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Thalatta ! Thalatta !

Kategorie-Archiv: Gedicht

Die Menschen verjessen zu schnell

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Montag, 12. Februar 2024: Serapion an Mephisto

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Trümmer am Alex und Bahnhof Zoo,

am Potsdamer Platz – weeß ick noch wo.

Und denn so richtig als Schwanengesang

die Gedächtniskirche – mittenmang.

Doch bei der – merkt ick zum ersten Male dann,

daß man och Trümmer lieben kann.

Manchmal nämlich – wenn ich in die Geschäfte seh –

voll Gänse – Hummer – Wein – Kaffee –

Denn seh ick in der Scheibe vor dem Fenster –

keene Angst – ick seh nich Gespenster –

Nee – nur die Ruine ganz klar und ganz hell

und ick weiß: Wir vergessen zu schnell:

Wissen se noch – wat et hieß, Kartoffeln zu haben

und stundenlang über Land zu traben

durch Regen, Kälte und den Dreck

nach son bißchen Butter, son kleenet Stück Speck –

Det fällt mir bei die Trümmer so ein!

Doch ick globe, ick bin so ziemlich allein.

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Rolf Ulrich (1921 – 2005) ca. 1953 aus: Die Menschen verjessen zu schnell

Die Entwicklung der Menschheit

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Freitag, 2. Februar 2024: Serapion an Mephisto

Vor mittlerweile 2830 Tagen, am 4. Mai 2016 ( 4.5.16 Mephisto an Serapion ), schriebst Du mir seinerzeit unter dem Titel des Kästner-Gedichts (und weil ich mich dem heute vorbehaltlos anschließen möchte, setze ich zur Erinnerung es Dir noch einmal wortgetreu hierher):

 

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

und die Welt asphaltiert und aufgestockt,

bis zur dreißigsten Etage.

 

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht noch genau derselbe Ton

wie seinerzeit auf den Bäumen.

 

Sie hören weit. Sie sehen fern.

Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.

Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.

Die Erde ist ein gebildeter Stern

mit sehr viel Wasserspülung.

 

Sie schießen Briefschaften durch ein Rohr.

Sie jagen und züchten Mikroben.

Sie versehn die Natur mit allem Komfort.

Sie fliegen steil in den Himmel empor

und bleiben zwei Wochen oben.

 

Was ihre Verdauung übrigläßt,

das verarbeiten sie zu Watte.

Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.

Sie stellen durch Stiluntersuchung fest,

daß Cäsar Plattfüße hatte.

 

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund

den Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Doch davon mal abgesehen und

bei Lichte betrachtet sind sie im Grund

noch immer die alten Affen.

(Erstdruck 1932)

 

Erich Kästner (1899 – 1974)

Kästner, einer meiner fünf Lieblingsdichter, über den Wolfgang Koeppen einst schrieb: ‚Kästner saß im Café neben dem Tod. Gab es einen Engel oder Teufel, der ihn schützte?‘

Um zurückzukommen auf die alten Affen. Wir sollten uns in Europa nicht zu sehr in unseren Illusionen wiegen. Denn es ist überhaupt nicht unwahrscheinlich, daß der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Donald Trump heißt. Und das ist insofern sogar doppelt beunruhigend, da dies geschähe, nachdem sein Vorgänger ausgerechnet Barack Obama wäre, ein Mensch, dem man tatsächlich die besten Absichten unterstellen kann und dessen Amtsantritt mit den höchsten Hoffnungen verbunden war.

Die Hoffnung unserer Zeit, ein tatkräftiger sympathischer Mann, hochintelligent und eloquent und mit den wahrlich besten Absichten als Präsident des mächtigsten Landes unseres Planeten hat es nicht geschafft! Die alten Affen applaudieren seinen Gegnern.

Putin und Trump und und und….

Die Welt wird einem Alptraum immer ähnlicher.“

Bist du Boxer, brauchst du nicht im Ring zu stehn

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Freitag, 24. November 2023: Serapion an Mephisto

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Otto Reutter Ist doch schön so bequem (1929)

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Die neue Zeit

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Dienstag, 15. August 2023: Serapion an Mephisto

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Einst pries sie jeder weit und breit

Als reinste Stadt der janzen Welt,

Jetzt aber hat die neue Zeit

Das alles auf den Kopp jestellt.

Det Volk is frei, die Polizei

Is, wo wat los is, nich dabei,

Die Reinlichkeit is hin,

Der Jroßstadtpöbel triumphiert,

Bis uff die Knochen is blamiert

Die Reichshauptstadt Berlin.

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Franz Kunzendorf (1853 – 1923)

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Fällste um un biste dot!

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Dienstag, 4. Juli 2023: Serapion an Mephisto

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Überall Bakterien!

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Nee, ick sag schon! von Bakterien

Hat man früher nischt jewußt.

Da war’s Essen noch ’ne Freude

Und det Trinken war ’ne Lust;

Aber seit man die Bazillen

Und dergleichen Zeugs erfund,

Is der Mensch total jeliefert,

Allens is jetzt unjesund.

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Les‘ ick da, det äußerst jiftig

Heutzutag Vanillen-Eis;

Früher aß man’s mit Verjnügen

Jeden Sommer massenweis‘;

Heute is selbst die Vanille

Vom Bazillenherd bedroht,

Schmecken dhut se ausjezeichnet,

Aber nachher is man dot.

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Jrüne Aale, sonst det Beste

Wo der Mensch nur haben kann,

Sind nun och nich zu jebrauchen,

Seit der Fischbazillus dran;

Ißt se eener mit Verjnügen

An der Spree zum Abendbrot,

Liejt er jleich in letzten Zügen; –

Zehn Minuten später: dot.

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Krebse, rechte scheene, jroße!

Wie jesund det früher war!

Heute jibt es Krebsbazillen

In dem Oderkrebs sogar;

Hat man sechs Stück ufjeprepelt,

Denkt man jleich: Schockschwerenot,

Warum is mich denn so übel?

Nächsten Morgen is man dot.

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Ooch det Atmen is jefährlich;

Wenn ick gut dir raten kann,

Mitmensch, atme nich zu ville,

Sieh dir erst die Luft mal an;

Kommste in so’n Pilzjewimmel,

Hilft dir keen Karbol und Jod,

Ziehste in den janzen Schimmel,

Fällste um un biste dot.

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Holste dir ’nen netten Schmöker

Aus de Leihbibliapothek‘,

Kriegste gleich ’n Schock – Milliarden

Von Mikroben uf’n Weg;

Kommste uf de vierte Seite,

Wirste im Jesichte rot,

Uf de fünften kriegste’s Fieber,

Bei der sechsten biste dot.

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Det ick mit de Hochbahn rutsche

Kommt mir niemals in den Sinn;

Nee, in die Bazillenkutsche

Da kriegt mir keen Deibel rin!

Steigst in fidel und munter,

Pletzlich spürste Atemnot,

Fährste bis zum Zoo hinunter,

Steigste aus und biste dot.

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Nee, ick sag‘ schon! Von dem Leben

Hat man jarnischt, wie Verdruß,

Weil man die verfluchten Dinger

Immerzu verschlucken muß!

Alle Dage muß man lesen,

Wie det Kleinzeug uns bedroht,

Und wir jroßen Lebewesen

Fallen um – schwapp – mausedot!

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Alexander Moszkowski (1851 – 1934): Überall Bakterien! (1912)

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Unser Deutschtum

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Samstag, 8. April 2023: Der Ritter vom heiligen Geist an Mephisto

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Einwände gegen die Einführung von Straßenbeleuchtungen in deutschen Städten:

Jede Straßenbeleuchtung durch Gas ist verwerflich:

1. aus theologischen Gründen, weil sie als Eingriff in die Ordnung Gottes erscheint.

2. aus juristischen Gründen, weil die Kosten dieser Beleuchtung durch indirekte Steuern aufgebracht werden sollen.

3. aus medizinischen Gründen: die Öl- und Gasausdunstung wirkt nachteilig auf die Gesundheit schwachleibiger und zartnerviger Personen und legt auch dadurch zu vielen Krankheiten den Stoff, indem sie den Leuten das nächtliche Verweilen auf den Straßen leichter und bequemer macht und ihnen Schnupfen, Husten und Erkältungen auf den Hals zieht.

4. aus philosophischen Gründen: die Sittlichkeit wird durch die Gasbeleuchtung verschlimmert. Die künstliche Helle verscheucht in den Gemütern das Grauen vor der Finsternis, die die Schwachen vor mancher Sünde abhält. Diese Helle macht den Trinker sicher, da er in den Zechstuben bis in die Nacht hinein schwelgt, und sie verkuppelt verliebte Paare.

5. aus polizeilichen Gründen: sie macht die Pferde scheu und die Diebe kühn.

6. aus staatswirtschaftlichen Gründen: für den Leuchtstoff Öl der Steinkohle geht jährlich eine bedeutende Summe ins Ausland, wodurch der Nationalreichtum geschwächt wird.

7. aus volkswirtschaftlichen Gründen: öffentliche Feste haben den Zweck, das Nationalgefühl zu wecken. Illuminationen sind hier vorzüglich geeignet. Dieser Eindruck wird aber geschwächt, wenn derselbe durch allnächtliche Quasi-Illuminationen abgeschwächt wird.

Sonntag, 28. März 1819, Cölnische Zeitung

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Ich habe mir erlaubt, anhand einer originalen deutschen Feuerschutzverordnung das deutsche Wesen auch elegisch zu fassen:

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Das deutsche Wesen

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Wenn ein Haus brennt, so muß man vor allen Dingen die rechte

Wand des zur Linken stehenden Hauses, jedoch auch die linke

Wand des zur Rechten stehenden Hauses zu decken versuchen;

Wollte man hingegen zum Exempel die linke

Wand des zur Linken stehenden Hauses decken, so liegt die

Rechte Wand des Hauses der linken Wand ja zur Rechten,

Folglich, da das Feuer auch dieser Wand und der rechten

Wand zur Rechten liegt (denn wir haben gesagt, daß das Haus dem

Feuer zur Linken liege), so liegt die rechte der Wände

Näher dem Feuer als die linke, und also die rechte

Wand des Hauses könnte abbrennen, deckte sie niemand,

Ehe das Feuer an die linke, die ja gedeckt wird,

Käme; folglich könnte etwas abbrennen, das man

Ungedeckt ließe, und zwar eher, als etwas andres

Abbrennen würde, auch wenn man’s nicht deckt, demgemäß muß man

Dieses lassen und jenes decken. Um sich die Sache

Imprimieren zu können, darf man nur merken, wenn das

Haus dem Feuer zur Rechten liegt, so ist es die linke

Wand, und liegt das Haus zur Linken, so ist es die rechte…

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Der „Feuerverordnung“ prosaisches Original findet sich jeweils grinsend zitiert bei Georg Christoph Lichtenberg in seinen Sudelbüchern und in General Carl von Clausewitzens „Vom Kriege“.

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Spottet ja nicht des Kinds, wenn es mit Peitsch und Sporn

Auf dem Rosse von Holz mutig und groß sich dünkt,

Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid

Tatenarm und gedankenvoll.

Friedrich Hölderlin (1770 – 1843)

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Das ganze verkehrte Wesen

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Samstag, 25. März 2023: Heinrich von Ofterdingen an Mephisto

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Wenn nicht mehr Händis oder Uhren

Sind Schlüssel aller Kreaturen;

Wenn die, so singen oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen;

Wenn sich die Welt ins freie Leben,

Und in die Welt wird zurückbegeben;

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

Zu echter Klarheit werden gatten,

Und man in Märchen und Gedichten

Erkennt die ew’gen Weltgeschichten:

Dann fliegt durch ein geheimes Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.

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Novalis (1772 – 1802)

extrem leicht aktualisiert

Nachtrag zum Frauentag: Wenn es Mode wird

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Mittwoch, 22. März 2023: Bellarmin an Mephisto

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Sogenannte Klassefrauen

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Sind sie nicht pfui teuflisch anzuschauen?

Plötzlich färben sich die »Klassefrauen«,

weil es Mode ist, die Nägel rot!

Wenn es Mode wird, sie abzukauen

oder mit dem Hammer blauzuhauen,

tun sie’s auch. Und freuen sich halb tot.

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Wenn es Mode wird, die Brust zu färben

oder, falls man die nicht hat, den Bauch …

Wenn es Mode wird, als Kind zu sterben

oder sich die Hände gelbzugerben,

bis sie Handschuhn ähneln, tun sie’s auch.

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Wenn es Mode wird, sich schwarzzuschmieren …

Wenn verrückte Gänse in Paris

sich die Haut wie Chinakrepp plissieren …

Wenn es Mode wird, auf allen vieren

durch die Stadt zu kriechen, machen sie’s.

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Wenn es gälte, Volapük zu lernen

und die Nasenlöcher zuzunähn

und die Schädeldecke zu entfernen

und das Bein zu heben an Laternen –

morgen könnten wir’s bei ihnen sehn.

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Denn sie fliegen wie mit Engelsflügeln

immer auf den ersten besten Mist.

Selbst das Schienbein würden sie sich bügeln!

Und sie sind auf keine Art zu zügeln,

wenn sie hören, dass was Mode ist.

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Wenn’s doch Mode würde, zu verblöden!

Denn in dieser Hinsicht sind sie groß.

Wenn’s doch Mode würde, diesen Kröten

jede Öffnung einzeln zuzulöten!

Denn dann wären wir sie endlich los.

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Erich Kästner (1899 – 1974)

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Wer schön sein will, muss Fett wegschneiden. Neuer Trend aus Hollywood: Die Buccalfett-Entfernung. Bei diesem Eingriff wird der sogenannte Wangenfett-Proofen von innen entfernt. Ziel der OP: ein markanteres Gesicht. Um die Schönheit der hohlen Wangen wusste schon Film-Ikone Marlene Dietrich (1901–1992), die sich dafür allerdings noch die Zähne ziehen ließ.

Kosten pro Eingriff: ca. 3000 Euro.

Dienstag, 7. März 2023, Bild

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Außen rot und innen weiß

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Sonntag, 12. Februar 2023: Bellarmin an Mephisto

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Feldfrüchte

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Sinnend geh ich durch den Garten,

still gedeiht er hinterm Haus;

Suppenkräuter, hundert Arten,

Bauernblumen, bunter Strauß.

Petersilie und Tomaten,

eine Bohnengalerie,

ganz besonders ist geraten

der beliebte Sellerie.

Ja, und hier -? Ein kleines Wieschen?

Da wächst in der Erde leis

das bescheidene Radieschen:

außen rot und innen weiß.

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Sinnend geh ich durch den Garten

unsrer deutschen Politik;

Suppenkohl in allen Arten

im Kompost der Republik.

Bonzen, Brillen, Gehberockte,

Parlamentsroutinendreh…

Ja, und hier -? Die ganz verbockte

liebe gute SPD.

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Hermann Müller, Hilferlieschen

blühn so harmlos, doof und leis

wie bescheidene Radieschen:

außen rot und innen weiß.

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Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

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»Jenosse«, sahre ick, »woso wählst du eijentlich SPD –?« Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! »Donnerwetter«, sacht er, »nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei«, sacht er, »aber warum det ick det dhue, det hak ma noch nie iebalecht!«

Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

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Der teuflischen Tragödie zweiter Teil

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Samstag, 12. November 2022: Mephisto an Serapion

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Zur Erinnerung:

Es kommen härtere Tage oder Der teuflischen Tragödie zweiter Teil

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Es kommt nun eine Zeit, die werden wir nicht lieben.

Die Jahre zogen hin, wir standen voll im Saft,

Da gab’s die Mastercard, die galt es reinzuschieben,

Und prompt kroch durch den Schlitz soziale Marktwirtschaft.

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Du meinst, das sei nicht so, die Jahre waren mager?

Du kamst mal eben hin und lebtest nicht leger?

Dann zieh jetzt Lehren draus, sonst bleibst du ein Versager

Und siehst, welch Glück in jenen Zeiten blüht, erst immer hinterher…

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