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Thalatta ! Thalatta !

Entwahnung

 

8. Januar 2021: Serapion an Mephisto

 

‚Wahrheit‘ definieren wir mit Aristoteles als die Eigenschaft einer Aussage, die sagt, was ist. ‚Gewißheit‘, ‚Sicherheit‘, ‚Evidenz‘ bezeichnen psychische Zustände, in denen es einem Menschen mehr oder weniger unmöglich ist, eine bestimmte Überzeugung sinnvoll zu bezweifeln. Ganz offensichtlich haben diese beiden Eigenschaften (einmal einer Aussage, das andere Mal einer psychischen Befindlichkeit) kaum etwas miteinander zu tun. Entsprechend unterscheiden wir ‚Realität‘ als das von der Menge aller möglichen Aussagen Bezeichnete von ‚Wirklichkeit‘ als der Menge der individuellen oder kollektiven Überzeugungen, an denen ein Mensch, eine Gruppe oder eine Gesellschaft nicht sinnvoll zweifeln kann, ohne sich selbst radikal infrage zu stellen. Solches radikale Infragestellen wird über psychische und soziale Mechanismen zumeist sehr wirkungsvoll verhindert. So darf es uns auch nicht wundern, daß Sokrates wegen Gottlosigkeit (denn alle Theologie scheint auf der Gleichsetzung zu beruhen: ‚Was gewiß ist, ist auch wahr‘, kann sie doch ’nur‘ Gewißheiten vermitteln) und Verführung der Jugend (denn auch die Politik folgt dem gleichen Muster wie die Theologie) zum Tode verurteilt wurde. Bis zum heutigen Tage tun übrigens viele für Religion wie für Politik Verantwortliche fast alles, um diesen Unterschied zwischen Wahrheit und Gewißheit nicht ins allgemeine Bewußtsein dringen zu lassen. Besteht doch gerade das Wesen des Vorurteils darin, daß Menschen ihre Selbstverständlichkeiten als Wahrheiten behaupten. Angewandte Politik und Verkündung eines religiösen Glaubens ist aber zumeist nichts anderes als der Versuch, eigene Gewißheiten auf andere zu übertragen. Das aber funktioniert nur begrenzt bei kritischen Menschen, die die sokratische Unterscheidung (übrigens der Grund aller Weisheit und jeder Toleranz) in praxi zur Kenntnis genommen haben – und danach ihr Entscheiden und Handeln einrichten.

So nimmt es denn nicht Wunder, daß die Geschichte der europäischen Philosophie als Geschichte der Versuche beschrieben werden kann, das sokratische Ärgernis aus der Welt zu schaffen.

 

Rupert Lay Dialektik für Manager

 

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