9. April 2020: Serapion an Mephisto
Bruchstück einer akkadischen Schrifttafel (etwa 2016 v. Chr.):
Einst waren die Menschen zerstreut und zerstritten
Und lebten in weiter Welt verloren.
Da haben sie Kummer und Not erlitten
Und endlich Frieden sich geschworen
Und sich gen Morgen zusammengefunden
Und waren in Mühe und Arbeit verbunden.
Dasselbige Land hieß Sinear,
Dort wohnten sie nun manches Jahr,
Lispelten milde, lächelten nett,
Wurden reicher und fraßen sich fett,
Gingen nach dem Dernier Cri
Geschmückt mit Gold bis über die Knie
Und Kupfer viel und Karneol,
Weideten Schafe, pflanzten Kohl,
Regelten Streit per Gleichstellungsquoten
Und hatten verletzende Wörter verboten.
Da sprach unter ihnen der Gleicheste
(Das war zudem der Reicheste):
„So laßt uns bauen eine Stadt
Mit einen Turm in ihrem Center,
Der nirgendwo seinesgleichen hat.
Dann wird das Leben effizienter!
Den höchsten Turm mit einer Spitze,
Die den Zenit des Himmels ritze.
Hier machen wir uns einen Namen!
Daß nicht zerstreut sei unser Samen
Unter Barbaren fremder Länder
Bis an des Mundus entlegenste Ränder!
Selbst aus der Ferne wie ein Berg,
Einzig in diesem flachen Lande,
Erhebe sich das Meisterwerk
Aus Sinears ödweilig tristem Sande!
Über durch Pfeiler gegliederten Wänden
Sieht man in unterschiedlichen Höhn
Dann Gärten den Menschen Schatten spenden,
Die dort auf den Terrassen gehn.
Zur ersten drei mächtige Treppen führen,
Ihr Winkel wird lassen Erhabenheit spüren
Auf jeder ihrer hundert Stufen,
Wenn zur Prozession berufen
Von oben über dem ebenen Land,
Wie herab vom Himmel gesandt,
In langem Zug gehüllt in Schweigen
Die Priester in wollenen Mänteln steigen
Vom krönenden Tempel der höchsten Etage
Hinab zu den Speichern und Webereien
Und Banken, die das Geld verleihen
An Bürger mit geringerer Gage.
Der höchste Tempel dien’ einzig nur
Der Anbetung unseres Gottes Merkur
Mit seinem schlangenumwundenen Stab,
Dieweil er uns den Wohlstand gab.
In seinem Gemach hinter güldenen Riegeln
Wird glänzen tiefblau die Glasur auf den Ziegeln.
Neben den Tempel kommt gleich das Archiv
Für Schuldverschreibung und Mahnungsbrief,
Die Registratur sowie der Kataster
Nebst Steuerverzeichnis der läßlichen Laster.
Hoch auf des obersten Tempels Dache
Halten dann Astrologen Wache,
Zählen im nächtlichen Dunkel die Sterne.
Deren Bewegungen selbst aus der Ferne
Sollen beeinflussen all unser Streben
Nach Reichtum und Glück, das menschliche Leben
Wie ebenso das Fließen der Flüsse,
Nach Dürren den Tag der Regengüsse,
Und daß die Fruchtbarkeit im Boden
Im Herbst uns schenke die Reineclauden.
Auch haben die weisen Astrologen
Berechnet des Mondes Umlaufbogen
Und in Monat und Woche, wie wunderbar,
Uns eingeteilt das ganze Jahr.
So sei es uns als Menschenwerk,
Das Höchste zu bauen den Götterberg
Für Gott Merkur, dann wird er uns gönnen,
Das Letzte zu wissen und jedes zu können!
Karret an denn den schluffigen Lehm, den weichen,
Und lasset uns daraus Ziegel streichen!
Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk!
Das Feuer entfache der Blasebalg!
Wie wir es von den Vätern her kennen,
So wollen steinhart die Ziegel wir brennen!
Und Frieden und Glück und Wohlstand fürwahr
Wird einziehn beim Turmbau in Sinear!“
Nun war es ein lachend und scherzend Beginnen,
Ein freudiges in die Hände gespuckt,
Ein Schippen und Karren ohne Besinnen,
Da wurde nicht lange grübelnd geguckt.
Doch als gerade nach sieben mal sieben Jahren
Mit der siebten Terrasse sie fertig waren,
Da zeigten sich in der dritten Risse.
Und als sie beseitigt die Ärgernisse,
Da knirschten in der zweiten die Träger,
In der vierten neigten die Wände sich schräger,
Und Unmut zog ein im ganzen Land.
Die Agitatoren, redegewandt,
Entfachten das allgemeine Lästern,
Und allenthalben aus ihren Nestern
Krochen hervor die Brunnenvergifter,
Volksverführer und Unruhestifter!
Die Demagogen und Doktrinäre
Verkündeten als Heil die Lehre:
„Lasset aus unserer Mitte uns jagen
Die vordem hatten die Macht und das Sagen!“
Es drehte sich, wie eine Töpferscheibe,
Das Land: Es hungerten die hohen Räte,
Die Damen stopften selber die Nähte
Der Lumpen, die ihnen hingen am Leibe,
Und wagten sich zu sprechen nicht mehr.
Die Bürger mußten schuften schwer
Und rackernd sich abmühn, sich regen und schwitzen
Und mußten selbst an der Mühle sitzen!
Nicht wieder waren die Noblen zu erkennen,
Als man befahl, von ihrer Brut sie zu trennen,
Das zog durchs Land wie Fieberschauer!
Man warf ihre Kinder auf die Straße,
Die Meute schlug sie an die Mauer
Und schmiß sie hin, den Geiern zum Fraße.
Auch die Beamten waren abgetan,
Kein Amt stand mehr an seinem Platze,
Das Chaos zeigte seine Fratze,
Sinnlose Leute in ihrem Wahn
Der unbeschränkten Selbstentfaltung,
Die raubten dem Lande Maß und Verwaltung.
Und wo du sonst nie hingekommen,
Jedwede Bureaus, die standen offen!
Niemand ward mehr angetroffen,
Weit und breit stand alles leer!
Personenlisten weggenommen!
Und Untertanen gab’s nicht mehr!
Wohin sind gekommen all die Listen
Der Sackschreiber, die sich verpißten?
Oder sie wurden umgebracht,
Ausgetilgt durch Narrenmacht,
Und jeder folgte nun dem System,
Daß derart viel vom Korn er nehm’,
Wie er vom Korn sich nehmen will!
Selbst in den Sälen der Gerichte
Stolzierten blasiert die geringsten Wichte.
Niemand da, der sie verstößt!
Das Haus der Dreißig stand entblößt!
Keiner wagte mehr zu ackern,
Sich beim Bauen abzurackern.
Kein Holz mehr ward ins Land gebracht.
Der Boden lag wüst und außer Acht
Und alles Feld blieb unbestellt.
Jetzt gab es bald kein Getreide mehr,
Denn alle Speicher blieben leer,
Bis in Hungerqualen und Höllenpeinen
Das Futter sie klaubten aus Trögen von Schweinen.
Von nun an hielt man sich nicht mehr reinlich,
Grind und Dreck schienen keinem mehr peinlich,
Kot und Mist lagen kreuz über quer.
Man blickte gehässig, man lachte nicht mehr.
Die Wörter wurden fast täglich diffuser,
Die Sprache unverständlich konfuser.
Die Schreiblehrer waren überflüssig,
Die Kinder des Lebens überdrüssig.
Die Geburten nahmen ab zumal,
Vermindern tat sich der Menschen Zahl,
Und von der Wüste bis hin an das Meer,
Wuchs bei den Menschen nur ein Begehr,
Daß alles sich in den Abgrund zöge
Und endlich zugrunde gehen möge.
Und da begann das Reich des Pöbels
…
(Hier bricht der lesbare Teil der Tafel noch vor ihrer Bruchstelle ab…)
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