
Foto: Erkennungsdienst MfS - MEPHISTO
Vision 1982
Es lastet auf dem Abend eine Schwere.
Die Masse einer dichten Wolkenschicht
Bedroht die Sonne, daß sie sie verzehre,
Und drückt sie immer tiefer mit Gewicht.
Die Sonne schmilzt in schmalen schrägen Strahlen,
Es sind die letzten vor dem Untergang,
Die alle schwachen Farben dunkler malen,
Sie machen aller Dinge Schatten lang.
Sie müssen an den grauen Mützen enden
Und an den roten Fahnen, die man trägt,
Und das wogt her und hin in den Geländen,
Es ist ein Wogen, das die Menge prägt.
Die trist zerbrechlich dünnen Strahlen geben
Die Schimmer einer drüstren Meeresflut,
Auf welcher viele rote Lachen schweben,
Wie dunkles Meer, das fleckig ist von Blut.
Ich steh erhöht und richte in Gedanken
Den Blick hinunter auf den Bebel-Platz.
Durchs Mikro höre ich die Stimme zanken,
Sie hallt, und ich verstehe keinen Satz.
Ich kann noch Humboldts schönen Ginkgo sehen,
Im Garten vor der Universität.
Ich seh die Bibliothek in Mauern stehen,
Vom letzten Krieg mit Narben übersät.
Ich kann noch sehn die Bäume Unter den Linden,
Darunter Fahrzeuge der NVA.
Davor kann ich den König Friedrich finden,
Bedeckt mit roten Fahnen sitzt er da.
Vor seines Pferds versteinertem Geschnaube
Marschiert man kommandiert im gleichen Trott
Und schwenkt im Zug Picassos Friedenstaube.
Ich kann das sehen, ich steh erhöht auf dem Schafott.
„Die Türkei“ * hat – hatte vielleicht empirisch-öffentlichkeitswirksam schon mal mehr, aber hat immer noch – säkulares Potenzial. Das wird aber leider vielfach vom sekundären Nationalismus (dem Nationalismus nach bereits erfolgter Etablierung einer Nation**) überlagert (als Ko-Entwicklung oder Gegenstrategie zum ‚islamischen Nationalismus‘ Erdogans etc.).
Es könnte sein, dass die EU der Erdogan-Regierung Stabilisierungshilfe für deren Regierungsform und die bisherigen und weiteren autoritären Gesellschaftsformierungs-Pläne gibt. Als (real)politischer Preis für die Auslagerung einer großen Zahl von Flüchtlingen und der Verantwortung für Teile der EU-Außengrenzen in die Türkei. Eine Entwicklung zu einem stärkeren Zur-Geltung-kommen der Aufklärung/Vernunft (u.a. als Säkularismus/rechtsstaatliche Formen ohne militär-autoritäre Herrschaft) wäre aber mittelfristig auch für die Menschen in der Türkei besser (aus Vernunftsicht für alle, aber natürlich insbesondere für Angehörige von Minderheitskonstruktionen).
Dafür müsste jedoch die akute Flüchtlings-Situation von den europäischen Staaten nicht über eine bloße Erdogan-solls-richten Zwischenlösung (oder sogar längerfristig angelegte Strategie, da die Situation vermutlich noch eine Weile so bleiben wird) angegangen werden. Eine Auslagerung der Grenze an Orte wie die Türkei oder Nordafrika bzw. die Mittelmeerbarriere ist vielleicht wegen der schieren Anzahl der Flüchtenden und Auswanderer nicht vermeidbar, wenn man grds. individuelle Bearbeitung von Asylanträgen und geordnete Einwanderung will. Aber Aussperren (bzw. mal ungeordnet reinlassen und dann wieder dichtmachen) sollte nicht die einzige Strategie (technisch), und nicht die einzige Umgangsweise (ethisch) mit den Problemen der Fluchtregionen und deren Menschen sein.
Insbesondere bei Zweiterem sind auch (neben den teilverselbstständigten sozialen Fach-Systemen wie Politik und Justiz) die Gesellschaften Europas gefragt. Indirekt: Über ihre fachsystemisch ausgelagerten Repräsentanten, also über (aktive oder indirekt-kulturelle) Mitbeeinflussung der relativ-eigendynamischen Politik. Und direkt: Durch die Praktizierung einer aufgeklärten (Vernunft einfordernden und selbst praktizierenden) Flüchtlingsaufnahme und gelebtes Vorbild.
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* Nationen etc. als konstruiertes und dadurch (nicht umgekehrt) auch kulturell-faktisches Phänomen.
** In der EU sehen wir derzeit vielleicht tertiären (oder teilweise wieder primären) Nationalismus – in den unterschiedlichen (gerne von vielen als entgegengesetzt, und damit als politisches Beschäftigungs-Motiv, angenommenen) Formen:
a) als Reaktion auf die Infragestellung des parlamentarisch-rechtlichen Rahmens des (bisherigen) Nationalstaates. Und
b) als Herausbildung eines neuen Staatsgebildes namens EU, dessen Charakter u.a. als Nationalstaat ohne klar zuzuordnende Verantwortlichkeiten und/oder als postnationales Mehrebenen-Phänomen (re)konstruiert wird.