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12. Juni 2021: Serapion an Mephisto
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AN SICH
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SEY dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
Weich keinem Glücke nicht. Steh‘ höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /
hat sich gleich wieder dich Glück / Ort / und Zeit verschworen.
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Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.
Nim dein Verhängnüß an. Laß‘ alles unbereut.
Thu / was getan muß seyn / und eh‘ man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.
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Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
Diß alles ist in dir / Laß deinen eiteln Wahn /
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und eh‘ du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke.
Wer sein selbst Meister ist / und sich beherschen kan /
dem ist die weite Welt und alles unterthan.
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Paul Fleming (entstanden etwa zwischen 1631 und 1640)
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Natur und Kunst
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Saturn und Jupiter
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Du waltest hoch am Tag und es blühet dein
Gesetz, du hältst die Waage, Saturnus Sohn!
Und teilst die Los‘ und ruhest froh im
Ruhm der unsterblichen Herrscherkünste.
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Doch in den Abgrund, sagen die Sänger sich,
Habst du den heilgen Vater, den eignen, einst
Verwiesen und es jammre drunten,
Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind,
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Schuldlos der Gott der goldenen Zeit schon längst:
Einst mühelos, und größer, wie du, wenn schon
Er kein Gebot aussprach und ihn der
Sterblichen keiner mit Namen nannte.
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Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht!
Und willst du bleiben, diene dem Älteren,
Und gönn es ihm, daß ihn vor allen,
Göttern und Menschen, der Sänger nenne!
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Denn, wie aus dem Gewölke dein Blitz, so kömmt
Von ihm, was dein ist, siehe! so zeugt von ihm,
Was du gebeutst, und aus Saturnus
Frieden ist jegliche Macht erwachsen.
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Und hab ich erst am Herzen Lebendiges
Gefühlt und dämmert, was du gestaltetest,
Und war in ihrer Wiege mir in
Wonne die wechselnde Zeit entschlummert:
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Dann kenn ich dich, Kronion! dann hör ich dich,
Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn
Der Zeit, Gesetze gibt und, was die
Heilige Dämmerung birgt, verkündet.
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Friedrich Hölderlin (entstanden etwa 1800/01, Erstdruck 1826)
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Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
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Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
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So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
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Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
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Johann Wolfgang von Goethe (entstanden wohl 1800, Erstdruck 1802)
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