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13. März 2022: Bellarmin an Mephisto
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Mittwoch, 23. Februar 2022
VOLKSSTIMME:
Im Grunde haben Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schon 2015 die Ost-Ukraine geopfert. Das Minsk-II-Abkommen zwingt die Ukraine de facto dazu, die Gebiete Luhansk und Donezk aus ihrem Staatsgebiet zu entlassen. Kein Wunder, dass dies kein Präsident vollzogen hat.
FRANKFURTER RUNDSCHAU:
Putin wird wohl nicht aufs Äußerste gehen und die gesamte Ukraine angreifen. Nicht nur weil die Zahl der Toten wohl auch in Russland nicht vermittelbar wäre und der Unmut Putins Herrschaft gefährden könnte. Putin dürfte lieber den Konflikt mit der Ukraine erhalten wollen – ähnlich wie in Georgien, wo er bereits seit Jahren mit einer ähnlichen Strategie zwei sogenannte Regionen unterstützt. Auf diese Weise bleibt Putin im Fokus des internationalen Interesses, hält die Menschen in der Ukraine in Angst und verhindert eine wirtschaftliche Erholung des Landes.
MÜNCHNER MERKUR:
Wir sollten nicht so dumm sein, dem Kremlherrscher die Kriege gegen unsere europäischen Nachbarn auch noch zu finanzieren. Bundeskanzler Scholz hat mit seinem Stopp der Ostseepipeline richtig gehandelt: Die Gaspartnerschaft mit Putins Russland ist zerbrochen. Das tut weh. Doch kassiert Berlin jetzt die Quittung dafür, dass es unter allen Europäern im Umgang mit Putin jahrelang am naivsten zu Werke ging.
MÜSAVAT:
Vor 14 Jahren hat Russland Abchasien und Südossetien anerkannt. Und was ist danach passiert? Diese beiden abtrünnigen Republiken siechen vor sich hin, und Luhansk und Donezk droht das gleiche Schicksal. Im Grunde sollte jedes Volk, das unabhängig sein will, dieses Recht auch bekommen. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass die Gründung von Ministaaten kein gutes Ende nimmt. Nur wenn eine Nation vereint ist, hat sie die Macht, viel zu erreichen.
KYIV INDEPENDENT:
Der frühere Präsident und heutige Vorsitzende des nationalen russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew, erklärte vor zwei Tagen: Wenn Russland die ukrainischen Gebiete als unabhängige Staaten anerkennen würde, würde die Welt das zwar erst einmal verurteilen, aber das würde schon vorbei gehen. Hört ihr das in Washington, London und Brüssel? Beschränkt ihr euch auf leidenschaftliche Reden und symbolische Sanktionen? Oder antwortet ihr mit ganzer Kraft und haltet den wahnhaften Diktatoren auf, bevor er noch mehr Angst und Schrecken in der Welt verbreitet? Es geht nicht nur um die Ukraine. Wenn Putin gewinnt, verliert eure Welt. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber bald, und unvermeidlich.
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Donnerstag, 24. Februar 2022
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG:
Putins Furor ist eine Katastrophe für die Ukraine und ein Unglück für die Welt. Mit dem Ende des Minsker Abkommens und dem Stopp der Pipeline Nord Stream 2 lösen sich aber auch Jahrzehnte deutscher Russlandpolitik in nichts auf. Daran trägt Putin nicht allein die Schuld. An die Illusion, die er hat zerplatzen lassen, mussten andere ja erst einmal glauben. In diesem Luftschloss ist Putin mal als europäischer Friedenspolitiker aufgetreten, mal als immerhin verlässlicher Gaslieferant und, wenn es schwierig wurde, gerne wenigstens noch als pragmatischer und berechenbarer Machtmensch. Deutschland ist das westliche Land, in dem der Glaube an das Gute in Putin die Politik, aber auch die Sichtweise in nicht unwesentlichen Teilen der Bevölkerung am längsten geprägt hat.
LA RAZON:
Putin nutzt für seine Konfrontation mit dem Westen auch den historisch bedingten Antiamerikanismus. Der russische Präsident ist keineswegs Kommunist. Trotzdem genießt er unter Marxisten Sympathie, auch in Lateinamerika. Dabei ist Russland keine Demokratie und verstößt mit seinem Auftreten gegenüber der Ukraine gegen internationales Recht. Ideologisch steht Putin der lateinamerikanischen Linken somit überhaupt nicht nah. Trotzdem stößt er dort auf Verständnis, und marxistische Influencer reden von Neonazis in der Ukraine, die von der Nato unterstützt werden. Aber weder sind die Ukrainer Neonazis, noch ist Putin ein Befreier.
DE TELEGRAAF:
Europa hat sich in Bezug auf Öl und Gas stark von Russland abhängig gemacht. Immer wieder war vor allem seitens der USA gewarnt worden, wie gefährlich es ist, sich bei der Versorgung mit essenziellen Energieträgern von dem launenhaften russischen Regime abhängig zu machen. Zudem zeigt sich, dass viele Länder – darunter auch die Niederlande – nicht genügend Vorräte aufgebaut haben. Es war unverantwortlich, die Erdgasförderung in Groningen fast vollständig stillzulegen, ohne Alternativen dafür zu haben.
RZECZPOSPOLITA:
Niemand in Berlin zweifelt inzwischen mehr daran, dass die Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte naiv war. An scharfer Russlandkritik hat es in Deutschland zwar nie gefehlt. Allerdings gab es auch viele sogenannte ‚Russlandversteher‘ mit der entsprechenden Bereitschaft, um fast jeden Preis mit Moskau zusammenzuarbeiten. Nun hat Deutschland einiges aufzuarbeiten: die Sünden der eigenen Naivität, das bisherige Wunschdenken, die romantischen Vorstellungen von Russland und die eigenen Schuldgefühle.
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Freitag, 25. Februar, 2022
LANDESZEITUNG:
Drei Flugstunden entfernt ist Krieg. Und? Berührt uns das? Es wäre erbärmlich, wenn sich in unseren Köpfen nichts bewegt. Wenn wir weiter glauben würden, die Welt wäre eine Art vergrößerte EU, wo man mit Sachargumenten, nächtlichen Verhandlungsmarathons und notfalls ein paar Schecks Interessengegensätze immer ausgleichen könnte. Dabei haben machthungrige Potentaten längst die alte Geopolitik wiederbelebt. Sichere Grenzen und sichere Lebensentwürfe in Freiheit sind leider nicht der Normalfall der Geschichte, sondern die Ausnahme. Eine kostbare Ausnahme, die es wert ist, nicht nur mit Worten verteidigt zu werden.
NÉPSZAVA:
Russlands Sicherheit gefährden weder die Nato noch die Ukraine. Russlands größter Feind ist sein eigener Präsident. Putins Entscheidung über den Angriff auf die Ukraine basiert auf einem völlig verzerrten Verständnis der Geschichte. Dieser Diktator ist der Ansicht, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts ist und dass die Ukraine tatsächlich nie als Staat existierte. Es gibt nicht viel Logik oder Gerechtigkeit in einem solchen Denken. Der russische Präsident ist vielleicht ein militärischer Riese, aber im moralischen Sinne ist er ein Zwerg, der hinterlistig seine wahren geopolitischen Ziele verbirgt.
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Sonnabend, 26. Februar 2022
FRANKENPOST:
Gerade Grüne und die Sozialdemokraten haben viele Anhänger aus der Friedensbewegung in ihren Reihen. Die dürften sich jetzt täglich die Augen reiben. Frieden schaffen ohne Waffen? Mit Blick auf die Ukraine ein veritabler Trugschluss, Despoten wie Putin verstehen am Ende doch nur kompromissloses Handeln und Stärke. Deutschlands Politik ist gut beraten, die Weichen völlig neu zu stellen.
NEW YORK TIMES:
Die internationale Gemeinschaft ist zwei Extremen ausgesetzt: Russland und China. Nie zuvor hatten die Staatschefs von zwei der drei mächtigsten Nuklearnationen – Putin und Xi – mehr unkontrollierte Macht. Nie zuvor waren mehr Menschen von einem Ende der Welt zum anderen mit weniger Puffern miteinander vernetzt. Was diese beiden Staatsoberhäupter also mit ihrer Macht anstellen, wird praktisch jeden von uns direkt oder indirekt betreffen. Putins Einmarsch in die Ukraine ist der erste Vorgeschmack darauf, wie verrückt und instabil diese Art von vernetzter Welt werden kann.
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Montag, 28. Februar 2022
VOLKSSTIMME:
In den drei Tagen seit Kriegsbeginn in der Ukraine war Deutschland dabei, rasend schnell seine führende Rolle in der EU und sein Mitspracherecht in der Nato zu verspielen. Mit jeder Bombe auf die Ukraine wurde es für die Bundesregierung dringlicher, sich nicht herauszulavieren, sondern konkret auf den Völkerrechtsbruch Russlands zu reagieren. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz getan. Und die internationale Allianz gegen Russland gestärkt. Die Zeitenwende, wie Scholz sie nennt, ist ein Bruch mit der deutschen Politik der vergangenen 30 Jahre.
DIENA:
Es ist schockierend, dass bei uns in sozialen Netzwerken das dem Kreml genehme Narrativ kursiert, dass Ukrainer und Russen die Leidtragenden seien und es vor allem um die Bewahrung des Friedens gehe. Natürlich ist Frieden wichtig, aber zuerst muss der Aggressor seinen Krieg beenden. Wenn die Ukrainer ihre Familien gerettet und ihr Land zurückgewonnen haben, ihre unschuldigen Opfer begraben und betrauert und ihren Sieg gefeiert haben, kann irgendwann auch Russland mit seinen historischen und ideologischen Befindlichkeiten auf der Couch landen.
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Dienstag, 1. März 2022
RHEIN-NECKAR-ZEITUNG:
Putin hat die Welt angelogen, hat seinen Feldzug lange und gründlich geplant, hat dementiert und zugleich angegriffen, sperrt Kritiker ein und verordnet Medien einen Maulkorb. Ein Wort der Wahrheit? Niemals. Die List kommt bei ihm als unverfrorene Heuchelei daher. Und weil er bisher alles, was von den einen befürchtet worden war und von anderen naiv weggewünscht worden war, in die Tat umsetzte, ist ein russischer atomarer Schlag nicht auszuschließen. Denn er hat damit gedroht. Natürlich wollen alle Menschen in erster Linie leben. Auch Putin. Und ganz sicher gibt es in seinem engsten Umfeld Berater, die den Wahnsinn eines Atomschlags würden stoppen wollen. Allein: Der von Geheimdiensten geschulte Despot hat seine Unberechenbarkeit längst bewiesen.
NEW YORK TIMES:
Seit Putins Einmarsch in die Ukraine sind zwei Dinge klar geworden. Erstens: Putin ist größenwahnsinnig. Zweitens: Russland ist schwächer als die meisten meinten. Putin ist nicht der erste brutale Diktator, der sich zum internationalen Paria gemacht hat. Aber er ist der erste mit einer heimischen Wirtschaft, die stark vom internationalen Handel abhängig ist, und mit einer politischen Elite, die es gewohnt ist, die westlichen Demokratien als ihren Spielplatz zu betrachten. Putins Russland ist keine hermetische Tyrannei wie Nordkorea oder die alte Sowjetunion. Sein Lebensstandard wird durch umfangreiche Importe aufrechterhalten, die größtenteils durch die Ausfuhr von Erdöl und Erdgas finanziert werden. Dies macht die russische Wirtschaft sehr anfällig für Sanktionen. Putins Armee mag Kiew durchaus noch einnehmen, aber dies wird ihn selbst nur noch mehr schwächen. Russland entpuppt sich als potemkinsche Supermacht, die bei weitem nicht so stark ist, wie es den Anschein hat.
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Sonnabend, 5. März 2022
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG:
Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman hat vor vierzig Jahren dargelegt, dass sich viele einschneidende Ereignisse in der Weltgeschichte, vom Fall Trojas bis zum Vietnamkrieg, damit erklären lassen, dass die damals Herrschenden schlicht dumm waren. Seit Jahrtausenden, so Tuchmans Befund, haben Menschen, denen der Wille, die Fähigkeit oder das Interesse fehlte, die Folgen ihres Tuns zu bedenken, Entscheidungen getroffen, die das Schicksal ganzer Völker geprägt und Millionen Leben zerstört haben.
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Sonntag, 6. März 2022
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG:
Dabei hätte die SPD – manche ostdeutschen CDU-Ministerpräsidenten übrigens ebenso – eine grundsätzliche Aufarbeitung der eigenen Haltung gegenüber Russland nötig. Die SPD-Parteispitze hat Moskaus Angriffskrieg zwar sofort und unmissverständlich verurteilt. Aber sie schweigt bisher zur Verharmlosung Putins durch die eigenen Leute in den zurückliegenden Jahren. Das geschah allen voran durch Gerhard Schröder. Der ehemalige SPD-Vorsitzende hat mit seiner Lobbyarbeit für das Putin-Regime jahrelang Millionen Euro verdient, ohne dass die Partei irgendwelche Konsequenzen zog. Im Sinne des russischen Interesses äußerten sich aber auch Manuela Schwesig, Erwin Sellering und Matthias Platzeck. Die SPD sollte auch ihre Folklore um die Entspannungspolitik der Siebzigerjahre überdenken. Die Leistungskraft der sozialdemokratischen Ostpolitik wird im Rückblick gerne überschätzt. All das gehört auf den Tisch. Denn die strategische Schwäche Europas gegenüber Russland und die versäumten Ausgaben für die Rüstung haben damit zu tun.
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Dienstag, 8. März 2022
NOWAJA GASETA:
Die Menschen wiederholen meist die Meinungen aus dem Fernsehen. Die Erzählung von der Verteidigung des Vaterlandes, die ununterbrochen von den Propagandakanälen verbreitet wird, nimmt ihnen offenbar die Fähigkeit das Geschehen kritisch zu beurteilen. Noch nie war es schwieriger, die Menschen zweifeln zu lassen. In Russland gilt: Wahrheit ist, was dem König dient, und alles andere ist Lüge und Verbrechen. Aber wie stark die Behörden den Informationsfluss auch reglementieren, früher oder später werden andere Zeiten kommen.
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Mittwoch, 9. März 2022
DER NEUE TAG:
Die deutsche Energiepolitik der vergangenen Jahre war naiv, sehr naiv. Geradezu peinlich war es, wie Merkel, Scholz und Co. an der Gas-Pipeline Nord Stream 2 festgehalten haben. Allen Warnungen vor Putin zum Trotz. Denn es ist ja nun wirklich nicht so, dass der russische Präsident aus heiterem Himmel zum Verbrecher wurde. Deutschland hat sich freiwillig abhängig von einem Diktator gemacht. Mehr als 50 Prozent aller deutschen Erdgasimporte kommen aus Russland. Das war ein großer Fehler, den die Verantwortlichen erst jetzt einsehen. Und dieser Fehler wird wohl für alle Bürger teuer werden.
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Donnerstag, 10. März 2022
ND.Der TAG:
In Putin hat der Patriarch einen Genossen im Geiste. Beide scheinen besessen vom Kampf gegen die Unmoral, die der Westwind gen Osten trägt: Was dem einen die Fixer, sind dem andern die Schwulen. Der Krieg habe eine metaphysische Bedeutung, erklärte Kyrill I. Nach Ansicht von Ostkirchen-Experten interpretiert er den Ukraine Krieg als Krieg des Lichts gegen die sündigen Werte, die den wahren Orthodoxen in der Ukraine von den ‚Weltmächten‘ aufgezwungen würden – insbesondere Homosexualität.
DER TAGESSPIEGEL:
Die Vorstellung der russisch-orthodoxen Kirche deckt sich mit der staatlichen Politik. Liberale Demokratie, Akzeptanz von Homosexualität, religiöse und gesellschaftliche Pluralität – das lehnen sowohl der Staat wie auch die russisch-orthodoxe Kirche ab. Das Konzept heißt ‚Russkij Mir‘ – russische Welt. Kyrill hat schon 2020 erklärt, dass alle Gebiete, die geschichtlich einmal von Russland abhängig waren, zum ‚Heiligen Rus‘ gehören und man sie wiedergewinnen sollte. Wer Putins Krieg gegen die Ukraine Einhalt gebieten will, hat also auch in Kyrilll einen bedeutenden Gegner.
NEW YORK TIMES:
Für Putin gibt es keinen guten Ausweg mehr – und das macht wirklich Angst! Putin wird mit seinem Ukraine-Feldzug langfristig nicht erfolgreich sein. Aber einer wie er kann keine Niederlage eingestehen. Die unausweichliche Demütigung ist unerträglich für diesen Mann, der davon besessen ist, die Würde und Einheit dessen wiederherzustellen, was er als russisches Mutterland ansieht. Putin marschiert deshalb in einen ewigen Krieg gegen die Ukraine und einen Großteil der Welt, der Russland langsam zusammenbrechen lassen wird. Und das ist entsetzlich. Denn es gibt nur eines, was schlimmer ist als ein starkes Russland unter Putin: Und das ist ein schwaches, gedemütigtes, ungeordnetes Russland – ein Land voller nuklearer Sprengköpfe, Cyberkrimineller, Öl- und Gasquellen, das zerbricht und in dem verschiedene Fraktionen um die Macht ringen.
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Freitag, 11. März 2022
LUDWIGSBURGER KREISZEITUNG:
Die Ukraine im Zustand vor dem 24. Februar 2022 wird es nicht mehr geben. Die Russen werden ihren Feldzug nur unterbrechen, wenn sie dafür etwas bekommen, einen schriftlichen Verzicht der Ukraine auf die Nato-Mitgliedschaft, eine Anerkennung der Krim und des Donbass als Teil Russlands etwa. Dabei muss dem Westen ganz klar sein: Nur die Ukrainer können entscheiden, wozu sie bereit sind. Dennoch: Es ist gut, dass geredet wird, vor und hinter den Kulissen. Selbst wenn der Grundsatz, solange geredet wird, wird nicht geschossen, leider nicht mehr gilt.
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Sonntag, 13. März 2022
AFTONBLADET:
Russlands Präsident Putin plant die Wiederherstellung der historischen Einflusssphäre seines Landes. Dazu reicht ein Blick auf die Karte: Östlich des Schwarzen Meeres stehen seit 2008 Truppen in Georgien, im Norden liegt die 2014 annektierte Krim, im Nordosten der Donbass und im Nordwesten das zu Moldau gehörende Transnistrien, das seit Jahrzehnten von russischen Truppen dominiert wird. Nun ist die Ukraine an der Reihe. Der Westen war zu lange zu nachgiebig, auch aus Angst vor den russischen Atomwaffen. Aber was wir jetzt tun, hätten wir schon vor 2014 tun sollen. Wir hätten der russischen Wirtschaft den Stecker ziehen und die Ukraine bewaffnen sollen. Dann wäre uns der Krieg vermutlich erspart geblieben. Putins Appetit ist mit jedem Happen gewachsen; und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj ist es zu verdanken, dass der Westen allmählich aufwacht. Die deutsche Naivität und Nachgiebigkeit sind wie weggewischt, und Bundeskanzler Scholz spricht von einer Zeitenwende. Aber lassen sich alte Fehler nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine noch korrigieren? Das ist zu hoffen.
WELT AM SONNTAG:
Was bleibt vom pompös inszenierten Versailler-Gipfel der Staats- und Regierungschefs? Vor allem drei Botschaften: Große Uneinigkeit bei der Frage, ob man der Ukraine durch einen Importstopp von russischem Öl und Gas helfen soll. Die Forderungen der Ukraine nach einem Status als EU-Beitrittskandidat wurde abgeschmettert. Und: Frankreich hat mit dem Euphemismus einer ‚europäischen Investitionsstrategie‘ die Schleusen geöffnet für einen massiven Ausbau der Schuldenunion, die bald kommen dürfte und vor allem von Deutschland bezahlt werden wird. Man muss es leider in dieser Deutlichkeit sagen: Es war ein Gipfel der Schande – trotz der beschlossenen 500 Millionen Militärhilfen für Kiew. Kanzler Scholz hat dabei keine gute Figur gemacht. Er ist gegen ein Öl- und Gasembargo, er ist gegen einen Kandidatenstatus für die Ukraine, und er unterstützt im Grundsatz den Weg in eine EU-Mega-Schuldenunion. Dabei wäre es ganz einfach gewesen, der Ukraine einen Status als EU-Kandidat zu verleihen. Das hätte den 44 Millionen Ukrainern in ihrem Überlebenskampf einen ungeheuren Auftrieb gegeben, ihnen Mut gemacht und Respekt für ihren Widerstand gezollt. Damit wären keine weiteren Verpflichtungen verbunden gewesen, die Türkei beispielsweise ist seit 2005 Kandidatenland. Stattdessen versteifen sich Scholz, Rutte und Co auf Formalien: Regeln müssten eben gelten.
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Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.
Georg Heym (1887 – 1912) aus Der Krieg
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