, müsse einer Verlängerung der Nutzungsbewilligung des Giftes zustimmen. Eines Giftes, das mittlerweile zweifelsfrei in Lebensmitteln und in Muttermilch, also in der Nahrungskette, nachgewiesen wurde. A B E R, tönen Lobbyisten, A B E R man müsse schon tausend Liter Bier täglich trinken, um von Glyphosat zu erkranken an Krebs.

Na denn… Nur Dumme gingen aus dem Haus und fürchteten sich dabei vor dem Einschlag von Dachziegeln auf ihrem Scheitel. Selbst Fahradfahren sei mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gefährlich, und trotzdem verböte es keiner.

A B E R zurück zum EUtypischen… Da tagte man also, und die ersten Berichte unseres modernen Journalismus vermeldeten zerknirscht, es habe sich keine Mehrheit für eine Verlängerung gefunden. Wenn man nun arglos und demokratiegläubig, also vergeßlich wäre, hätte man folgern können, na bitte! Die Fachleute haben entschieden und des Giftes Verwendungsdauer um weitere neun Jahre nicht zugestimmt.

Weit gefehlt!

Plötzlich erfährt man, es sei noch überhaupt nicht abgestimmt worden! W E I L eine Mehrheit für eine Verlängerung der Verwendungsdauer sich noch nicht habe absehen lassen!

Und eine Mehrheit dagegen auch noch nicht.

Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich. Denn dieser verdammte dumme Stammtischlaie mit seinen einfachen populistischen Antworten hatte ja nun angenommen, Demokratie hieße, daß man sich am anberaumten Termin zum Zwecke der Abstimmung zusammenfinde und abstimme zu einer eindeutig formulierten Frage, etwa: Wer ist denn für die Verlängerung der sogannten Nutzungsdauer des Giftes?

Wer ist dagegen?

Und da anstelle jenes mysteriösen N O C H von einem Patt nirgends nicht die Rede war, und bei jeder halbwegs intelligenten Regelung eines demokratischen Abstimmungsmodus, noch dazu unter Berücksichtigung von Bevölkerungszahlen, man sich sehr viel Mühe geben müßte zu einer Pattherbeiführung, wäre die Sache somit entschieden.

Stattdessen jenes bizarre N O C H.

War jemand an der Teilnahme verhindert? Standen auf dem Weg nach Brüssel die entscheidenden Bevölkerungsteile im Stau?

Ominöserweise ist allerdings die Rede, wenigsten von einigen unserer modernen Journalisten – fast müßte man sie wenigstens dafür loben, wenn einen die permantente Abwesenheit ihrer Fragen, von kritischen Fragen erst gar nicht zu reden, nicht so sehr schmerzte – ominöserweise ist allerdings die Rede, wenn man genau hinhört, von Feststellungen. Man habe vorher durchgezählt und festgestellt, daß eine Mehrheit für die Verlängerung des Gifteinsatzes N O C H nicht zustande käme. Und mit diesem Grunde die Abstimmung verschoben und sich vertagt.

Ach so… Brüsseler Demokratie. Man wartet N O C H auf ein genehmes Ergebnis.

 

„Was viel bedacht wird, wird bedenklich.“

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)

 

4.3.16 Bellarmin an Mephisto

Freitag, 23. Oktober 2015, LE FIGARO:

Keine Regierung in Europa hat von ihren Bürgern eine Vollmacht bekommen, um Hunderttausende Migranten ohne jede Kontrolle aufzunehmen.

Angela Merkel wurde Anfang der Woche im Fernsehen gezeigt mit der bemerkenswerten Einsicht, es gebe keinen Anspruch auf Asyl in einem bestimmten Land. Möglich, daß sie sagte „in einem bestimmten europäischen Land“, wie es CDU-Generalsekretär Peter Tauber ein paar Tage später im Deutschlandfunk eigenhändig und wie vom Himmel gefallen formulierte. Unter Voranstellung der fünf satzeröffnenden Wörter „Wir haben schon immer gesagt…“.

Wirklich?

Haben das all die tapferen Helfer gewußt?

Jene originale Aussage der Kanzlerin Anfang der Woche im Fernsehen konnte ich nicht überprüfen im Nachrichtenticker des Deutschlandfunks. Weil: Sie kam darin nicht vor.

Wahrscheinlich wegen des „immer schon“ wird die Aussage als Banalität nachrichtlich nicht mehr registriert von unserem seriösesten öffentlich-rechtlichen Radiosender.

Aber auch im wirklich wahren Leben kann ich mich an jenes schon immer Gesagte nicht erinnern. Dabei glaube ich zumindest, es handelt sich hier um einen erörterungswürdigen, wenn nicht gar um einen Schlüsselsatz. Um einen Satz von elementarer Bedeutung für die deutsche, für die europäische, ja für die Weltöffentlichkeit.

Und der war schon immer gesagt worden, und nur ich habe das nicht mitbekommen! Da hätte ich doch aber auch ein bißchen mehr drauf achten können!

Während ich mich sehr wohl an Zeiten zu erinnern vermag, in denen Angela Merkel den gegenteiligen Eindruck jenes schon immer Gesagten erweckte, stelle ich mir natürlich die Frage: Wie lange dauert eigentlich ein Immer?

Auf jeden Fall kann es kein ganzes halbes Jahr sein, denn heute haben wir den 4. Tag im Monat März, und am 5. September des unlängst vergangenen Jahres, da hat das Immer ganz bestimmt noch nicht gegolten. Da sollten Ungarn und Österreich durchwinken. Aber „eine Politik des Durchwinkens“ sei jetzt vorbei!

Immerhin ist hier von „immer“ nicht die Rede.

Sondern von „jetzt“.

Jetzt erhebt sich in meinem Gemüt der Argwohn: „immer“ ist nicht „ewig“!

Man lernt nie aus. Kann ja sein, daß während der Zeit zwischen Budapester Hauptbahnhof und dem griechischem Dorf Idomeni die von Dir seinerzeit gepriesene zweite gute Eigenschaft der Kanzlerin wieder zu neuem Leben erwachte. Neben ihrer Kenntnis des Energieerhaltungssatzes. Nämlich ihre Lernfähigkeit (=> Energieerhaltungssatz). Denn es kann sein, daß nun auch Angela Merkel begriffen hat, was DER SPIEGEL vom 27. Februar auf Seite 8 austrompetete: „Kanzlerin Merkels humanitäre Flüchtlingspolitik ist gescheitert.“ Denn, genau wie ich Dir hinsichtlich des Unworts „Quotenregelung“ prophezeite im goldigen Oktober und Anfang November vorigen Jahres (=> Wäschewechsel „Eher zerfällt die Union“ und => Deutschlandrettungsplan „Was passiert denn nun, im Falle sich keine gesamteuropäische Lösung herbeiführen ließe?“), kommt DER SPIEGEL zu dem Schluß „Es wird keine solidarische Verteilung von Flüchtlingen geben, und die Türkei wird Europa kaum zuverlässig vor weitere Zuwanderung schützen.“

Hinsichtlich der Türkei fürchte ich allerdings, das hat die Kanzlerin noch nicht gelernt. Denn die Gefahr ist groß, daß nun in einem bemerkenswerten historischen ersten Akt von tatsächlich einvernehmlicher gemeinsamer Außenpolitik Europäischer Union das letzte Restchen europäischer Ehre an den asiatischen Kriegstreiber und Journalistenverfolger Erdogan verschachert wird. Denn, wir sind immer noch auf Seite 8, denn „Nun zeichnet sich eine neue Arbeitsteilung ab: Wir sind für den Humanismus zuständig, die anderen für die Härte. Es ist zynisch: Merkel kann sich Gesinnungsethik erlauben, weil Viktor Orbán das Grobe erledigt.“

Woran aber ist Angela Merkel gescheitert? Da wäre zum einen also der Energieerhaltungssatz. So daß sie mittels seiner Anwendung noch kurz vor Beginn des Immers lernte, daß selbst Deutschland über kein unbegrenztes Reservoir an Turnhallen verfügt. Worauf nachhelfend nicht nur der Deutsche Städtetag hinwies:

Deutschlandfunk, 10. Januar:

Der Deutsche Städtetag erklärte schon vor Wochen, wenn Flüchtlinge den Wohnort frei wählen könnten, seien viele Städte überfordert.

Deutschlandfunk, 27. Januar:

Spitzenvertreter der Kommunen haben vor ihrem Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel gefordert, dass der Bund die Unterbringungskosten für Flüchtlinge mit Hartz-Vier-Bezug übernimmt.

Die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Lohse, und der Geschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Landsberg, sagten der Zeitung „Die Welt“, andernfalls werde das Geld an anderer Stelle fehlen. Der Bund müsse dieses Thema aufgreifen. Außerdem müsse es eine Residenzpflicht für anerkannte Asylbewerber geben. Die Spitzenvertreter der Städte und Gemeinden forderten zudem, dass die Zahl der Flüchtlinge reduziert werde. Die Kommunen seien an ihrer Belastungsgrenze. Bundeskanzlerin Merkel müsse konkret aufzeigen, wann die Gemeinden mit einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen rechnen könnten.

Deutschlandfunk, 22. Februar:

Die kommunalen Spitzenverbände fordern eine Verschärfung des geplanten Asylpakets Zwei. Die Maßnahmen seien zum Teil inkonsequent und praktisch schwer umzusetzen, zitiert die Funke Mediengruppe aus einer gemeinsamen Stellungnahme des Deutschen Städtetags, des Deutschen Landkreistages und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Verlangt wird demnach unter anderem ein schärferes Vorgehen gegen kriminelle Asylbewerber. Zudem müsse der Anspruch auf Geldleistungen daran geknüpft werden, dass sich der Schutzsuchende dauerhaft in der ihm zugewiesenen Einrichtung aufhalte. Zudem müsse das Bundesamt für Migration personell aufgestockt werden, damit man die beschleunigten Verfahren für Asylsuchende aus sicheren Herkunftsländern auch umsetzen könne.

Deutschlandfunk, 24. Februar:

In der Flüchtlingsfrage sind die Kommunen nach Ansicht der Präsidentin des Deutschen Städtetags, Lohse, an der Leistungsgrenze angelangt.

Diese trügen die Hauptlast und ihnen müsse dringend geholfen werden, sagte die Ludwigshafener Bürgermeisterin im Deutschlandfunk. Jährlich eine Million Flüchtlinge zu integrieren, sei auf Dauer nicht möglich. Die Zuwanderung müsse deutlich reduziert und gesteuert werden. Bei der Unterkunft der Menschen erwarteten die Kommunen die vollständige Übernahme der Kosten durch den Bund. Lohse beklagte, dass die Bundesländer die zur Verfügung stehenden Mittel nicht immer ausreichend an die Kommunen weitergäben.

Da wäre zum weiteren Köln.

„Köln ist der Anfang vom Ende der Political Correctness“, vermerkte DER SPIEGEL am 9. Januar auf Seite 20.

Daran kann ich leider nicht glauben. Aber die politische Korrektur deutscher Spielart verhinderte beispielsweise Fragestellungen, Erörterungen und öffentliche Diskussionen über solche nicht ganz unwichtigen Dinge, warum allein mehr als 60.000 „unbegleitete“ Minderjährige „die Grenzen des deutschen Sozialstaats“ „testen“, wie DER SPIEGEL am 13. Februar auf Seite 52 berichtete, allein in Berlin 3000 binnen eines Jahres, während spdämliche Politiker einerseits der Öffentlichkeit über die unkritischen, nicht nachfragenden oder gar eigenrecherchierenden öffentlich-rechtlichen Medien weiszumachen versuchten, es handele sich bei Familiennachzugsantragsstellern um wenige Dutzende Personen, und dieselben Politiker andererseits die Beförderung des bereits beschlossenen und von ihnen bewilligten Asylpakets II um Monate mit dubiosesten Methoden verzögerten.

Oder die Erörterung und öffentlichen Diskussion der EU-seitigen Feststellung, daß bis zu 60 Prozent der während des letzten Jahres Eingewanderten keinen Anspruch auf Asyl geltend machen könnten.

Oder die Erörterung und öffentlichen Diskussion, daß allein schon das aufnahmetolerante Schweden feststellen mußte, daß die Hälfte der dort Asylsuchenden keinen Anspruch darauf hätten.

Oder warum rund 80 Prozent der nach Deutschland Kommenden über keinerlei Identifikationspapier verfüge.

Oder warum die Mehrzahl der Einwandernden um die in Baden-Württemberg eingerichtete Schnellbearbeitungsstelle für Asylanträge einen großen Bogen mache. Hier war ebenfalls von 80 Prozent die Rede, von 80 Prozent der Bogenmachenden.

Oder warum in öffentlich-rechtlichen Medien kritiklos nie unterschieden wird zwischen Flüchtling und Migrant.

„Migration“, wir erinnern uns, kommt von lateinisch „(Aus)wanderung“.

Um nur einige, um nur einige wenige Beispiele der Auswirkungen politischer Korrektur anzuführen.

Die politische Korrektur hat das Vertrauen zerstört. Und wo das Vertrauen fehlt, spricht der Verdacht, erklärt uns Nietzsche, und wo der Verdacht spricht, geht ein Gespenst um in Europa, und dieses Gespenst heißt hierzuland „Alternative für Deutschland“. Und die Angst vor der AfD ist einer der Gründe für das Scheitern der Kanzlerin.

Jüngst veranstaltete dankbarerweise DER SPIEGEL eine Umfrage über das Thema „Warum vertrauen viele Menschen der Presse und dem Fernsehen nicht mehr?“

Und man erhielt eine weit über tausendfache Resonanz!

Hier schicke ich Dir einige Beispiele unserer vox populi, Du findest sie auf den Seiten 56ff des SPIEGEL vom 27. des letzten Monats:

Mir hat das Verhalten der Medien in den letzten Monaten regelrecht Angst gemacht. Allen voran die Öffentlich-Rechtlichen und SPIEGEL ONLINE (anders der SPIEGEL selbst, sonst hätten wir das Abo längst gekündigt). Aus einem „Sagen, was ist“ wurde ein tägliches „Sagen, wie’s sein soll“. Auseinandersetzung mit anderen Meinungen wurde ersetzt durch Diffamierungen. Jeder Andersdenkende war ein Rechtspopulist.

 

Die Feigheit der Journalisten vereint sich demnach mit der Feigheit der Politiker. Beide sollten sich öfter an einen genialen Satz von Bert Brecht erinnern: ,Wer die Wahrheit nicht kennt, ist ein Dummkopf. Wer jedoch die Wahrheit kennt und sie nicht sagt, ist ein Verbrecher.‘

 

Ich glaube, im ,heute journal‘ hat es angefangen, dass der Nachrichtensprecher anfing, regelmäßig das Geschehen selbst (auch moralisch) zu bewerten; das ist jedoch nicht seine Aufgabe!

 

Der Versuch einiger Zeitungsleute, Pegida-Wutbürger von der Straße in ihre Redaktionen einzuladen, um sie dann von der Redlichkeit ihres Tuns zu überzeugen, ist rührend, trifft auch genau das Problem, hilft aber nicht, bleibt sinnlos, weil dort Lebenswirklichkeiten dieser Menschen nicht verhandelt werden.

 

Am unteren Rand der Gesellschaft sieht das nämlich anders aus. Die Menschen haben Sorgen und fühlen sich nicht vertreten. Nicht von der Politik. Und auch nicht von Euch. Sie gehen bei Pegida aus Verzweiflung mit! Mir tun sie leid! Denn plötzlich sehen sie sich von den Medien in die rechte Ecke gestellt, wo sie oft gar nicht hingehören! Und werden wütend. Weil von Euch nicht genügend differenziert wird zwischen dumpfen Nationalisten und einfach nur besorgten Bürgern, die keine Lobby haben und ihre Nöte nicht eloquent formulieren können! Nicht jeder hatte das Privileg wie Ihr oder ich, ein Studium oder eine gepflegte Ausbildung in hippen Branchen zu absolvieren. Maurer, an der Kasse im Supermarkt … wisst Ihr alles selbst. Ihr habt sie im Stich gelassen!

 

Die Ängste der Bürger vor einer Überfremdung werden von den Journalisten in ihrem Elfenbeinturm nicht wahrgenommen.

 

Ich kann Ihre Pro-Flüchtlings-Berichterstattung kaum noch ertragen. Oft lese ich mir die Beiträge zur Flüchtlingssituation nicht mehr durch, weil ich mich sowieso nur darüber ärgere. Nach der Silvesternacht in Köln war ich schockiert, habe mich aber klammheimlich darüber gefreut, dass dies passiert ist, da endlich ganz offensichtlich wurde, was passiert, wenn wir dermaßen viele Flüchtlinge aufnehmen. Immerhin haben Sie über die Vorkommnisse berichtet. Allerdings haben Sie den falschen Personen beziehungsweise Institutionen die Schuld in die Schuhe geschoben, nämlich Polizei und Politik. Dabei war die Schuldfrage so offensichtlich: Flüchtlinge haben die Taten begangen! Keine Polizisten und auch keine Politiker!

 

Berichterstattung und Kommentare sind, auch im SPIEGEL, manchmal nicht mehr auseinanderzuhalten. Ich glaube nicht, dass hier gelogen wird. Schlimmer ist, dass Sie tendenziös berichten und daran glauben.

„Wir wären gut – anstatt so roh / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ (Bertolt Brecht 1898-1956)

 

Mephisto an Bellarmin

Nun ist es nicht so, daß der als Freund klarer Worte apostrohierte Justizminister seinen Scharfsinn nicht auch noch zum Lösen eines weiteren Problems unseres Gemeinwohls beizusteuern wußte in seinem Interview am 12. Januar:

Heuer: Sie sind gegen die Vorratsdatenspeicherung, gegen ihre Wiedereinführung. Ist das nicht fahrlässig nach dem Terror in Frankreich?

Maas: Nein. Fahrlässigkeit ist allenfalls, den Leuten weißzumachen, dass die Vorratsdatenspeicherung geeignet wäre, solche Anschläge zu verhindern. In Frankreich gibt es eine Vorratsdatenspeicherung, sie hat die Anschläge nicht verhindert. Der Europäische Gerichtshof hat im April des letzten Jahres dagegen entschieden, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nichtig ist, weil sie gegen die Grundrechte verstößt. Und im Übrigen: Alle nehmen für sich in Anspruch: Je suis Charlie. Wir verteidigen unsere Freiheit und auch die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit. Die Vorratsdatenspeicherung wird auch zu mehr Überwachung von Presse und Journalisten führen. Das heißt, wir würden genau das machen, was die Terroristen eigentlich wollen, nämlich unsere Freiheit und unseren Rechtsstaat einschränken, und deshalb finde ich das auch aus diesem Grund völlig kontraproduktiv.

Heuer: Herr Maas, finde ich auch alles nicht schön, aber es könnte ja ein effektives Instrument sein, jedenfalls sagen das viele, weil selbst wenn Anschläge nicht vorher verhindert werden können, man doch hinterher die Hintergründe und Hinterleute finden kann. Können Sie wirklich auf ein solches Instrument im Kampf gegen den Islamismus verzichten in den Zeiten, die wir gerade erleben?

Maas: Wissen Sie, wenn der Europäische Gerichtshof Entscheidungen trifft, dann werden sich alle daran halten müssen, unabhängig davon, ob ihnen das gefällt oder nicht.

Heuer: Das ist aber eine Frage der politischen Gespräche und der Art und Weise, wie man solche Gesetze dann anfasst.

Maas: Wenn der Europäische Gerichtshof entscheidet, dass etwas nichtig ist, weil es gegen die Grundrechte verstößt, dann kann die Politik nicht hingehen und sagen, interessiert uns nicht.

Heuer: Und die Innenminister der SPD, die dafür sind, die liegen falsch?

Maas: Der Europäische Gerichtshof hat gesagt, dass die Vorratsdatenspeicherung gegen die Grundrechte verstößt.

Was dem Minister eben fehlt an rhetorischer Begabung und vermutlich auch an dialektischem Denkvermögen, glaubt er wettmachen zu können durch Monotonie. Man fühlt sich erinnert an den finalen Auftritt des Rumpelstilzchen in der Kammer der Königstochter, wie es sich, mit dem rechten Fuß aufstampfend, selbst als Pflock in den Boden rammt: „Das hat dir der Teufel gesagt! Das hat dir der Teufel gesagt!“

„Niemals noch hängte sich die Wahrheit an den Arm eines Unbedingten“, meint hingegen Nietzsches Zarathustra.

Indessen sollte man, neben der als vermeintliche Argumentverstärkung dargebrachten monotonen Wiederholung, immerhin die Beherrschung eines zweiten rhetorischen Tricks, dessen sich unser Justizminister bedient, anerkennen. Wenn er auch mies ist, der Trick. Nämlich des Tricks, ein nicht existentes Gegenargument zu widerlegen. Denn davon abgesehen, daß es die Vorratsdatenspeicherung nicht nur in Frankreich gibt, sondern, soweit ich es weiß, auch in unseren Nachbarländern, ist mir kein Mensch bekannt, der behauptet hätte, vermittels Vorratsdatenspeicherung wäre der Anschlag in Frankreich noch irgendein anderer verhindert worden. Und als Interviewer hätte ich den Heiko Maas schon gefragt, ob er denn da dem interessierten Publikum jemanden nennen könne.

Sein Trick ist freilich abgedroschen in seiner Intention, anhand der beispielhaft vorgeführten Widerlegung einer behaupteten gegnerischen Behauptung die gegensätzliche Argumentation damit in ihrer Gesamtheit als unglaubwürdig zu diskreditieren. So daß hier im Speziellen möglichst auch nicht weiter auffalle, wie Maas ein politisches Argument gegen ein, wenn auch nicht gegebenes, sachliches setzt, um eben jener von ihm wohl eher gefürchteten sachlichen Diskussion auszuweichen. Welche seine ideologischen Scheuklappen offenbarte.

Man nennt das Vermeidungsstrategie.

Noch mieser wird die Trickserei des Justizministers, wenn er gegnerische Argumente dadurch abzuwehren versucht, indem er sie auf das Niveau terroristischer Absichten drückt.

Die Terroristen würden „genau das“ bezwecken!

Einmal glaube ich, Terroristen wollen ganz etwas anderes. Weiterhin zöge ich als Justizminister durchaus in mein Kalkül, daß Terroristen eher nicht wollen, daß man nun die Vorratsdatenspeicherung einführte.

Und unverdrossen einmal angenommen, es wäre dennoch so, daß die Terroristen „genau das“ erreichen wollten mit ihren Mordtaten, nämlich die Einführung der Vorratsdatenspeicherung, wieso sollten wir uns darob vorschreiben lassen, worüber wir sachlich nachdenken, reden und eventuell, völlig unabhängig vom Willen und Wollen terroristischer Gewalttäter, letztendlich entscheiden? Ich würde das Handeln der zivilisierten Welt nicht hängen an Hirne von Massenmördern.

Aber wie gesagt, den Trick, erfundene Gegenargumente zu widerlegen, den Trick beherrscht Heiko Maas.

Am selben Tage meinte der bereits angeführte Politikwissenschaftler Werner Patzelt in seinem Interview auf die Fragen des Moderators Mario Dobovisek:

Dobovisek: Schärfere Gesetze – wir haben die Debatte gerade mitverfolgen dürfen. Ist das der richtige Weg, Herr Patzelt?

Patzelt: Ich halte nichts davon, dass man oder wenn man nach Anschlägen zunächst einmal nach einer Verschärfung von Gesetzen ruft. Das erfüllt oft genug den Tatbestand rein symbolischer Politik oder rein symbolischer Forderungen. Was man freilich tun muss ist, auf Praktiker hören, auf jene Praktiker, die wir dafür bezahlen, dass sie uns im Rahmen des Möglichen vor Terrorangriffen schützen, und wo immer Praktiker meinen, dass bestimmte gesetzliche Rahmenbedingungen verändert werden müssten, um ihnen ihre Aufgabe zu erleichtern, da soll man sie ernst nehmen. Und man sollte zwar darauf achten, dass die Bürgerrechte nicht eingeschränkt werden, aber man sollte sich auch vor Hysterie dem eigenen Staat gegenüber bewahren, denn unser Staat ist nun einfach keiner, der es darauf anlegt, sich in eine Diktatur zu verwandeln, sondern einer, dem man durchaus vertrauen kann.

Dobovisek: Welche Schritte sehen Sie dennn als angemessen an, ohne dem Aktionismus zu verfallen?

Patzelt: Mir scheint, man kann schon intensiv über Vorratsdatenspeicherung nachdenken. Sie hilft zwar nicht bei der Prävention, sehr wohl aber bei der anschließenden Aufklärung, und aus der Aufklärung wiederum können präventiv wirksame Kenntnisse gezogen werden. Bei der Kriminalisierung oder Bestrafung der Finanzierung von Terror wird man ansetzen können und wir haben natürlich in Europa das Problem der offenen Grenzen, wobei man dafür vermutlich so schnell keine tragfähige Lösung finden wird.

Vier Tage später, am Freitag der Vorwoche, ein Interview zum selben Thema, ebenfalls im Deutschlandfunk:

Zagatta: Aus Ihrer Sicht, haben denn die Vertreter der Polizei oder Vertreter der Kriminalpolizei, die bei uns im Programm oder überall in den Medien im Moment die Befürchtung äußern, sie würden von der Politik nahezu im Stich gelassen, haben die recht aus Ihrer Sicht?

Krause: Ja, das kann man, kann ich nachvollziehen, weil in der Politik wird ja meistens über ganz andere Dinge geredet. In der Politik wird geredet darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Das ist philosophisch gesehen sehr interessant, aber es geht hier um eine ganz, ganz spezifische radikale Auslegung des Islam, und da sollte man nicht immer alle Muslime gleich mit in die Verantwortung ziehen. Oder es wird darüber geredet, wie schlimm die Vorratsdatenspeicherung sei, obwohl das Bundesverfassungsgericht eigentlich sehr genau gezeigt hat, was man da machen kann und was man nicht machen darf. Die politischen Diskussionen bewegen sich meines Erachtens zum Teil in einer Sphäre, die ich nicht mehr nachvollziehen kann.

Zagatta: Was wäre aus Ihrer Sicht nötig? Ich höre bei Ihnen jetzt heraus, Sie wären dafür, die Vorratsdatenspeicherung so schnell wie möglich einzuführen, verfassungsgemäß.

Krause: Ja! In einer Art und Weise, wie sie vom Grundgesetz für verfassungswidrig gehalten wird. Und was tut die Bundesregierung? Sie versteckt sich jetzt hinter der Europäischen Kommission und sagt, wir warten erst, bis die Kommission einen Vorschlag macht, und dann tun wir was. Das ist wieder eine unendliche Hinausschiebung einer Problematik, die wir uns eigentlich nicht leisten können, denn die Vorratsdatenspeicherung, wenn sie verfassungsgemäß gemacht wird, kann dazu führen, daß Netzwerke aufgeklärt werden, und das ist ganz wesentlich, weil es hier immer Netzwerke gibt bei diesen Terroristen oder bei diesen Terrorverdächtigen. Was wir auch noch brauchen ist natürlich eine Verstärkung der Bundesbehörden und der Landesbehörden, die sich mit der Terrorbekämpfung befassen. Und was wir noch viel wichtiger brauchen ist, dass wir endlich diese salafistischen Milieus, die es bei uns gibt, in, ich sage mal, irgendwelchen Nebenmoschees oder um bestimmte Hassprediger herum oder in bestimmten Orten – Verviers‘ gibt es in Deutschland nämlich auch sehr viele -, dass wir diese Dinge angehen und dass wir dahinter stehenden Probleme, die hauptsächlich Probleme von Migranten sind, die hier nicht richtig integriert werden können oder nicht richtig integriert werden wollen, dass wir diese Probleme stärker angehen. Aber das ist auch so ein Bereich, wo die Politik immer nur darüber redet, wie schön es eigentlich ist, dass wir Ausländer haben, aber nicht über die Probleme redet. Die Probleme, die es bei der Integration von Ausländern gibt, werden von uns eigentlich eher tabuisiert.

Zagatta: Professor Joachim Krause, der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Herr Krause, danke schön für das Gespräch.

Krause: Ja, gern geschehen.

 

Bellarmin an Mephisto

Nein, man sendet zwei Tage lang als erste Nachricht, daß am dritten Alexander Dobrindt die Pläne für eine Maut vorstellen werde und verbreitet sich in vermeintlicher Objektivität ausführlich über konsequenzlose Sprechblasen xrangiger Politiker jeglicher Couleur zu den noch unvorgestellten Plänen. Die vorhersehbare Halbwertzeit jener Nachrichten über jene Äußerungen über jene noch unvorgestellten Planungen liegt, wenn es hochkommt, im Bereich von Stunden. Alternativ formuliere ich Dir einmal in drei Sätzen eine Meldung, die anstelle des Wieder- und Wiedergekäuten in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmedien Deutschlands leider keine Erwähnung fand, noch nicht einmal unter „ferner liefen“ vor dem Wetterbericht:

„Die Moskauer Internetzeitung Slon.ru veröffentlichte jetzt einen E-Mail-Verkehr, der belegt, daß in Rußland ein geheimer Stab hoher Regierungsbeamter seit Anfang des Jahres die Annexion der Krim durch russische Sicherheitskräfte vorbereitete. Danach wurden unter anderem über eine Agentur Blogger auf der Krim bezahlt für die Verbreitung von Desinformationen und das Streuen von Gerüchten, beispielsweise zur Diffamierung der europafreundlichen Kiewer Regierung als illegitime faschistische Macht. Der russische Präsident Putin hatte eine Steuerung der Aktionen von russischer Seite geleugnet.“

Das „jetzt“ in der ungemeldeten Meldung meint den wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen.

Die Linsenschleifer der Nation, die öffentlich-rechtlichen Nachrichten- und Berichtserstattungsmedien Deutschlands, die sich vermutlich etwas einbilden auf gediegene Objektivität und Seriosität und Unabhängigkeit, auf Ausgewogenheit und Parteienproporz und, natürlich, auf politische Korrektheit, machen mir Angst. Sie vermitteln ein gefährlich falsches Bild von der Welt, mindestens durch Unterlassung und äußerst fragwürdige Gewichtung. Sie degradieren die Deutschen zu einem Volk, bei dem es tatsächlich als von den Medien(!!!) gefeierte Heldentat gilt, daß einer der zurückgetretenen Verteidigungsminister es „gewagt“ habe, die bereits langjährige „Mission“ der Bundeswehr in Afghanistan als Kampfeinsatz zu bezeichnen… Ein tapferes Kerlchen! Mutige Medien! Kolossal kritisch!

Armes Land! Gefährdetes Land! Denn humorlos hätte man jenes Beispiel ja auch als das werten können, was es in Wahrheit ist, nämlich als ungewolltes (und unbemerktes!) Eingeständnis von Unfähigkeit und einer tendenziösen Nachrichtenberichterstattung mit den Merkmalen: Weglassung, Ausblendung des Wesentlichen, euphemistische Lexik, Nivellierung von Unterschieden oder gar Insuffizienz in ihrem Erkennen, demnach analytisches Unvermögen nebst mangelhafter Durchdringung des Weltgeschehens. Und schließlich und immer wieder: Falschbewertung und -gewichtung mit dem generellen Hang zur teilweise grotesk anmutenden Überbewertung von Nullnachrichten und Nebensächlichkeiten, von Eintagsgeschwätz und von Eintagsfliegen: Tellerrand statt Horizont. Resümee: Verdrängung von Realitäten.

Also sprach Friedrich Nietzsche: Es ist aber nicht unser Los, Fliegenwedel zu sein!

Mephisto an Bellarmin

Beine krumm, doch deutsch von Rasse, ungebildet, aber stolz, sahn wir wie vor unsrer Masse jede Geistigkeit zerschmolz – diese Verse des bedauerlicherweise vergessenen Horst Lommer kamen mir wieder in den Sinn beim Lesen Deiner Zeilen. Aber statt mit dem Wesen der Probleme beschäftigt man sich mit Kokolores. Das macht den Deutschen keiner nach – rechtwinklig an Leib und Seele, würde Nietzsche sagen. Man versucht zum Beispiel, politisch korrekt, das Wort „Zigeuner“ (italienisch „zingaro“, ungarisch „cigány“, rumänisch „tigan“, bulgarisch „ciianin“, griechisch „tsiganos“) im Deutschen auszulöschen, und beschäftigt sich tatsächlich mit dem aktualisierenden Übersetzen, zum Beispiel älterer Bücher, ins korrekte Deutsch.

Nun, mit diesem schwachsinnigen Unterfangen wird man zu tun haben. Gerade auch, was allein die Musik angeht, neben den anderen Kulturgütern. All die Stücke und Weisen und Lieder! Ich weiß auch nicht, was ich mehr fürchten soll, die erste Aufführung von Straußens Sohn „Sinti- und Roma-Baron“ oder das gehorsame Ausbleiben weiterer Aufführungen. Und welchen korrekten Namen wird man dem Sinti- und Roma-Schnitzel genehmigen?

Mir fallen leif die Negerküsse ein. Die ich nicht mehr anschaffe, seit sie in merklich verkrampfter Originalität umbenannt wurden in Köhlerküsse. Nein wie lustig! Richtig ordentlich lustig! „Neger“, lateinisch „niger“ (für „schwarz“), spanisch und portugiesisch „negro“, ins Deutsche entlehnt aus dem Französischen „nègre“, wird gelöscht. Auch da wird man zu tun haben, selbst in wissenschaftlichen Werken, bis alle Neger umbenannt sind in den alten Bundespräsidenten.

Immerhin gibt mir jene deutsche Bereinigungsaktion die Gelegenheit, Dir vor deren Abschluß unbedingt noch zum schnellen ehrlichen Erwerb einiger Bücher zu raten. Beispielsweise zu einer rechtzeitig gedruckten Werkausgabe eines der Götter aus dem Parnaß meiner sieben Lieblingspoeten, Joachim Ringelnatz geheißen:

 

 

Abendgebet einer erkälteten Negerin

 

Ich suche Sternengefunkel

All mein Karbunkel

Brennt Sonne dunkel.

Sonne drohet mit Stich.

 

Warum brennt mich die Sonne im Zorn?

Warum brennt sie gerade mich?

Warum nicht Korn?

 

Ich folge weißen Mannes Spur.

Der Mann war weiß und roch so gut.

Mir ist in meiner Muschelschnur

So négligé zu Mut.

 

Kam in mein Wigwam

Weit übers Meer,

Seit er zurückschwamm,

Das Wigwam

Blieb leer.

 

Drüben am Walde

Kängt ein Guruh – –

 

Warte nur balde

Kängurst auch Du.

 

Im übrigen aber bin ich der Meinung, der deutsche Außenminister wird in seinem Streben nach dem Friedensnobelpreis und seiner permanenten Fehleinschätzung der russischen Seite zum Sicherheitsrisiko Europas.

Rußland darf nicht das entfernteste Mitspracherecht eingeräumt werden über ukrainische und jedwede nachbarstaatlichen Angelegenheiten! Auch nicht über Hintertüren, beispielweise in Form runder Tische oder etwa russischer „Friedenstruppen“ in der Ostukraine!

An denen der Kreml sich auffällig interessiert zeigt.

Sonst Sieg der Banditen, und der Außenminister hätte sich, nach einem Ausdruck Lenins, von Rußlands nützlichen Idioten erwiesen als Rußlands nützlichster. Was schon etwas heißen will, vornehmlich in Deutschland. Die Journalistin Ola Cichowias in der britischen Zeitung The Independent:

In Deutschland, einem Land, in dem Putins Propaganda besonders erfolgreich wirkt, mindern sogar Intellektuelle Putins Verbrechen – oft getrieben durch Schuldgefühle wegen der Leiden der Russen während des Zweiten Weltkriegs. Alle werden geleitet von einer vagen Vorstellung russischer Romantik.

Zwischenzeitlich wagte ich fast schon zu hoffen, er hätte, zum Beispiel unter dem Einfluß der realistisch denkenden Polen, der erneuten Vorführung russischer Vertragstreue nach dem Genfer Vierergipfel und angesichts der russischen Anmaßung, nun doch seine Lektion dazugelernt. Aber mittlerweile spielt der Außenminister den russischen Chauvinisten wieder in die Hände und bewegt sich hin zur Quasi-Anerkennung einer Abspaltung ukrainischen Territoriums. Womöglich werden dann russische „Friedens“-Truppen, mindestens jedoch OSZE-Truppen die russische Annexion verewigen.

Der sich augenblicklich hektisch beteiligende französische Außenminister hat übrigens ein starkes Interesse an der Vermittlung auch des wurmstichigsten Waffenstillstandes in der Ostukraine, weil Frankreich Sanktionen gegen Rußland unbedingt vermeiden will. Um Kriegsschiffe nach dort zu verkaufen. Für Montag dieser Woche waren aus guten Gründen endlich schärfere Sanktionen gegen Rußland angekündigt worden. Von denen plötzlich überhaupt nicht mehr die Rede war (ohne jede journalistisch-kritische Erörterung in den Medien).

Montag waren die ersten russischen Militärkräfte in Frankreich angelandet, um sich für die Übernahme der Schiffe unterweisen zu lassen (keine Meldung darüber in den Nachrichten).

„Hast du alles vergessen, was einmal war?“

Gebietsvergrößerung Rußlands mittels Mord- und Totschlag hat Tradition seit Iwan dem Schrecklichen und seiner Opritschnina (russisch: „ausgesondertes Land“). Welcher Begriff stand für methodischen Massenmord an Landbesitzern zum Zweck der Einverleibung ihrer Ländereien. Günstigstenfalls wurden die Besitzer zwangsdeportiert. Ausführende waren die brutalen  Opritschniki, die eigens dafür geschaffenen schwarzhemdigen Truppen des Zaren.

Nein, diese Reminiszenz ist so abwegig nicht, wie Du im ersten Moment vielleicht glauben magst. Und mit nicht unbeträchtlicher Wahrscheinlichkeit wird mich die Chronik der laufenden Ereignisse vielleicht zwingen, noch einmal darauf zurückzukommen.

Wie war das aber in Moldawien und Georgien? Gerade erst gestern ist Rußland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der massenweisen Zwangsvertreibung von Georgiern für schuldig befunden worden.

Nach meiner Erinnerung beginnen 1992 in Moldawien plötzlich „Separatisten“ um sich zu schießen. Lauter vertrauenerweckende Visagen wie jüngst auf der Krim und in der Ostukraine. Na, wie auf Kommando, da eilen aber russische Truppen hinzu und greifen den „Separatisten“ mal hilfreich unter ihre Arme. Und setzen sich, zum Schutz „legitimer“ russischer Interessen, fest. Um des Friedens willen überwacht seit 1999 auch eine OSZE-Friedenstruppe eine Sicherheitszone zwischen der selbsternannten Republik Transnistrien, die zufälligerweise ihren Anschluß an Rußland erstrebt, und Moldawien. Womit das russische Militär zum Abzug verpflichtet wurde und laut eines von Rußland unterzeichneten OSZE-Abkommens auch ist. Im Dezember 2001 endlich wird damit begonnen und symbolisch ein Kontingent abgezogen. Während der folgenden dreizehn Jahre verzögert sich der Abzug der Okkupationstruppen aber bis heute.

Derweil herrscht russischer Friede.

Wenn ein Preis für die derzeit scheinintelligenteste Frage zu vergeben wäre in Deutschland, sollte man ihn der amüsanten Grübelei widmen, was Putin denn wolle mit all seinen Machinationen. Die Frage abendländischer Logiker. (Das sind auch die, die sich wundern, warum sie sich plötzlich wieder ins neunzehnte Jahrhundert versetzt sehen, und warum es nun nicht länger mit rechten Dingen zugeht: „Seid doch wieder vernünftig, setzt euch zusammen und vertragt euch wieder!“)

Zweiter Preis: Ob er noch die Kontrolle habe über die „Separatisten“. Wobei das Adverb jenes Fragesatzes als besonderes Juwel ins Auge sticht. Und zur Beruhigung: Er hat sie. Selbst wenn die manchmal so tun, als schössen sie von alleine weiter.

Tja, was mag er wohl wollen, der Wladimir?

Wenn man es nicht aus der russischen Geschichte herauszulesen weiß, den Wert russischer Bekundungen und Beteuerungen und russischer Zusagen sollte man doch zwischenzeitlich etwas besser einzuschätzen gelernt haben. Wenigstens das Kurzzeitgedächtnis anknipsen, bitte, bitte! Sonst hören wir bald aus dem Kreml die Korken des Krimsekts knallen.