Was soll ich Dir sagen, letzten Sonntag, da fielen ja wieder alle gutdenkenden Politiker aus ihren Wolken heraus in Deutschland. Nach der in Köln von der „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“ organisierten Demonstration mit zunächst geheim gehaltener Rednerliste stellten sie sich im Stillen fassungslos die Fragen, wie man sie im Ausland, etwa in Jyllands Posten aus Aarhus, lesen konnte am Dienstag:
Was um Himmels willen ist geschehen, dass sich Zehntausende, vielleicht Hunderttausende von Menschen, aufgewachsen in einem zivilisierten und liberalen Rechtsstaat, für einen verärgerten Sultan in Ankara begeistern? Haben sie in der Schule geschlafen? Haben sie zu viel Satelliten-Fernsehen geguckt? Waren sie zur Umschulung in religiösen Einrichtungen in der Türkei?
Wo man sich weniger, oder genauer gesagt, wo man sich eigentlich so gut wie gar nicht wunderte über jenes in der Tat bedenkenswerte Verhalten der aus allen Himmelsrichtungen nach Köln Herangekarrten nebst dem der restlichen, das Leben in Europa dem in der Türkei aus irgend einem Grund vorziehenden Diaspora, das war an meinem gestrigen „Stammtisch der Popolistigen“.
Da stellt man sich ganz andere Fragen.
Wohl weil gutdenkende deutsche Journalisten solches stets zu fragen, zu klären oder gar zu erklären verabsäumen in den öffentlich rechtlichen Medien, fragt man sich am dummen Stammtisch zum Beispiel: Was ist eigentlich ein Deutschtürke? Ist das ein Deutscher aus türkischer Familie? Oder ist das ein in Deutschland lebender Türke? Oder ist das ein Jawas mit simultaner deutschtürkischer Staatsangehörigkeit? Und wieviel gibt es in Deutschland von dieser und von jener und noch dazu von der dritten Sorte? Oder werfen deutsche Politiker alle Sorten mit dem Begriff zusammen?
Ist also ein Deutschtürke türkischstämmig oder Türke?
Aber man verwundert sich über diese begriffliche Schlampigkeit nicht mehr. Der ach so verschrieene Stammtisch wundert sich eher über die sich wundernden Politiker. Die einen türkischen Regierungschef mehrfach nach Deutschland einfliegen ließen, um hier auf deutschem Boden Wahlkampf für eine, nämlich seine, türkische Partei zu treiben. Und der den begeisterten Jawasdeutschtürken einredet, Assimilation wäre ein Verbrechen.
Der Stammtisch hält Deutschland für ein weltweit einzigartig eigenartiges Land deswegen.
In dem die verantwortungsfreien Politiker nun aus allen Wolken fallen, indessen der Stammtisch, im Gegensatz zu ihnen, das leicht vorhersehbare Ergebnis ihrer Politik vorhersah. Ein eigenartiges Land, in dem nicht die Politiker, sondern erst zwei Verwaltungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht die türkischen Reden des türkischen Staatsoberhaupts an seine jawastürkischen Parteigänger auf deutschem Boden stoppen konnten.
Der Stammtisch wundert sich nicht über die Erdogan-Anhängerschaft in Deutschland, auch nicht über die der jüngeren Jawastürken. Der Stammtisch wundert sich seit langem, warum die deutsche Politik nie darüber nachdachte, die türkische staatliche Finanzierung von Moscheen in Deutschland zu unterbinden. Noch dazu wenn zudem der der türkischen staatlichen Religionsbehörde Diyanet unterstehende, in Deutschland agierende Islamverband Ditib extra 900 türkische Imame nach Deutschland holte mit irgendwelcher Absicht.
Da wundert sich der Stammtisch nicht über das Ergebnis, sondern warum die deutsche Politik sich über das Ergebnis wundert.
Die dummen Leute am Stammtisch haben sich tatsächlich jedoch einstmals eher verwundert und schneller die Fragen und Probleme vorausgesehen, denen sich deutsche Politiker erst jetzt stellen. Und die dummen Stammtischleute haben beachtenswerterweise Recht behalten mit ihren Prognosen, pardon, mit ihren Vorurteilen.
Eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union hielten sie zum Beispiel von Anfang an für naives Wunschdenken von Illusionisten statt für geschichtsverständige Realpolitik. Sie wußten, daß kulturelle Unterschiede zwischen Völkern ja nicht sich darin erschöpfen, indem die Anatolier andere Volkstänze hüpfen als die Bayern. Sondern beispielsweise bestehen aus völlig unterschiedlichen, über Generationen erwachsenen Auffassungen und Alltagssichtweisen ihrer Erlebniswelten aus Handel und Wandel und Herrschaft. Und Religion und Korruption. Weltverständnisse, die sich nicht in ein paar Jahren wegverbrüsseln lassen, weil die Türkei in der NATO gebraucht wird.
Der dumme Stammtisch, einst als vox populi geachtet und gleichgesetzt mit vox Dei, der dumme Stammtisch wußte das.
Vox populi hat das immer richtig gesehen.
Die gutdenkenden Gesundbeter haben sich immer geirrt.
Es gibt kein Land in der Europäischen Union, in welchem das Volk einem Beitritt der Türkei zustimmen würde.
Ein Merkmal für Intelligenz ist die Fähigkeit zum Schluß vom Besonderen aufs Allgemeine: Erdogan, der beachtenswerterweise anfänglich tatsächlich dafür gelobt wurde, weil er angeblich die Türkei demokratisieren wollte, ist doch, wenn man über ein bißchen Welt- und Geschichtsverständnis verfügt, samt seinem Feindbildpopanz Fethullah Gülen, kein zufälliger türkischer Betriebsunfall. Der Stammtisch jedenfalls hielt Erdogans Demokratiebekundungen schon immer für getürkt.
Mittwoch, 3. August, RZECZPOSPOLITA:
Es bedurfte erst eines gescheiterten Putschs und einer Hexenjagd der türkischen Behörden, damit Europa endlich erkennt: Erdogan ist kein Demokrat, sondern ein lupenreiner Tyrann. Jahrelang hat Europa Erdogans wahre Absichten bewusst oder unbewusst ignoriert. Es war naiv zu glauben, dass er die Türkei tatsächlich demokratisieren wolle. In Wirklichkeit wollte er vor allem Widersacher unter Richtern, Staatsanwälten, Journalisten, Wissenschaftlern und Militärs neutralisieren. Niemand in Europa schien bemerkt zu haben, dass Erdogans Kontrolle der Armee nicht zu mehr Demokratie, sondern zur Ausschaltung seines schärfsten Gegners im Land führen sollte. Der Westen weiß offenbar nicht, was in seinem Interesse liegt: eine kemalistische Türkei, die im Hintergrund auch von der Armee mitregiert wird, oder die Türkei eines islamischen Herrschers, der sich als Demokrat verkleidet.
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“
Recep Tayyip Erdogan