A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Schlagwort-Archiv: Zwangsarbeit

Mephisto an Bellarmin

 

Das A und O im Zuchthaus Brandenburg bildete der Paketempfang. Gegenüber der Weltöffentlichkeit und den Menschenrechtsorganisationen konnten die deutschen demokratischen Diktatoren darauf verweisen: Aber gewiß ist es den Gefangenen im Strafvollzug gestattet, Pakete zu empfangen! Alle Vierteljahr ein Paket! Bis zu drei Kilo schwer! Bei allem Großmut, Ordnung muß sein…

In Brandenburg mußte ich öfter an den staatlich gelenkten „flammenden Protest“ der Propaganda-Solidaritätskampagnen für die schwarze US-amerikanische, black-panther-engagierte Angela Davis denken. Wie man sich Anfang der siebziger Jahre gebrüstet hatte, als die wegen Verschwörung und Beihilfe zu Entführung und Mord (unter anderem an einem Bezirksrichter) angeklagte und später von der „rassistischen Klassenjustiz“ freigesprochene Frau tausende Briefe und Päckchen und Pakete aus der DDR und den „sozialistischen Bruderstaaten“, also immerhin aus dem Ausland der USA, in ihrem „Kerker“ erhalten habe. Und sie habe sich gefreut über die Solidarität und bedankt. Und war dann 1973 zu den „Weltjugendfestspielen“ nach Ostberlin gereist.

Paketempfang im sozialistischen Strafvollzug nur von der genehmigten Adresse.

Und nur bei Normerfüllung.

Wie ich feststellte, schafften 60 bis 80 Prozent der Gefangenen die Norm nicht. Dies konnte ich bequem mittels Prozentrechnung ermitteln. Weil man sich bisweilen nicht entblödete, die Namen der Nichtnormerfüller anprangernd in Listen auf herumhängenden Wandzeitungen auszuhängen. Sie rechneten augenscheinlich nicht damit, daß sich jemand fände, der in Brandenburg die Künste der Addition und Division anwendete. (Die Analphabetenrate unter den ja meist mit dem Urteil „lebenslänsglich“ Gefangenen im Haus 1 betrug nach meiner Beobachtung etwa 25 Prozent.) Gewiß, nach Gesetzeslage hätte man mich deshalb leicht nach Paragraph 99 belangen und mir einen zwei bis zwölfjährigen „Nachschlag“ verpassen können: „wer der Geheimhaltung nicht unterliegende Nachrichten… übergibt… sammelt… zugänglich macht…“ Wenn man mir denn bei meiner staatsfeindlichen Mathematik auf die Schliche gekommen wäre.

Die Anzahl der verbleibenden 20 bis 40 Prozent setzte sich zusammen aus sogenannten Zeitlöhnern und den Normerfüllern. Die dauerhaften Normerfüller waren, so weit ich sehen konnte, liiert mit Zeitlöhnern oder einem anderen Gefangenen, oft in homosexuellen Liebschaftsbeziehungen: Zwei arbeiteten illegalerweise zusammen, um für einen die Norm erfüllen zu können. Zusammenarbeit war streng verboten. Manche mieteten sich auch einen Sklaven. Tatsächlich erlebte ich nur einen einzigen Gefangenen, der auf Dauer allein die Norm schaffte.

Es fehlte ständig an Material und Werkzeugen, was wegen des Normdrucks zu Schlägereien unter den Gefangenen und zu Auseinandersetzungen zwischen den mafiosen Gruppen führte, um eine rare Drahtsorte vielleicht für die handzuwickelnden Elektromotoren. Aus Angst, die Norm nicht zu schaffen.

Der ideale sozialistische Wettbewerb! Es war überhaupt nichts Außergewöhnliches, wenn zwei Gefangene, aufeinander einschlagend, sich über den Boden der Halle wälzten, sich würgten, sich mit einem Gummihammer oder einem der angeketteten Hocker den Schädel oder mit ihren Fäusten oder Knien die Genitalien zu malträtieren versuchten. Wir arbeiteten in zwei Schichten, und es war mehrmals passiert, daß Gefangene, also Schwerverbrecher der A-Schicht sachkundig den verschlossenen Werkzeugschrank der B-Schicht aufbrachen, um sich rarer Werkzeuge zu bemächtigen. Und umgekehrt. So etwas schaffte natürlich böses Blut unter Idioten.

Wer die Norm geleistet hatte, durfte ein Paket empfangen. Der gemeine Normerfüller ließ sich dann gewöhnlich Dinge schicken, welche er möglichst teuer weiterverkaufen konnte, also Intimdeodorante (Wert: 80 Knastmark pro Dose), Parfüme und ähnliche Nützlichkeiten. Denn mit diesen Erlösen ließ sich die vierteljährliche Mitarbeit für die nächste Normerfüllung, das heißt den nächsten Paketempfang finanzieren. Somit erhielt sich der Wirtschaftskreislauf im Haus 1 des Zuchthauses.

Von den übrigen, nicht wenige Gefangene im Haus 1 besaßen keinerlei Verbindungen mehr mit der Außenwelt, versuchten viele sich mit Kartenspielen oder Dienstleistungen oder Erpressungen über Wasser zu halten, um sich etwas Tabak oder Tee leisten zu können. Tabak gab es am Kiosk, Tee gab es während meiner ersten Brandenburger Monate dort nicht. Tee wurde in Paketen geschickt oder geschmuggelt, Tee gab es unter der Hand, Tee war ein Sucht-, Währungs- und Erpressungsmittel bei bestimmten Leuten. Es wurden extrem starke Portionen gebrüht, bestimmte Typen setzten sich damit in Rauschzustände.

Richtiges Geld“ durfte man als Gefangener im Zuchthaus Brandenburg natürlich nicht besitzen, es gab eine besondere Währung. Im Schnitt verdiente ich 14 bis 16 Knastmark im Monat. Damit kaufte ich für 12 Knastmark einem Schweißer seine Milch ab, damit der sich Tabak kaufen konnte. Den Schweißern gestand man nämlich das Milchtrinken zu. So hatte ich die ganze Zeit über täglich einen viertel Liter Milch!

In den Zeiten kurz vor den Lohnauszahlungen wurde das Leben gefährlicher. Dann besaßen sie kein Geld mehr, konnten nichts mehr rauchen und brühen, und das Klima wurde spürbar aggressiver. Wenn sie dann noch alles auf eine Karte setzten und im Spiel verloren oder Versuche des Schuldeneintreibens scheiterten, konnte manches passieren. Erst später ging man dazu über, den Teeverkauf über den Kiosk zu gestatten, um die Situation etwas zu entschärfen. Damit nichts außer Kontrolle geriete. Wahrscheinlich zum Bedauern der strippenziehenden Geheimpolizei, denn manche Gefangene taten viel für eine Brühung… Es war sehr interessant zu beobachten, mit welchen Mitteln und Mängeln man jenes Biotop im Haus 1 erhielt und aus dem Hintergrund steuerte und „stimulierte“, auf bewußt niedrigem Niveau. Wie man soziologisch in menschenverachtender Weise experimentierte. Es gab „Ausreiser“ in Haus 1, die ihren sogenannten Ausreiseantrag zurückzogen, um ein Paket empfangen zu dürfen.

Eigentlich war alles verboten. Die Gefangenen durften ja auch keine Tauchsieder besitzen. Doch jeder, und das war natürlich bekannt, trug einen selbstgebastelten bei sich, um Tee brühen zu können: Zwei abgebrochene Streichhölzer als Isolierung zwischen zwei Rasierklingen plus illegal beschaffter Draht für die Steckdose. Der sozialistische Strafvollzug im Zuchthaus Brandenburg war aber berechnenderweise derart gestaltet, daß jeder Gefangene etwas Verbotenes hatte oder machen mußte oder die Norm nicht erfüllen konnte. Irgend etwas. Damit war jeder per se schuldig und konnte nach Willkür gefilzt und einzelbehandelt werden. Bei vielen Menschen läßt sich mit jener Methode auch vom Gefühl her das Bewußtsein erzeugen, mit einem gewissen Recht einzelbehandelt zu werden. Haben sie doch tatsächlich gegen diese oder jene Vorschrift verstoßen. Und Schuld auf sich geladen. Der Mensch in diesem Biotop war immer schuldig, der strafende Staat hatte immer Recht, und es war lediglich durch Selbstaufgabe möglich, auf eine gnadenhalber gewährte Vergünstigung hoffen zu können. Obwohl man ja ein Hundsfott war, ein Verbrecher. So funktionierte das System des idealen Sozialismus.

Für mich als einzuarbeitender Neuzugang wurde die Norm erst allmählich heraufgeschraubt. So zählte ich anfänglich zu den privilegierten Normerfüllern. Mir wäre sogar einmal der „Rausschluß“ für den abendlichen Empfang einer Sendung des „Fernsehfunks der DDR“ gestattet worden! Wenn ich mich gemeldet hätte…

Gleichwohl, am Beginn war die Norm noch zu schaffen. Diesen Effekt auszunutzen empfahlen mir meine Mitgefangenen. Am Beginn könne ich mir demnach noch den vollen Verdienst erarbeiten für vielleicht unumgängliche Anfangsinvestitionen. Denn mit der Methode einer zeitweisen Erreichung des vollen Verdienstes während der Einarbeitung versuche man anstaltsseitig die Gefangenen zu „stimulieren“. Sie erläuterten mir tatsächlich: „Dann wird man dich stimulieren.“

Anregen, schneller zu arbeiten, weil die Wurst nach und nach höher gehängt würde…

Wie staunte ich, ausgerechnet dem Begriff des „Stimulierens“ im Zuchthaus Brandenburg völlig ernstgemeint zu begegnen. Als sogenannte ökonomische Hebel spielten „das Stimulieren“ und die „materielle Interessiertheit“ eine extraordinäre Rolle in der sozialistischen Wirtschaft. In der Ökonomie der Deutschen Demokratischen Republik, und das war mir immer äußerst bemerkenswert in mehrfacher Hinsicht, meinte „stimulieren“ das Andressieren eines primitiven pawlowschen Reflexes im Hinblick auf Prämiengelder und Lohn- oder Gehaltszuschläge. Also die Dressur, das Abrichten zu sozialistischer Geldgier bei sonstiger Bedürfnislosigkeit. „Subbotnik“ – der Begriff war von den deutschen demokratischen Preußen und Sachsen aus dem „Sowjetischen“ übernommen worden und stand für unbezahlte, „freiwillige“ Arbeitseinsätze am Samstag, also „Subbotnik“ einerseits, welches hieß Appell an freiwillige Hingabe für unentgeltliche Mehrarbeit, bei andrerseits gleichzeitig forcierter Stimulierung, welches hieß Appell an Geldvermehrungsinstinkte – das war mir stets als hervorragendes Beispiel für sozialistisches Zwiedenken erschienen. Der Zielkonflikt zwischen Abrichtung zu kommunistischer Askese und Hingabe „an die Sache“ bei gleichzeitiger „Erziehung“ zu „materieller Interessiertheit“ wurde von all diesen marxistisch-leninistischen „Gesellschaftswissenschaftlern“ mit der „einzig wissenschaftlichen Weltanschauung“, soweit ich bemerkte, nie wahrgenommen.

Im übrigen habe ich auch nichts gegen Pawlow. Auch die Sowjetmenschen hielten viel von Pawlow. („Russen“ durfte keiner sagen, es hatte „Sowjetmenschen“ zu heißen! Sonst kein Arbeiter- und Bauernkind und kein Abitur und kein Studium!) Die überlegene „sowjetische Wissenschaft“! Außerdem glaubte ich, Pawlow könne ja nichts dafür, daß den Kommunisten seine hochgelobten Forschungsergebnisse über den konditionierten und unkonditionierten Speichelreflex bei Hunden als die entscheidende wissenschaftliche Erkenntnis dienen sollte zur Abrichtung sozialistischer Zwangsarbeiter.

Um mich also zu stimulieren, durfte ich während meiner Haftzeit auch ein Paket empfangen. In Worten: Eins. Als es eintraf, schaffte ich die Norm bereits nicht mehr, und die Entgegennahme dieses von der Kontrolle zerfledderten Paketes brannte sich in mein Gedächtnis. Der sogenannte Erzieher weigerte sich anfänglich sogar rundweg, es mir auszuhändigen. Man werde es einbehalten, bis ich die Norm wieder leiste. Wenn nicht, werde es auf meine Kosten zurückgeschickt. Dann plötzlich baute er sich breitbeinig vor mir auf, musterte mich mit einem angewiderten Blick von oben bis unten und sprach langsam und akzentuiert: „Ich… werde… dafür… sorgen…, daß… Sie… nie… wieder… ein… Paket… empfangen… werden…!“

Ich habe im Zuchthaus auch nie wieder ein Paket empfangen dürfen.

Was war das für ein Gefühl! Das erste und letzte Paket auszupacken. Diese Dinge aus der unbegreiflich gewordenen Zivilisation. Aus einer versunkenen Welt. Gerade befand ich mich einen Moment allein in der Zelle, es war Donnerstag, Wäschewechsel. Tat das gut! Alles war so liebevoll, mir zur Freude und zugleich detailreich mit umsichtigem Bedacht zusammengestellt, zur optimalen Ausnutzung der drei Kilo. Ich saß davor, mir kamen die Tränen.

In der Zuchthauszelle in Brandenburg war keine Freude möglich. Alles wühlte auf, alles schmerzte. Ich fand eine Tafel Schokolade. Aus dem Westen. Französische Schokolade. In den Nächten erinnerte ich mich an ihr Aussehen. An den Kopf eines Elefanten mit seinem gebogenen Rüssel auf jedem Stück. Himmlisch, so ein Relief in der Schokolade zu sehen! Eine Schokolade aus Frankreich mit einem Elefanten der Elfenbeinküste!

In einer Zelle im Zuchthaus Brandenburg!

Kein Stück davon hat mir wirklich geschmeckt. Das lag nicht an der französischen Schokolade mit ihrem afrikanischen Kakao. Jedes Stück dieser duftenden, auch während deutscher demokratischer Freiheit nie gekosteten Schokolade, war mir vergällt mit jener Beklemmung dieses schmerzhaften Kontrastes. Allein der Raum, in dem ich die Elefantenschokolade erblickte. Schon das tat weh. Stilbruch tut weh! Im sozialistischen Strafvollzug war Trost unmöglich.

Eines Tages kam mein Freund Ralf mit einer streng geheimen Neuigkeit aus seiner Zelle in die Frühschicht. Nicht lange vor meinem Eintreffen im Zuchthaus Brandenburg, und das hatte er mir bereits erzählt, war ein Gefangener aus Haus 1 „auf Transport“ gegangen, der Roland. Roland war ein Künstler, ein Maler. Für den Fall, daß einer von den beiden „auf Transport“ ginge, hatten Ralf und er genaue Verabredungen und konspirative Kommunikationsgrundsätze miteinander abgestimmt. Und nun hatte Ralf definitiv Nachricht erhalten, über seine Mutter, daß Roland „drüben“ sei und es ihm gut gehe.

Derlei Verabredungen, insbesondere auch über ein verschlüsseltes Kommunikationssystem, waren sehr wichtig, denn sie konnten ernste Konsequenzen nach sich ziehen. Zum Beispiel für die Angehörigen, zum Beispiel für Ralfs Mutter, über die die Nachrichtenverbindung aufgebaut und betrieben wurde. Die Angehörigen machten sich nach dem deutschen demokratischen Unrecht strafbar. „Wer Nachrichten und Verbindungen, die geeignet sind, den Interessen… zu schaden“ und so weiter, verbreitet oder weiterleitet, und noch dazu ins westdeutsche revanchistische NATO-Ausland! Nachrichten über nicht vorhandene politische Gefangene in nicht vorhandenen Zuchthäusern!

Hinzu kam erschwerend, mit den Angehörigen konnte zuvor nichts vereinbart werden, schriftlich sowieso nichts, und mündlich stand während der Besuchszeit in Brandenburg ein Mikrofon in der Tischmitte. Und ich beispielsweise wurde immer derartig plaziert, daß sich rechts neben mir eine für mich undurchsichtige Glaswand befand. Da muß man sich gut verstehen während des Kommunizierens. Um möglichst nichts zu verschlimmern und Verbindungen nicht vollständig zu unterbrechen.

Selbstverständlich war es auch ratsam zu verabreden, ob der freigekommene Gefangene über den zurückgebliebenen im Westen etwas vermelden solle, sei es bei amnesty international in London, bei der IGFM, der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt am Main oder vielleicht im Zweiten Deutschen Fernsehen oder in der Presse oder bei Franz Josef Strauß in Bayern oder bei Oscar Lafontaine, dem ausländischen saarländischen Landsmann des derzeitigen deutschen demokratischen Diktators aus dem Saarland, oder bei Wolfgang Schäuble im Bonner Bundeskanzleramt. Oder lieber nicht. Denn das konnte immense Konsequenzen nach sich ziehen, sowohl für den Inhaftierten als auch für seine um ihn zitternden Angehörigen. Im Guten, natürlich, aber, vielleicht sogar häufiger, im Bösen.

Das Verbindungssystem zwischen Ralf und Roland über Ralfs Mutter funktionierte augenscheinlich. Das tat schon mal so gut wie das Wissen um das erfolgreiche Aufsetzen einer Marsfähre. Weitergehend hatten die beiden verabredet, daß Roland der Mutter Ralfs ein Paket übermittle, in welchem sich neben dem präzise definierten Inhalt auch ein Glas mit Honig befände. Von der Mutter umzupacken für Ralf im Zuchthaus Brandenburg. Als Ralf nun die Nachricht von der Ankunft des Honigglases bei seiner Mutter erhielt, erklärte er mir: „Jetzt mach ich die Norm!“

Und dann schuftete Ralf wie ein Alexei Stachanow in der ruhmredigen Sowjetpropaganda und sein „spontan“ nacheifernder ostdeutscher Normbrecher Adolf Hennecke, und machte die mörderische Norm. Nur eben nicht gerade mit russischer, also wie üblich schwachsinnig gigantoman 1300 prozentiger oder ostzonal-lumpiger 387 prozentiger Übererfüllung. Und Normerfüllung auch nur punktgenau bis seine Mutter ihm das umgepackte Dreikilowestpaket ins Zuchthaus expedieren durfte. Dort traf es ein, und das Paket lief unbeanstandet durch jegliche Kontrolle! Und schließlich konnte Ralf endlich die süßen, wohldefinierten Halbleiterbauelemente für den illegalen Radiobau im Haus 1 des Zuchthauses aus dem Honig fischen… Das hatten Ralf und Roland sich bestens ausbaldowert, und es hatte geklappt. Am Folgetag stellte Ralf die Stachanow- und Aktivistenbewegung also ein und verabschiedete sich wieder vom Akkord.

Zwei, drei Wochen später, als wir nach Beendigung der Frühschicht eben aus der Halle treten, werden Ralf und ich gezielt aus der Reihe der Häftlinge abgefangen und beiseite beordert. Wir haben uns an die Wand zu stellen und werden erst einmal gefilzt. Zum Glück nur oberflächlich. Schließlich werden wir von Wachmännern zwei Stockwerke aufwärts geführt und in einen größeren Raum geschlossen. Darin warten bereits etwa zehn Gefangene, die dasselbe Geschick ereilt hatte. Unter ihnen befindet sich auch der großgewachsene Schwarze Peter, ein gutmütiger Totschläger aus meiner ersten Zuchthauszelle in Brandenburg. Er schuftete als heimlicher Sklave für die Normerfüllung eines Gefangenen aus meiner derzeitigen Zelle, einen ehemaligen Parteisekretär, also für einen ehemaligen Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Ostdeutschlands. Zumindest diesem geistig-kulturellen Niveau schien der Parteisekretär jedoch irgendwann entwachsen zu sein, denn er war infolge seines enthemmten merkantilen Gebarens und Bereicherungsstrebens von seinen Genossen fallen gelassen worden. Man hatte ihn zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er sollte zum Beispiel einen Schmugglerring aufgebaut haben. Mit Leuten, welche ihm die im Osten begehrten und dortselbst damals unerhältlichen Digitalarmbanduhren aus dem Westen einschmuggelten. Die der Parteisekretär dann zu horrenden Preisen weiterverkauft hatte oder hatte weiterverkaufen lassen. Er muß es aber toll getrieben haben und in extreme Ungnade gefallen sein bei seinen das staatliche Monopol unterlaufenden Devisengeschäften. Ihm war im Zuchthaus noch nicht einmal ein Zeitarbeiterposten beschafft worden, völlig entgegen den Gepflogenheiten, wie ich es sonst bei harmlosen „Wirtschaftsverbrechern“ beobachten konnte. Gnadenlos, wie die Politischen, mußte der Exgenosse nun im Akkord schuften. Augenscheinlich gedachten sie, ihn ganz schön fertig zu machen zur Abrichtung für künftige Aufgaben. Denn wie sollte ausgerechnet der im Wohlleben Verwöhnte den Akkord durchhalten?

Der Exparteisekretär strampelte heftig, um dem ihm zugemessenen Geschick zu entrinnen. Da die Norm nicht zu schaffen war, hatte er natürlich im Hintergrund seine Strippen gezogen. So ließ er heimlich den Schwarzen Peter die fehlenden Maschinen für ihn wickeln. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, noch rechtzeitig vor seiner Verurteilung und selbst an den Augen der gewiß nicht zimperlichen sozialistischen Gerichtsbarkeit vorbei, genügend Aluminiumgeld beiseite zu schaffen. Denn er ließ draußen der Familie des Schwarzen Peters monatlich 800 DDR-Mark auszahlen als Miete für seinen Arbeitssklaven. Und damit galt der fleckgesichtige Exparteisekretär als Normerfüller.

In der geräumigen Zelle, in die man Ralf und mich geschlossen hatte, wiederholte der Schwarze Peter nun ein ums andere Mal empört die Frage, was das solle. Was man wohl mit uns vorhätte, und er wurde nicht müde, das vorerst nicht Klärbare in einer Gruppe der Gefangenen ergebnislos zu erörtern. Schließlich ließen sich Schuh- und Stiefelgetrappel vernehmen, man schloß auf und herein strömten etliche Wachmänner, „Erzieher“ und? Und die „Kuhlmannsche“, wie Nana, der Boß unter den sieben schwulen Mitgefangenen meiner ersten Zuchhauszelle, den Chef des Hauses 1 bezeichnete. Böse funkelnden Blickes bauten sie sich vor uns auf.

Nur die „Kuhlmannsche“ setzte sich schnell hinter einen quadratischen Tisch. Denn der Mann konnte sogar im Sitzen brüllen. Es ging das Gerücht, daß er mißliebige Gefangene mit einem schweren Schlüsselbund schlüge.

Die Atmosphäre hatte jedenfalls etwas von einem Standgericht. Der Herbergsvater verlas Namen. Die Aufgerufenen leisteten die Norm nicht. Das sei Arbeitsverweigerung. Das sei asoziales Verhalten. „Auf Kosten unserer Werktätigen!“ Sowas werde nicht geduldet in unserem Staat! Wenn wir für unseren Lebensunterhalt nicht aufkämen, werde das für jeden einzelnen ernste Konsequenzen nach sich ziehen.

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“

Dann wurde einzeln jeder namentlich aufgerufen und minutenlang angebrüllt. Das ließ ich stoisch über mich ergehen. Jede seiner dümmlich-rhetorischen Fragen ließ ich unbeantwortet. Das war kein Problem. „Die Kuhlmannsche“ hörte sich gern selber brüllen. Er schimpfte, daß ich lieber in der Halle säße und „Brühungen“ tränke, anstatt zu arbeiten. Und da hatte „die Kuhlmannsche“ Recht! Mein Lotterleben werde er mir aber austreiben! „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ Das ließ mich kalt. Ich erhielt sowieso nur noch die „Nichtarbeiterverpflegung“, also einen reduzierten Essenssatz. Schade, daß mir ein Paket ausgehändigt worden sei. Das werde nicht noch einmal passieren! Im übrigen, ich werde verklagt werden! Ich sei verpflichtet zu arbeiten, sonst falle ich unter den Paragraphen für asoziale Schmarotzer. „Das gibt dann einen schönen Nachschlag! Solange bis die Norm erfüllt wird! So schnell kommen Sie hier nicht wieder raus! Wolln doch mal sehn, wer am längeren Hebel sitzt!“

Als die Reihe an den Schwarzen Peter kam, löckte der empört wider den Stachel. Er war sichtlich gekränkt. Das sei ungerecht, er arbeite die ganze Schicht über pausenlos und habe sich auch zu jeder Sonderschicht gemeldet. „Ja melden, melden, melden, das kann sich jeder! Du mußt nicht faul rumhängen, du mußt arbeiten! Weißt du überhaupt, was arbeiten ist? Du mußt die Norm erfüllen! Warum machst du die Norm nicht, wenn du angeblich arbeitest? Wir werden dir das Arbeiten hier schon noch beibringen! Bei deiner Faulheit wirst du nie ein Paket kriegen!“

Den Paketempfang erwähnte er bei jedem, und ich konnte den meisten ansehen, daß dies sein stärkstes Argument war. Wie sie sich trotz des hervorgekehrten Desinteresses doch beeindrucken ließen von der Aussicht, über Jahre vielleicht von jedem Paketempfang ausgeschlossen zu werden. „Die Kuhlmannsche“ wußte genau, da hingen ganze Existenzen dran.

Dann, zum Schluß, wahrscheinlich war es als Höhepunkt geplant, zum Schluß kam die Reihe an meinen Freund Ralf.

Und der Plan wurde erfüllt.

Sie sind ja nun das Letzte! Sie können nicht abstreiten, daß Sie vorsätzlich die Arbeit verweigern! Sie haben bewiesen, daß Sie die Norm erfüllen können! Und einen Tag, nachdem er das Paket gekriegt hat, leistet der Kerl die Norm nicht mehr! Das ist ja nun der Gipfel an Verlogenheit! Damit haben wir Sie überführt! Sie betrügen vorsätzlich unseren Staat! Das werden Sie büßen! Erst einmal: Nie wieder, dafür werde ich sorgen, das garantiere ich Ihnen persönlich, da hänge ich mich rein, nie wieder wird man sich darauf einlassen, Ihnen ein Paket auszuhändigen! Das haben Sie sich verwirkt für den Rest Ihrer Haftzeit! Und die wird lange dauern!“

In einem Moment der Stille des Wartens auf die Wirkung, wenigstens auf eine kleine Reaktion, hörte ich den Ralf sagen mit einer vollkommen ruhigen, deutlich vernehmbaren Stimme: „Ich will kein Paket mehr!“

Plötzlich wurde aus dem kurzen Moment der Stille ein langer.

Das gab es nicht! Das hatte es noch nie gegeben!

Ein Gedanke, den sie alle, sowohl die Gefangenen als auch ihre Bewacher, ich sah es deutlich in dem Augenblick, noch nie gefaßt hatten zwischen ihren Gehirnschalen: Im Zuchthaus kein Paket empfangen zu wollen!

Durfte man das?

Die große Vergünstigung ablehnen? Auf der das ganze pawlowsche System des Sozialismus beruhte? Die ganze Deutsche Demokratische Republik in Frage stellen? Das als erstrebenswert Vorgegebene, die sozialistische Stimulanz, die Wurst an der hochgezogenen Angel? Die Etagenwohnung mit Innen-WC, die schöne Schrankwand ohne dreijährige Wartezeit, die Westreise, den GENEX-Wartburg ohne zwölfjährige Wartezeit, die Teilnahme am Pfingsttreffen der FDJ, den Urlaubsplatz bei Jugendtourist, den importierten VW Golf, den Kollektivausflug in den Palast der Republik, die Jahresendprämie, den Titelkampf, das Banner der sozialistischen Arbeit, die Fliesen fürs Bad, das goldene Schießabzeichen?

Und dann sagt der Kerl, er will das nicht?

Und pfeifft auf all das Schöne und Gute im Sozialismus?

Der „Kuhlmannschen“ entfuhr es bebend: „Sie! Sie! Sie! Was ist drei mal sieben?“

Arrest“, antwortete Ralf vollkommen überlegen.

Die „Kuhlmannsche“ brüllte: „Ich hab Sie nicht nach Arrest gefragt, ich habe Sie gefragt, was dreimal sieben ist!“

Ralf schwieg.

Einundundzwanzig Tage! Sie gehn für einundzwanzig Tage in den Arrest!“

Er erhob sich und brüllte nun im Stehen weiter:

Und wenn Sie dann immer noch nicht die Norm machen, kommen Sie wieder in Arrest! Noch mal einundzwanzig Tage! Solange in Arrest bis Sie die Norm erfüllen! Das schwör ich Ihnen!“

Einstweilen wurden wir jedoch erst einmal heruntergeschlossen in den Essensaal, denn es erwiesen sich sämtliche Arrestzellen als belegt. Die Essenpause für unsere Schicht muß gerade beendet gewesen sein, denn in dem Saal lungerten nur noch wenige Gefangene herum und harrten ihrer Wegschließung. Deswegen auch keine Schlange mehr an dem Kiosk, und so konnten Ralf und ich uns nähern und sehen, daß man ungewohntermaßen ein paar Stück Streuselkuchen anbot. Für eine Mark ein kleines und für zwei Mark ein größeres, ein normales Stück.

Streuselkuchen!

Das war sensationell, solch eine Vergünstigung für uns Verbrecher. Es handelte es sich gewissermaßen um ein humanitäres Sonderangebot.

Ich erblickte ein schmächtiges altes Männlein, welches sich vor den Streuselkuchen herumdrückte. An seinem hervorstehenden Adamsapfel konnte man leicht ablesen, wie es immer aufs neue schluckte. Vor einiger Zeit hatte ich erfahren, bei dieser traurig auf den Kuchen starrenden Gestalt sollte es sich um einen so genannten KVauer handeln. Um einen wegen Kriegsverbrechen abgeurteilten nationalsozialistischen Staatsanwalt. Ein Kriegsverbrecher, von denen mir in Brandenburg schon einige begegnet waren. Der Mann hier stand bereits in einem Alter, daß man ihm, wie den anderen Alten in diesem Zuchthaus, ein Gnadenbrot zubilligte: Der Mann brauchte nicht mehr zu arbeiten, kriegte aber bis an das Ende seiner Tage fünf Knastmark im Monat.

Nun stand der Alte einem Stück Streuselkuchen gegenüber und schluckte. Und da geschah es völlig übergangslos: Der eben zusammengeschriene und arrestbedrohte Ralf kommt dort an, sieht den Kerl, und ohne auch nur im geringsten zu zögern und zu zucken, hangelt Ralf seinen Brandenburger Brustbeutel mit dem Knastgeld heraus, drückt dem verdutzten Nazi-Staatsanwalt zwei Scheine in die Hand, und ich höre ihn sagen: „Da, kauf dir den Kuchen!“

Die Sozialisten hatten uns mit alten und jungen Nationalsozialisten auf engstem Raum zusammengesperrt. Mir war damals unbekannt, daß der Nazi-Staatsanwalt Oberstkriegsgerichtsrat Roeder, der vierzig Jahre zuvor voller scharfen Eifers meinen Vater und viele schöne Menschen hatte aburteilen lassen, davon Dutzende für Nichtigkeiten zum Tode, so wie die erst 22 jährige katholische Studentin Eva-Maria Buch wegen des Verfassens eines Flugblatts für französische „Fremdarbeiter“, daß dieser extra wegen seines unnachgiebigen Ehrgeizes als Ankläger berufene Dr. Roeder nach dem Krieg in Westdeutschland hochgeehrt und im Taunus zum Bürgermeister eines Städtchens gewählt worden und später friedlich, nach dem Verzehr einer ordentlichen Pension, in seinem Bett verstorben war. Ohne jemals ernsthaft belangt worden zu sein. Damals wußte ich das nicht und kannte keinen Namen, und so hatte ich mir schon manches Mal beim Ansichtigwerden jenes im Brandenburger Zuchthaus einsitzenden Staatsanwaltes gesagt: Das ist er vielleicht, der könnte deinen Vater gequält haben!

Was ich eigentlich sagen wollte: Ich bin dagegen, daß man alte Leute einsperrt. Irgendwann ist es zu spät.

Mephisto an Serapion

Mir gegenüber am sogenannten Band, also diesem riesigen Arbeitstisch, schuftete im Zuchthaus Brandenburg der Rainer bei der deutschen demokratischen Zwangsarbeit. Er mochte etwa Mitte dreißig sein und war wegen Militärspionage zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Seine Frau hatte man zu drei Jahren Haft verurteilt und auf die Burg Hoheneck gebracht. Ihre beiden Kinder, zwei Jungen, der ältere war vielleicht zwölfjährig, hatte man in ein sozialistisches Kinderheim gesteckt. Doch der Zwölfjährige war von dort ausgebrochen. Er hatte sich ganz allein durchgeschlagen zu den über achtzig Kilometer entfernt auf einem mecklenburgischen Dorf lebenden Eltern seines Vaters. Dadurch hatten die überhaupt erst erfahren können, wohin ihre Enkel verschleppt worden waren. Sie schafften es, auch den jüngeren, achtjährigen Sohn herauszupressen aus der Abrichtung zum Untertanen. Sie konnten es sogar noch durchsetzen, beide Kinder zu sich nehmen zu dürfen.

Ich erlebte es, als sein Vater starb, brachte man nicht die elementare Menschlichkeit auf, Rainers demütiges Gesuch um Teilnahme an der Beisetzung zu bewilligen.

Auch mit Rainer lernte ich einen sehr interessanten Menschen kennen. In seinem früheren Leben war der Rainer einerseits Sicherheitsinspektor in einer bedeutenden musealen Einrichtung des Staates gewesen. Andererseits jobbte er an Wochenenden in einer Tankstelle. Und notierte sich die Nummern von Fahrzeugen der Geheimpolizei. Einerseits war Rainer Mitglied der atheistischen Sozialistischen Einheitspartei Ostdeutschlands, der Partei mit der einzig richtigen, der wissenschaftlichen Weltanschauung. Andererseits hatte er sich als tiefgläubiger Mensch den Baptisten angeschlossen. Beiden Seiten verschwieg er die andere Mitgliedschaft.

Mir verkörperte Rainer in gewisser Weise die auf die Spitze getriebene Typisierung des DDR-Bürgers.

Doch warum notierte er sich die Autonummern der Geheimpolizei? Weil, Rainer wollte mit seiner Frau und den Kindern weg aus der Deutschen Demokratischen Republik. In der er sich, zum Beispiel in religiöser Hinsicht, unterdrückt fühlte. Er wollte in die Bundesrepublik, er wollte im anderen Teil Deutschlands leben. Aber wie? Als Sicherheitsinspektor konnte er keinen Ausreiseantrag stellen. Das heißt, ihn stellen, hätte er schon können. Aber als hochintelligenter Mensch rechnete er sich sogar Schlimmeres aus als keine Chance für eine Bewilligung seines Antrages. In seiner Verzweiflung war er nun der Idee verfallen, an die andere Seite des besseren Deutschlands heranzutreten und dabei vermeintlich wichtige Informationen anzubieten. Mit der Bitte um Unterstützung bei der Übersiedlung für sich und seine Familie.

Also unternahm er mit dem Auto eine Ferienreise nach Prag, samt Frau und Kindern. Dort suchte er die bundesdeutsche Botschaft auf, übergab die Liste mit den Autonummern und bat um Hilfeleistung für seine Bemühungen um Entlassung aus der ostdeutschen Staatsbürgerschaft.

Mich wunderte, daß Rainer nicht gleich bei der Rückreise verhaftet worden war. Doch sie kamen gut zu Hause an, und Rainer setzte seine Inspektionstätigkeit anscheinend unbehelligt fort.

Nun besaß seine Frau aber noch eine verheiratete Schwester, und diese und ihr Mann mochten ebenfalls nicht länger in dem Deutsche Demokratische Republik genannten Polizeistaat auf deutschem Boden weilen. Zum Zwecke des Abhebens hatten sie sogar ein Flugzeug konstruiert und eigenhändig zusammengehämmert. Während meines Verbrecherlebens war ich Ballonbauern, Taucherausrüstungsbauern und U-Bootbauern begegnet. Alles kluge Leute und geschickte Bastler, die meisten hinter Gittern. Und zwar weil sie unter schwierigsten Bedingungen ihre Maschinen heimlich und findig für eine einzige, alles entscheidende, lebensgefährliche und lebensverändernde Reise erbaut hatten. Doch ausgerechnet die war illegal. Also intelligente sensible Menschen fühlten sich in dem Staat, dessen Eingeborene über all die Jahrzehnte, ohne die Wahlkabine auch nur zu betreten, zu anscheinend neunundneunzig zwei drittel Prozent ihre Stimmzettel für die Kandidaten der Nationalen Front entgegennahmen, vor aller Augen zusammenfalteten und in die Urnen warfen, sich offenbar derart unwohl, daß sie alles daransetzten und unter bedrohlichen Umständen konspirativ komplizierte Ausbruchswerkzeuge erdachten und zusammenleimten, um unter Lebensgefahr zu fliehen aus der angeblich besten aller Welten, aus der Krönung der Menschheitsgeschichte. Warum also nicht auch mal Flugzeugbauer? Im Privatleben war man Zierfischhändler.

Besagter Schwager befand sich ebenfalls in Brandenburg, allerdings in einem anderen Arbeitskommando. Ich sah ihn beim Gottesdienst. Die Schwägerin weilte inzwischen, wie ihre Schwester, auf Burg Hoheneck. Denn als das Fluggerät fertig war, hatte man vor dem Jungfernflug, der gleichzeitig der einzige Flug der Maschine werden sollte, erst noch einiges überprüfen müssen. Rainer und seine Frau unterstützten tatkräftig den Zierfischhändler und seine Frau beim Auf- und Abbau des Apparates. Bei jenem letzten Countdown waren die beiden Ehepaare dann plötzlich verhaftet worden. Vor Gericht erklärten Sachverständigengutachten ihre Maschine für „voll flugfähig“.

„Weißt du“, erzählte Rainer mir, „wenn bei der Stasi Besuchszeit war, wenn meine Frau und ich uns endlich wiedersahen, dann haben sie uns das vorher nie gesagt. Immer wurde einer von uns durch die Gänge in einen Raum geführt, und dann ging die Tür auf, und da saß der andere schon mit dem Vernehmer am Tisch. Und dann saßen wir uns urplötzlich gegenüber, auf jeder Seite ein Vernehmer, und wir konnten uns nie etwas sagen. Weil wir nur geweint haben! Dann war die halbe Stunde vorbei, und wir wurden wieder abgeführt. Nicht ein einziges Mal hat man uns vorher gesagt, daß wir uns jetzt wiedersehen würden.“

In Brandenburg, im Strafvollzug, betraf es nicht wenige, bei denen gleichzeitig weibliche Familienangehörige im Zuchthaus Hoheneck inhaftiert worden waren. Zum überwiegenden Teil handelte es sich bei dieser Familienhaft wohl eher um ein Merkmal politischer Gefangener. Da sahen sich die Ehepaare alle halbe Jahre einmal. Nach meiner Erinnerung war das so geregelt: Während eines Kalenderjahres ging einmal ein Transport mit Ehemännern nach Hoheneck und einmal ein Transport mit Ehefrauen nach Brandenburg. Besuchszeit jeweils eine Stunde. Bei aller Großzügigkeit, selbstverständlich mußten die Transportkosten zuvor von den Gefangenen erarbeitet werden. Sie wurden im voraus vom Verdienst abgezogen. Mein Verdienst während der Akkordarbeit für den VEB ELMO Wernigerode (ELMO für Elektromotoren) betrug, in einer besonderen Währung, 14 bis 16 Knastmark im Monat. Plus kostenfreier sogenannter Nichtarbeiterverpflegung plus mietfreiem Wohnen! Von meinem Lohn bezahlte ich mit monatlich 12 Knastmark meinen täglichen Viertelliter Milch, den ich einem Schweißer abkaufte. Die Schweißer erhielten pro Tag einen Viertelliter Milch.

Und natürlich und voller Wonne wurde der Besuch bei der kleinsten Unbotmäßigkeit abgebrochen. Einmal war zum Entsetzen aller Anwesenden, wie man mir berichtete, von den sogenannten Wachteln eine vor Schmerz schreiende Gefangene aus Hoheneck an ihren Haaren aus dem Besuchsraum herausgezerrt worden, wegen irgendeines Fehlverhaltens, eines angeblichen Fehlverhaltens. Der Besuch war beendet, bevor die ersten fünf Minuten vorbei waren. Dieses lehrt, wie man Verbrecherinnen zu vernünftigen Staatsbürgern „erzog“.

Ich saß auf meinem angeketteten Hocker am Ende des Bandes. Oder an seinem Anfang. Zwischen den beidseitigen Bändern jener enormen Werkhalle befand sich rechts neben mir der Gang zu der unmittelbar hinter meinem Arbeitsplatz gelegenen Materialausgabe. Auf meiner linken Seite, aber am anderen Ende des Bandes, an der Hallenwand, arbeitete Öli. Ein dunkelhaariger, ruhiger, stets freundlicher und hilfsbereiter Mann. Öli hatte das Urteil „lebenslänglich“. Es stand zu vermuten, daß der staatliche Zorn ihn nie wieder herauslassen werde. Was hatte Öli getan? Er war zum Wehrdienst eingezogen worden. Und Öli war Katholik und hatte eines Tages seinen Vorgesetzten um die Erlaubnis eines sonntäglichen Freigangs ersucht, um an einem Gottesdienst teilnehmen zu können. Dies hatte man nicht nur abschlägig beschieden, sondern obendrein hatte man ihn unsäglich zu drangsalieren begonnen und ihn der Truppe zur allgemeinen Quälerei ausgeliefert. Kollektiverziehung. Denn dazu waren sie ja da, die Kollektive. Das hatte er nicht lange ausgehalten. Er war gerade dabei gewesen, den letzten Grenzzaun zur Bundesrepublik zu überklettern. Er hing bereits in den Drähten, als er unmittelbar hinter sich plötzlich das wohlbekannte Entsicherungsklicken einer Kalaschnikow vernahm. Nach einer Schrecksekunde sprang er kurzentschlossen rückwärts und landete tatsächlich auf einem um sich schlagenden Grenzer. Ich weiß nicht mehr die näheren Umstände, ob es sein Patrouillen-Begleiter war. Jedenfalls löste sich in dieser Gemengelage mindestens ein Geschoß und verletzte den Grenzer im Bauch. Öli hätte nun freie Bahn in den Westen gehabt. Doch Öli rannte in die andere Richtung und holte Hilfe.

Die Hilfe kam zu spät.

Öli erzählte mir, sie hätten ihn ein halbes Jahr lang gezwungen, in einer fensterlosen Zelle von morgens bis abends in vorgeschriebener Haltung an einem Tisch zu sitzen. Außer zu der zu erbittenden Verrichtung der Notdurft und zum Essen habe er sich nicht rühren dürfen. Das war durch einen Posten minutiös überwacht worden.

Öli, und das nahm ihm niemand übel, versuchte sich mit den Wärtern im Zuchthaus gut zu stellen. Öli im Zuchthaus und seine Eltern draußen kämpften inbrünstig darum, sein Lebenslänglich in eine Zeitstrafe umzuwandeln. Bisher vergeblich. Zu meiner Zeit freute Öli sich dennoch. Er hatte nämlich eine Schwester. Die hatte er noch nie gesehen. Aber sie schrieb ihm und war mittlerweile vierzehn. Und sie wollte ihren Bruder besuchen kommen. Und dieser Besuch schien gestattet zu werden. Es gab Hinweise, Anzeichen und Hoffnung auf Aussichten.

Wenn ich meine Maschine fertig gewickelt hatte, winkte ich immer den „Stempler“ heran, der mit Hammer und Prägemeißel durch einen kräftigen Schlag auf den „Ständer“ des Elektromotors ihn in seiner speziellen Wicklungsart kennzeichnete. Der Stempler war ein untersetzter Mann, neben „Kommunistenwilhelm“ einer der beiden einzigen Zeitlöhner mit einem politischen Paragraphen in der Halle. Denn er war unfähig, im Akkord zu arbeiten, aus gesundheitlichen Gründen. Einst sollte der Mann auch ein paar Zentimeter größer gewesen sein. Aber infolge einiger Schußverletzungen im Rückgratsbereich war er aus seinem natürlichen Wuchs sozusagen zusammengestaucht worden. Und zwar hatten er und seine Frau ihre beiden Kinder in ihrem Skoda auf der Rückbank verstaut und waren mit dem Fahrzeug in vollem Tempo auf die Paßkontrolle zugerast, an einem Grenzübergang Richtung Westen, ich glaube in der ČSSR, ohne sich durch etwaige Haltesignale oder Drohgebärden abbringen zu lassen vom Druck auf das Gaspedal. Selbst nicht, als in ganzen Feuerstößen scharf und gezielt auf sie geschossen worden war. Und solange nicht, bis vor ihnen aus der Betonpiste plötzlich eine künstliche Barriere aufstieg, gegen die sie unrettbar prallten. Auch die Frau des Stemplers soll schwer verletzt worden und in ihrer Körpergröße merklich reduziert worden sein. Ihre Kinder wenigstens blieben unverletzt. Ihre Kinder hatte man ihnen weggenommen.

Links neben mir arbeitete ein Mann, den alle nur mit seinem Spitznamen „Fichte“ anredeten. Die Namensgebung sollte zurückgehen auf den alten Arbeitersportverein „Fichte“. Zum einen weil Fichte sonntags auf dem Pausenhof im weißen Unterhemd einige Turnübungen betrieben hatte. Zum anderen weil Fichte als vielleicht Sechzigjähriger seinen Mitgefangenen als uralter Mann galt. Fichte war ein Bankknacker der alten Schule. Das heißt ein Bankknacker, der lieber filigran mit Intelligenz und Werkzeug Tresore knackte als mit Sprengstoff. Und der seiner Intelligenz zum Trotz nun bereits mehr als die Hälfte seines Lebens hinter Zuchthausmauern verbracht hatte.

Du wirst fragen, ein Bankknacker im Sozialismus?

Seine besten Dinger hatte er freilich im Westen gedreht. Er stand eher auf harte Währung. Aber als ihm dort eines Tages der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, weil seine Verfolger ihm unmittelbar auf den Fersen waren, er anderweitig jedoch nicht mehr wegkonnte, meldete es sich kurzentschlossen an der Grenze des besseren Deutschlands. Mit der Anfrage, ob sie ihn nähmen. „Die haben mir tatsächlich erklärt, wir hätten ja dasselbe Ziel: ‚Auch wir kämpfen gegen das kapitalistische Bankkapital!'“

So konnte er sich dem Würgegriff der kapitalistischen Ausbeuter entziehen und als unbescholtener Staatsbürger in der Ost-Berliner Halbstadt Restpreußens und Sachsens siedeln. „Ich wollte ja, sobald sich drüben die erste Aufregung gelegt hätte, wieder zurück. Und nach Südamerika. Die Vorbereitungen waren gerade angelaufen, da haben sie plötzlich die Mauer hochgezogen!“

Aktuell hatten sie ihm fünfzehn Jahre verpaßt: „Lebend kommen Sie hier nicht wieder raus!“

Eines Nachts auf der Straße hätten bestimmte Typen seine Freundin belästigt, er wäre hinzugeeilt. Das hätte zu Handgreiflichkeiten geführt. Schließlich hätte er sich nicht anders mehr zu helfen gewußt, als seinen Revolver zu ziehen. Einer der Angreifer wäre verletzt worden mit einem glatten Wangendurchschuß. Und allein dies, in Verbindung mit seinem Waffenbesitz, hätte vor Gericht gegolten.

Daß Fichte als gefährlich galt, konnte ich schon daraus erkennen, daß er beim Besuch seiner über achtzigjährigen Mutter den „Sprecher“ nur hinter Glas erhielt. Und daß er sich sogar einer Einzelzelle erfreute. Bis auf die unvermeidliche Zwangsarbeit wollte man ihn lieber nicht mit anderen Gefangenen zusammensperren. Mit all seiner Erfahrung aus West- und Ostknästen war er extrem schlau im Dinger drehen und genoß unter den Gefangenen den gebührenden Respekt.

Für mich war es ein Glück, ihn neben mir zu haben. Wir mochten uns. Und wir konnten über viele Dinge sprechen und langweilten uns nie während der eintönigen Arbeit. Mitunter forderte ich ihn heraus zu einem Knastvergleich zwischen den verschiedenen Systemen. Fichte erzählte. Häufig schwärmte er zum Beispiel, daß es im Westknast einen sogenannten Lesezirkel gebe: „Also, du brauchst dir die Zeitschriften nicht zu kaufen! Du kriegst was du willst. Wenn du etwas ausgelesen hast, gibst du es weiter. Dadurch kannst du praktisch umsonst lesen! Was du willst! Stell dir das mal vor, du sitzt im Knast und hast Zeit und kannst lesen!“

Mit verfänglichen Themen wie Systemvergleichen reizte ich ihn jedoch nicht zu oft. Denn vor allem in der Hitze des Sommers, bei einer Temperatur von 35° in der unbelüfteten Werkhalle, geschah es leicht, daß Fichte sich beim Vergleichen in eine unbändige Wut, ja in Tobsucht hineinsteigerte. Mich beschlich die Angst, ihn werde noch der Schlag treffen: Was sie hier mit den Menschen machten! Das habe er nirgendwo erlebt! Diese Zwangsarbeit! Diese einzigartige Szenerie mit den Schwulen! Überall gebe es Schwule, aber was die „Stasi“ hier heranzüchte, solche Schweinerei gebe es nirgendwo anders! Und wie sie absichtsvoll die Menschen quälten! Von staatswegen quälten! Diese Primitivität! Diese Degenerierung! „Guck dir doch an, wie sie sich hier in dem Dreck rumwälzen und sich die Schädel einschlagen und in die Ärsche ficken! Wir sind es doch hier, die nicht mehr als normal gelten! Diese Unmenschlichkeit! Diese Scheißkommunisten!“

Und an diesem Punkt brach es dann aus ihm hervor: Diese verfluchten Amis! Die haben nicht durchgesehen! Die hatten fünfundvierzig als erste und einzige die Bombe! „Kannst du mir sagen, warum sie erst gewartet haben, bis auch die Russen ihre Bombe fertig hatten? Sag es mir! Das war doch absehbar! Warum haben die Amis Moskau nicht sofort bombardiert? Die Amis hätten Moskau sofort bombardieren müssen! Dann wäre uns das hier erspart geblieben! Wie kann man all die Menschen an die Russen ausliefern! Wie kann man solche Schweinerei zulassen!“

Zum ersten Mal erlebte ich es, wie einem Menschen Schaum vor seinen Mund trat! Der troff auf die Maschine im Schraubstock unter ihm.

Was mich zusätzlich erschütterte: Früher hatte mein Freund Lutz mich bisweilen mit illegaler Literatur versorgt, mit Biermanns „Drahtharfe“ und seinen „Mit Marx- und Engelszungen“, mit Orwells „Neunzehnhundertvierundachtzig“ und der „Farm der Tiere“, aber auch mit aufregenden Schriften des polnischen Systemkritikers Jacek Kuroń. Ebenso hatte er mir Solschenizyns „Archipel Gulag“ zugetragen. Und darin war ich auf eine Stelle gestoßen, bei der sich in den sowjetischen Straflagern die Gefangenen wünschten, die Amerikaner mögen die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken endlich bombardieren mit samt ihren Arbeitslagern. Damit ihr Leiden ein Ende habe…

Doch bei aller Mühe, immer ließ es sich nicht vorhersehen, wann Fichte in Rage gerate. Einmal versuchte ich mit ihm ein Gedankenexperiment zu starten über das Thema: In der DDR kämen vernünftige Leute an die Macht und wollten die Mauer einreißen. Das hatte ich einst auch mit meinem Freund Lutz erörtert, während unseres Physik-Studiums an der Humboldt-Uni, im Anschluß an eines jener obligatorischen Marxismus-Leninismus-Seminare bei Frau Professor Pomp. Wie sollte man das denn guten Willens zuwege bringen? Von einem Tag auf den anderen, gewissermaßen über Nacht zu erklären, die Mauer sei weg, ihr könnt euch frei bewegen, diese Vorgehensweise war uns völlig unmöglich erschienen. Da liefen alle ja schlagartig davon, weil sie das für eine einmalige Gelegenheit hielten. Zumal die Maueröffnung ja organisiert werden müßte und sich also kaum zur Gänze geheimhalten ließe. Es müßte ja zuvor auch ein innerer Wandel stattfinden, der das Leben in dem Zwergstaat lebenswert erscheinen ließe. So daß Auswanderung an Attraktivität verlöre. Indem die Menschen vergleichbare Lebens und Entfaltungsmöglichkeiten wie im Westen erhielten.

Au contraire aber nach und nach und Stück für Stück die Mauer abzutragen, wie sollte das praktikabel sein? Man könnte den Menschen die Freizügigkeit kaum scheibchenweise zurückerstatten. Wie sollten die Menschen solchem Frieden trauen nach alldem? Warum sollten sie glauben, daß es nicht doch wieder anders käme? Daß die Grenzen nicht doch wieder geschlossen würden. Noch dazu wenn mehr und mehr von ihren genehmigten Westaufenthalten nicht zurückkehrten und jeder, einem ausgeleierten und damals dennoch ewig aufgewärmten und heute seltsamerweise extrem vergessenen Witz zufolge, Angst bekäme, schließlich zum Der Doofe Rest gehören zu müssen?

Als ich mit Fichte, es war dummerweise wieder sehr heiß in der Halle, darüber sprach, was wäre, wenn es die Mauer nicht mehr gäbe, begann der sich schon nach kurzer Zeit unaufhaltsam aufzupumpen. Er war einfach nicht mehr zu bremsen in seinem Toben, und schon bald trat ihm wieder der Schaum vor den Mund: Wenn die Mauer weg wäre? Was aus diesen Eingesperrten hier werden soll? „Guck sie dir doch an! Die vertragen die Freiheit doch überhaupt nicht! Die wissen doch gar nicht, was Freiheit ist! Das haben die doch noch nie erlebt! Guck sie dir an! Das sind doch alles Zootiere! Die haben doch Angst vor der Freiheit! Weißt du denn nicht, was passiert, wenn man Zootiere in die freie Wildbahn setzt? Wenn man Käfigtiere auswildert? Das weiß man doch! Die gehn doch ein wie die Primeln, wenn man sie freisetzt! Die überleben doch die Freiheit nicht! Die haben doch keine Chance! Die wolln doch zurück in ihren Käfig! Ja!! Die haben Angst! Die rennen zurück in den Zoo! Damit der Wärter sie füttert! Die sind doch armselig! Guck sie dir doch an, diese armseligen Nillen!“

Auf der anderen Seite unseres Bandes, etwas entfernt vom Rainer, wickelte der vielleicht zwanzigjährige rotblonde Ritterrüstungsverehrer seine Elektromotoren. Er schlief in meiner Zelle unter mir. Der Rotblonde schwärmte, wie es manchmal zehn- bis zwölfjährige Jungen mögen, von mittelalterlichen Ritterheeren und -schlachten. Nichts Konkretes, keine historischen Fakten oder Personen, Begriffe oder soziale Umstände. Stets ging es lediglich um die Frage der Verwundbarkeit oder besser Unverwundbarkeit eines Mannes in Rüstung. Er stellte sich einen geschickten Ritter in seiner Rüstung als unverwundbar vor. Er begeisterte sich daran, unverwundbar sein zu können. Er hatte zwei Halbwüchsige umgebracht. Er hatte sie gefesselt, mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt. Zuvor hatte er von der SS gehört oder einen Film über die SS gesehen und nun SS-Mann spielen wollen. Dafür hatte er acht Jahre bekommen und anschließend die lebenslange Einweisung in eine psychiatrische Klinik.

Links neben ihm in der Werkhalle hatte bis vor kurzem der „Sechsfachmörder“ gesessen. Der Mann, Mitte vierzig, hatte selbst einige Verwandte nicht verschont und jedes seiner Opfer dann mit scharfer Säge zerteilt und unauffindbar beseitigt. Ihm war man nie auf die Spur gekommen. Bis er den Entschluß faßte, selbst aus dem Leben zu scheiden. Aber auch dann würde man ihn nicht überführt haben, hätte er vor dem beabsichtigten Suizid nicht erst noch einen seine Untaten schildernden Abschiedsbrief verfaßt. Und ausgerechnet der Selbstmord mißlang! Man entdeckte und wiederbelebte ihn. Man holte ihn ins Leben zurück, um ihn zur lebenslänglichen Strafe zu verurteilen. Inzwischen jedoch war der Mann in der Zuchthaushierarchie aufgestiegen. Er arbeitete heftig an seiner Karriere und brauchte hinfort nicht länger im Akkord zu schuften.

„Jeder Mörder ist uns lieber als ein Staatsfeind!“, hatte der Oberleutnant Schleh. mich einmal angeschrien beim Lohnempfang. Der Schichtleiter in der Halle war ein Doppelmörder.

Seit kurzem saß auf dem Hocker, dem ehemaligen Platz des „Sechsfachmörders“, ein Neuzugang. Mit seiner Haftstrafe von gerade einmal zweieinhalb Jahren hatte er meinen Rekord als „Kurzstrafer“, nämlich als Gefangener mit dem geringsten Strafmaß in der Halle und im ganzen Haus 1, unterboten. „Über“ mir beim Strafmaß war es erst wieder losgegangen mit „Kommunistenwilhelm“. Der hatte doppelt soviel wie ich, der hatte acht Jahre Zuchthaus.

Jener Neuzugang, ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann, war ein „Ausreiser“. Wie der Hans, der mit seiner Familie nach England wollte, und den ich immer nur kurz kennenlernte, weil er unermüdlich zurück in Arrest oder Isolationshaft weggesperrt wurde, hieß der Neue ebenfalls Hans. Versuchte „Republikflucht“. Das hatte ich immer für eine bizarre, eine zumindest bedenkenswerte Wortbildung gehalten. Insbesondere für Menschen, die in die Bundesrepublik wollten. Im Französischen existierte gar kein Wort für „Republikflucht“. Stattdessen nur Umschreibungen. Und vor 1945, hatte meine Mutter mir erzählt, sollte es „Reichsflucht“ geheißen haben. Aber erst nach 1933. Ins Gespräch war ich mit dem neuen Hans noch nicht gekommen. Bisher hatte ich ihn nur einmal vom Eisenbahnmodellbau schwärmen hören.

Es geschah in der Werkhalle zu einer jener extremen Unzeiten der Frühschicht, also noch lange vor Morgengrauen, als nach einem kurzen Wortwechsel mein rotblonder Zellengenosse den Hans plötzlich von hinten in den Schwitzkasten nahm und ihn würgend vom Hocker auf die Stahlfliesen des Hallenbodens zerrte. Dort wälzten sie sich herum, doch der Ritterrüstungsverehrer behielt die Oberhand. Alles war sekundenschnell gegangen und hätte nun vorbei sein können, so wie es täglich geschah. Normalerweise schlugen sie sich im Essensaal aus Eifersucht um einen Bettgenossen oder in der Halle um Werkzeuge oder Material, um eine rare Drahtsorte vielleicht, aus Angst, die Norm nicht zu schaffen. Damit wenigstens einer von zweien seine Arbeit fortführen könnte. Ächzend wälzte man sich auf den Beton-oder Stahlplatten des Bodens, stieß sich in die Genitalien oder versuchte, sich die Augen auszukratzen. Man biß, bespie und berotzte sich, um die Norm erfüllen zu können. Der ideale sozialistische Wettbewerb! Dennoch hatte einer der Zivilmeister aus dem VEB ELMO Wernigerode schon mal durch die Halle gebrüllt: „Rottweiler sollte man auf euch hetzen! Dann würdet ihr wenigstens arbeiten!“

Und, ebenfalls anläßlich eines monatlichen Lohnempfangs, hatte mich, weil ich die Norm wieder nicht erfüllt hatte, jener gesichtszerfurchte Oberleutnant Schleh. vor sich stramm stehen lassen, um mich in Ruhe einmal ausgiebig anbrüllen zu können: „Sie!! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Die Zeit wird kommen, dafür sorgen wir! Laufen sie ab!“

Obwohl ich trotz der Akkordarbeit sowieso nur noch die sogenannte Nichtarbeiterverpflegung erhielt.

Nach zwei, drei unbarmherzigen Faushieben des Rotblonden leistete Hans keine Gegenwehr mehr. Ja, er rührte sich nicht einmal. Mein Zellengenosse erhob sich geradezu geschmeidig, lief ein paar Schritte beiseite, als wolle er sich die Beine vertreten, kehrte jedoch urplötzlich zurück, holte aus und trat mit aller Kraft gegen den Schädel des noch immer am Boden Liegenden. Wie als würde er wütend einen Ball wegschießen wollen. Mit Mordlust in den Augen. Wo hatte er in Brandenburg bloß dieses derbe Schuhwerk her? Zum ersten Mal, wie mir auch andere Gefangene später versicherten, hatten wir ihn in diesen stabilen Schuhen gesehen.

Noch lange Zeit später, bis heute, wenn ich die Augen schließe, sehe ich nicht die geringste Spur von Blut. Aber überdeutlich sehe ich: Die Stirn von Hans wölbt sich nach innen!

Hans kam ins Häftlingskrankenhaus und wurde nicht wiedergesehen. Gerüchte besagten, er habe überlebt. Der Unverwundbarkeitsträumer wurde zu einem Jahr „Nachschlag“ verurteilt, zusätzlich zu seinen acht Jahren Zwangsarbeit. Die anschließende Überweisungsverfügung in eine geschlossene Anstalt blieb bestehen. Das erfuhren wir unter der Hand. Es war nicht zu merken, daß ein Verfahren stattgefunden hatte. Zeugen wurden nicht gesucht, und er wickelte Elektromotoren wie eh und je und schwärmte von Ritterrüstungen, als wäre nichts geschehen.