
Foto: Erkennungsdienst MfS - MEPHISTO
Vision 1982
Es lastet auf dem Abend eine Schwere.
Die Masse einer dichten Wolkenschicht
Bedroht die Sonne, daß sie sie verzehre,
Und drückt sie immer tiefer mit Gewicht.
Die Sonne schmilzt in schmalen schrägen Strahlen,
Es sind die letzten vor dem Untergang,
Die alle schwachen Farben dunkler malen,
Sie machen aller Dinge Schatten lang.
Sie müssen an den grauen Mützen enden
Und an den roten Fahnen, die man trägt,
Und das wogt her und hin in den Geländen,
Es ist ein Wogen, das die Menge prägt.
Die trist zerbrechlich dünnen Strahlen geben
Die Schimmer einer drüstren Meeresflut,
Auf welcher viele rote Lachen schweben,
Wie dunkles Meer, das fleckig ist von Blut.
Ich steh erhöht und richte in Gedanken
Den Blick hinunter auf den Bebel-Platz.
Durchs Mikro höre ich die Stimme zanken,
Sie hallt, und ich verstehe keinen Satz.
Ich kann noch Humboldts schönen Ginkgo sehen,
Im Garten vor der Universität.
Ich seh die Bibliothek in Mauern stehen,
Vom letzten Krieg mit Narben übersät.
Ich kann noch sehn die Bäume Unter den Linden,
Darunter Fahrzeuge der NVA.
Davor kann ich den König Friedrich finden,
Bedeckt mit roten Fahnen sitzt er da.
Vor seines Pferds versteinertem Geschnaube
Marschiert man kommandiert im gleichen Trott
Und schwenkt im Zug Picassos Friedenstaube.
Ich kann das sehen, ich steh erhöht auf dem Schafott.