Die besitzende Klasse der Deutschen Demokratischen Republik, die Machtbesitzer benutzten Diskussionen nie zu einer Klärung. Eine Diskussion diente lediglich dem Aushorchen oder verzögernden Hinhalten des naiven Diskussionspartners, im Falle man sich, ihn unmittelbar aus dem Verkehr zu ziehen, noch nicht genügend zugerüstet wähnte. Oder es gerade zuviel Aufsehen erregt hätte, das Mundtotmachen. Innerhalb dieser ganzen deutschen demokratischen Diktatur kann ich mich nicht erinnern, daß während der politischen Diskussion ein den Machthabern zuwiderlaufendes Argument dem Argumentierenden oder im mindesten seiner Angelegenheit etwas genutzt hätte. Das entspricht nicht meiner Erfahrung. Und die ungeheuer heimtückische Heuchelei verdeutlicht sich allein schon darin, indem die Machtbesitzer von uns, den zwangsrekrutierten Untertanen, immer eine „offene und ehrliche Diskussion“ forderten!
Andererseits, wenn diese Funktionäre und Propagandisten und Agitatoren nicht weiter wußten, also meistens, drehten sie jegliches und auch das Harmloseste ins Politische, und da zählte nichts und schon gar kein Argument!
Wenn sie dann immer ins Politische schweiften, benutzten sie garantiert, und daran erkennt man die Gysibiskys und Konsorten noch heute, ihren obszönen Standardtrick, den die Sozialistische Einheitspartei Ostdeutschlands mit bedenkenloser Schamlosigkeit anwendete: Die Gleichsetzung. Die Schweiz erhöbe auch ein Einreisezwangsgeld, westliche Geheimdienste arbeiteten auch nicht anders. Und die USA hätten auch eine bewachte Grenze!
Soll heißen, die für Ausländer geltenden pekuniären Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen der Schweiz wären dem Wesen nach gleich dem eindirektionalen Zwangsumtausch Ostdeutschlands für einreisende Westdeutsche und Westberliner. Soll heißen, der Bundesnachrichtendienst und der Verfassungsschutz wären ihrem Wesen nach gleich dem „Ministerium für Staatssicherheit“. Und soll endlich heißen, die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko wäre dem Wesen nach gleich der Grenze Ostdeutschlands zu Westdeutschland oder der Grenze Ostberlins zu Westberlin. Und und und! Man zeigte seine Vorliebe darin, jedes, aber auch jedes Argument über die verblüffendsten Gleichsetzungen zu verbiegen und damit die ganze Diskussion. Die aber auch! Die machen das genauso!
So, als wäre, wenn es denn stimmte, nun alles in bester Ordnung!
Aber schon diskutierte man nicht mehr über innere Probleme, sondern über interstellare Welten, nämlich über die unmenschliche Ausbeutung in den Ländern des Stamokap, des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“, und die Verelendung breiter Massen. Du solltest nichts wissen und durftest keinen Feindsender hören, aber solche „Argumente“ mußtest du dir bieten lassen! O ja, selbst wenn er nie etwas anderes gelernt hatte und vor Blödheit gegen den Himmel stank, aber den Gleichsetzungstrick, Pferdekacke gleich Apfel, den beherrschte auch der kleinste und rhetorisch dämlichste Bonze gründlich.
Während seiner Haftzeit hat der empörte Egon Krenz Notizen aufgeschrieben, die gesammelte Empörung über das ihm angetane Recht. Sie tragen die Kapitelüberschriften „Herr Krenz, Sie sind hiermit verhaftet!“, „Das Wochenende vor der Haft“, „Stunden vor dem Urteil“, „Das Urteil“, „Moabiter Tage“, „Diktator Nummer Zwei“, „Das Intermezzo in Hakenfelde“, „Verlegung nach Plötzensee“, „Von Plötzensee nach „Strasbourg“, „Gespräch zwischen einem Star und einem Häftling“, „Das Haftende“, „Nach der Haft: Fragen an den Bundespräsidenten“.
Unter dem 29. August 1997 notiert Krenz (Egon Krenz Gefängnisnotizen edition ost im Verlag Das Neue Berlin 2009).
Gelegentlich werden im Fernsehen Gefängnisse der DDR gezeigt. Die Kameras fangen dann das Erdrückende solcher Stätten ein. Glaubt man wirklich, man hätte andere Bilder, wenn man beispielsweise die überfüllten Strafanstalten Moabit oder Tegel besuchen würde? Inzwischen gibt es selbst in bürgerlichen Medien Berichte darüber, dass nicht jeder, der sich als solcher ausgibt, auch tatsächlich ein politischer Häftling war, sondern ein ganz gewöhnlicher Gesetzesbrecher.
Entgegen unserer, zugegeben naiven Annahme, dass im Sozialismus die Kriminalität aussterben würde, gab es auch in der DDR Mörder, Totschläger, Diebe, Bankräuber, Erpresser und Betrüger. Allerdings weniger als in anderen Staaten. Mit 690 Straftätern auf 100 000 Einwohner hatten wir im Verhältnis zu anderen Staaten eine niedrige Kriminalitätsrate. Die zu Haftstrafen Verurteilten befanden sich in 46 Strafvollzugsanstalten, so viele zählten wir jedenfalls 1987 in der DDR.
Im Jahr zuvor erhielt ich den „Menschenrechtsbericht“ des US-State Departments über die DDR. Darin war die Rede von „grausamen Behandlungen durch Strafvollzugsbeamte“.
Ich bat daraufhin Fritz Dickel, den Innenminister, zu mir. Dickel war ein integrer Charakter, Kommunist seit seiner Jugend. Er saß in der Weimarer Republik, bei Hitler und auch bei Stalin. Wenn mir jemand die Wahrheit sagen würde. dann er, davon war ich überzeugt. Trotz unseres Altersunterschiedes waren wir Freunde.
„Fritz“, sagte ich, als wir uns in meinem Arbeitszimmer unter vier Augen gegenüber saßen. „Warum werden bei uns Gefangene misshandelt?“
„Traust du mir zu, dass ich das dulden würde?“, fragte er zurück.
„Es geht nicht darum, was ich dir zutraue“, antwortete ich. „Im Westen wird behauptet, in unseren Gefängnissen werde geschlagen. Wenn es wahr ist, müssen wir die Verantwortlichen bestrafen. Wenn es gelogen ist, müssen wir die Lügen öffentlich entlarven.“
Fritz Dickel, erregt und dennoch überlegt, relativierte: „Ich kann nicht garantieren, dass einem Wachtmeister nicht einmal die Hand ausrutscht. Der Dienst im Strafvollzug ist hart. Und nicht immer haben wir das beste Personal. Wo wir aber von Misshandlungen erfahren, wird das hart bestraft. Im Übrigen stammen unsere Gefängnisse aus kapitalistischer Zeit. Wir gestalten die Bedingungen so aus, wie es unsere finanziellen Möglichkeiten erlauben. Eins kann ich dir aber garantieren: Solange ich Innenminister bin, werde ich nicht zulassen, dass Gefangene misshandelt werden.“
Ich glaubte ihm. Dennoch dachte ich an die berühmte Regel, die immer auch Ausnahmen hat. Er muss meine Zweifel bemerkt haben und schlug vor: Schicke deine Leute in Gefängnisse deiner Wahl. Sie sollen, ohne dass wir dies vorher wissen, mit Gefangenen sprechen, die sie selbst auswählen. Danach können wir unser Gespräch fortführen.“
Ich ließ mir die Genehmigung dafür vom Staatsratsvorsitzenden geben. Laut Verfassung übte der Staatsrat im Auftrage der Volkskammer die Aufsicht über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit des Obersten Gerichts und der Generalstaatsanwaltschaft aus. Honecker war mit meinem Vorschlag einverstanden. Dann schickte ich Arbeitsgruppen zur Inspektion in verschiedene Haftanstalten, darunter auch in das Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Die Arbeitsgruppen bestanden aus Juristen, Volkskammerabgeordneten, einem Staatsratsmitglied sowie aus Mitarbeitern der Abteilungen für Staat und Recht und für Sicherheitsfragen des ZK der SED. Gleichzeitig bekamen die West-Journalisten Pragal vom Stern und Gorskia von der Bunten am 16. Januar 1987 die Möglichkeit, die Strafvollzugseinrichtung Brandenburg zu besuchen. Sie hatten, vermutlich in Kenntnis der entsprechenden Meldung aus den USA, entsprechende Anträge gestellt. Beide berichteten nach ihrem Besuch sachlich über die Praxis des Strafvollzuges.
Die Berichte unserer Inspektoren stellten viele Unzulänglichkeiten fest: Die Obst- und Gemüseversorgung funktionierte schlecht; einige Hygieneartikel, besonders im Frauengefängnis, fehlten, ebenso Dinge, die es auch draußen leider nicht immer gab. Der Umgangston einiger Aufseher wurde als „rüde“ bezeichnet. Alles zusammen also keineswegs Dinge, deren wir uns rühmen konnten. Dennoch: Niemand berichtete von Menschenrechtsverletzungen oder unmenschlichen Haftbedingungen.“
Doch der Mensch fragt stets warum, wenn er sieht, daß etwas dumm. Und so könnte er hier fragen: Warum wurden die Lügen des Westens nun denn nicht öffentlich entlarvt? Warum las man nichts in den sozialistischen Gazetten über die erfolgreichen Inspektionen? Warum gab es keine öffentliche Debatte über den verlogenen Bericht des US-State Departments? Oder über die menschlichen Haftbedingungen in den sozialistischen Strafvollzugsanstalten? Warum wurden Ost-Journalisten dieses demokratischen Staates mit Wahlergebnissen von neunundneunzig zwei Drittel Prozent Ja-Stimmen bei den Inspektionen ausgeschlossen?
Zeigten die an dem Thema kein Interesse?
Warum also hat Krenz das alles nicht 1987 veröffentlicht? Warum, wenn alles bis auf leicht behebbare Unzulänglichkeiten in schönster Ordnung war, veröffentlicht Krenz das in einem Buch erst 2009, und zwar als Erinnerung aus dem Jahr 1997 über das Jahr 1987? Da wird die Frage nach dem Grund gestattet sein.
Die angebliche Haftzeit „bei Stalin“, mit welcher er einen berechneten Eindruck vom famosen Dickel, diesem integren Diener diverser Diktatoren, zu erwecken hofft, ist eine Behauptung von Krenz, die ich nirgendwo belegt fand. Krenz hingegen war, worauf es ja ankommt, zur Zeit des von ihm wiedergegebenen Gesprächs mit Dickel stellvertretender Staatsratsvorsitzender und ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und offenbart sich hiermit wohl eher unbeabsichtigt als noch über dem Innenminister verantwortlich für die Haftbedingungen in der DDR.
Welch einzigartiger Moment in der Weltgeschichte!
Über die in Aussicht gestellte Fortsetzung seines Gesprächs mit Dickel im Anschluß an die Inspektionen schweigt er sich allerdings aus. Der von Krenz stattdessen in die Entlastungszeugenschaft gehievte Journalist des Stern, Pragal, schildert in seinem Buch „Der geduldete Klassenfeind“ (Osburg Verlag 2008) den von Krenz erwähnten 16. Januar 1987 rückblickend:
Der 16. Januar 1987 war für die Strafvollzugseinrichtung Brandenburg und ihren Leiter, Oberst Harry P., eine Premiere. Noch nie zuvor hatten „Klassenfeinde“ als angemeldete Gäste eine DDR-Haftanstalt besichtigen dürfen. Doch an diesem Tag sah sich der Genosse Zuchthauschef genötigt, mich, einen Stern-Fotografen sowie zwei Vertreter der Illustrierten Bunte zu empfangen. Und dies auch noch auf Weisung höchster Parteistellen. Harry P. war sich der Brisanz seiner Aufgabe bewusst. Zwar hatten das MfS und sein oberster Dienstherr, der DDR-Innenminister, bis ins Detail festgelegt, wie der Besuch ablaufen solle, wer mit uns reden dürfe und welche Zellen wir zu Gesicht bekommen sollten. Aber ganz sicher, ob wir uns an die Vorgaben halten würden, war er nicht. Für Harry P. war es ein harter Tag. Er hatte die Aufgabe, den West-Journalisten nachzuweisen, dass es in seinem berüchtigten Knast, in dem während der Nazi-Herrschaft auch Erich Honecker gesessen hatte, korrekt und human zuging. Jedenfalls sah man dem Oberst die Anspannung an, als er – wie ihm später in einem Stasi-Protokoll bescheinigt wurde – die „bestätigte Gesprächskonzeption in freier Rede“ vortrug. Mit so aufschlussreichen Sätzen wie: „Es ist das erstrangige Anliegen einer Strafvollzugseinrichtung, dass die Insassen die Einrichtung nicht ohne Erlaubnis verlassen.“ Oder: „Im Mittelpunkt des Vollzugs der Strafen steht die Erziehung zu gesellschaftlicher Arbeit.“
Als ich beim Außenministerium den Antrag stellte, hatte ich dem Vorhaben wenig Chancen gegeben. Als Aufhänger diente mir eine Äußerung von Bundeskanzler Helmut Kohl, der DDR-Gefängnisse mit Konzentrationslagern verglichen hatte. Diese Begründung muss jemanden in der obersten SED-Etage auf die Idee gebracht haben, West-Journalisten für eine propagandistische Aktion einzuspannen. Mir war bei der Sache nicht ganz wohl. Natürlich habe ich mitbekommen, dass uns in Brandenburg etwas vorgespielt wurde. Dass uns die bedrückenden Verhältnisse, die das Zuchthaus in Verruf gebracht hatten, verheimlicht wurden. „Die Straf-Arrestzellen, die von ehemaligen Häftlingen als Tigerkäfige beschrieben werden, dürfen wir nicht sehen“, schrieb ich in meiner Reportage. Und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass mir der Oberst auf die Frage, wie viele Aufseher eingesetzt seien, lapidar antwortete: „Genügend“.
Das ganze Ausmaß der Inszenierung ist mir erst Jahre später bekannt geworden. Während über hundert Häftlinge eines Arbeitskommandos im Speisesaal eingeschlossen wurden, hat man ausgewählte Gefangene in neue Kleider gesteckt und vor den Journalisten wie Komparsen agieren lassen. Ein Brigadier, der wegen Untreue verurteilte frühere Leiter des Intershops im Ost-Berliner Palast-Hotel, war für würdig befunden worden, Fragen der Besucher zu beantworten. Brav und linientreu gab er Auskunft. „Ich empfinde diese Äußerung gelinde gesagt als eine Beleidigung der DDR“, erklärte er zur Kritik des Bundeskanzlers. „Wir haben darüber diskutiert, auch meine Mitgefangenen beziehen die gleiche Position.“ Das klang wie einstudiert. Doch dann wurde er unvorsichtig und meinte, das Warenangebot in der gefägnisinternen Verkaufsstelle könnte besser sein. Zum Beispiel fehle es an Äpfeln. „Die hatte es seit Dezember nicht mehr gegeben.“ Das hätte er besser nicht sagen sollen. Wie ein Mithäftling später berichtete, wurde der Mann nach Erscheinen meines Berichts seiner Funktion enthoben und in Einzelhaft verlegt.“
Nun, was die Westjournalisten neben vielem nicht wissen konnten, ist der Umstand, daß es Gefangene gab, die trotz Bedrohung mit schwerstem Arrest die Zwangsarbeit verweigerten oder sogar in den Hungerstreik traten im Zuchthaus Brandenburg, allein mit dem Grund, dadurch in Einzelhaft gelangen zu können, sie wurden isoliert. Um endlich einmal allein zu sein. Um endlich einmal beim Frühstück in der Zelle nicht in die lauernden Visagen von sieben Triebtätern, Mördern oder geisteskranken Triebtätern oder geisteskranken Mördern schauen zu müssen und sich nicht, und hier handelt es sich ja noch um den günstigsten Fall, ihr sinnloses Geschwafel anhören zu müssen von morgens bis abends – Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
Hungerstreikende kamen übrigens gleich in eine Einzelzelle, damit man ihnen sofort das Wasser abstellen konnte. Hungerstreik war vielleicht die Vorstufe zum Suizidversuch. Ich traf einen Gefangenen, der es mit dem Verschlucken einer Glühbirne versucht hatte. (Es war nicht leicht bei der permanenten Überwachung eine geeignete Gelegenheit zu finden.) Frischoperierte Suizidkandidaten verlegte man in Einzelzellen, wo man sie mit Handschellen ankettete, zu ihrer Sicherheit…
Also jener angediente Intershop-Privilegierte draußen gehörte sicher auch drinnen (im Zuchthaus) zu den im Gefangenen-Rotwelsch als „Ratte“ Bezeichneten, dem gewöhnlichen Gefangenen gekennzeichnet als „Uhrenträger“, er durfte eine Armbanduhr tragen. Als sogenannter „Bridja“, als „Brigadier“. Nicht jeder in diesem Lande der begrenzten paar Unzulänglichkeiten durfte Intershop-Leiter werden, und nicht jeder Gefangene konnte Uhrenträger werden… Jeder war seines Glückes Schmied.
Was den anderen Geschichtenerzähler anbelangt, den auf den göttlichen Befreiungsdemos als mit den großen Zähnen plakatierten („Großmutter, warum hast du so große Zähne?“), so ist er bekannt auch für die verlogene Wortschöpfung „Wende“ für „Ende“. „Wende“ als Hüllwort für das endliche Ende der verlogenen Deutschen Demokratischen Republik. Die 1961 nicht mehr ohne und 1989 nicht mehr mit Mauer zu halten gewesen war.
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