A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Kategorie-Archiv: Literatur

21.8.16 Serapion an Meohisto

 

Babylonische Bagatelle

 

Wir bauen weiter unsern Turm zum Himmel.

Ruinen ringsum und Ruinen wir.

Die Harfe und die Leier und die Klingel

Halten uns munter, denn der Schlaf gebiert

Die alte Angst: wir müßten uns zerstreuen

In aller Welt heilloses Sprachgetingel.

 

Wir bauen höher unsres Daseins Bleibe.

Wir fressen Datteln, und wir streichen Lehm.

Gott stampft noch immer auf der Erdenscheibe

Und was er flucht, kann kaum ein Hund verstehn.

Die Welt soll kommen und den Turm besteigen.

Wir werden hörn, worüber andre schweigen.

 

 

(Kerstin Hensel)

 

8.7.16 Mephisto an Bellarmin

 

In memoriam all der im Namen Allahs Gemordeten und Geschundenen des diesjährigen Ramadan:

 

Allah, bedecke deinen Himmel

Mit Wolkendunst,

Und übe, dem Knaben gleich,

Der Disteln köpft,

An Eichen dich und Bergeshöhn;

Mußt mir meine Erde

Doch lassen stehn

Und meine Hütte, die du nicht gebaut,

Und meinen Herd,

Um dessen Glut

Du mich beneidest.

 

Ich kenne nichts Ärmeres

Unter der Sonn als euch, Götter!

Ihr nähret kümmerlich

Von Opfersteuern

Und Gebetshauch

Eure Majestät

Und darbtet, wären

Nicht Kinder und Bettler

Hoffnungsvolle Toren.

 

Da ich ein Kind war,

Nicht wußte, wo aus noch ein,

Kehrt ich mein verirrtes Auge

Zur Sonne, als wenn drüber wär

Ein Ohr, zu hören meine Klage,

Ein Herz wie meins,

Sich des Bedrängten zu erbarmen.

 

Wer half mir

Wider der Titanen Übermut?

Wer rettete vom Tode mich,

Von Sklaverei?

Hast du nicht alles selbst vollendet,

Heilig glühend Herz?

Und glühtest jung und gut,

Betrogen, Rettungsdank

Dem Schlafenden da droben?

 

Ich dich ehren? Wofür?

Hast du die Schmerzen gelindert

Je des Beladenen?

Hast du die Tränen gestillet

Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet

Die allmächtige Zeit

Und das ewige Schicksal,

Meine Herren und deine?

 

Wähntest du etwa,

Ich sollte das Leben hassen,

In Wüsten fliehen,

Weil nicht

Alle Blütenträume reiften?

 

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, zu weinen,

Zu genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!

 

 

Ab Zeile zwei: Johann Wolfgang von Goethe  (1749 – 1832)

 

24.6.16 Serapion an Mephisto

 

Vorzeit, und neue Zeit

 

Ein schmahler rauher Pfad schien sonst die Erde.

Und auf den Bergen glänzt der Himmel über ihr,

Ein Abgrund ihr zur Seite war die Hölle,

Und Pfade führten in den Himmel und zur Hölle.

 

Doch alles ist ganz anders nun geworden,

Der Himmel ist gestürzt, der Abgrund ausgefüllt,

Und mit Vernunft bedeckt, und sehr bequem zum gehen.

 

Des Glaubens Höhen sind nun demolieret.

Und auf der flachen Erde schreitet der Verstand,

Und misset alles aus, nach Klafter und nach Schuen.

 

 

Karoline von Günderode (1780 – 1806)

27.5.16 Serapion an Mephisto

Du solltest unbedingt wissen, wie am Meeresgrunde die grünlockigen Nixen mit ihrem schneeweißen Busen uns bemitleiden:

»Welche sonderbare Wesen sind diese Menschen! Wie sonderbar ist ihr Leben! Wie tragisch ihr ganzes Schicksal! Sie lieben sich und dürfen es meistens nicht sagen, und dürfen sie es einmal sagen, so können sie doch einander selten verstehn! Und dabei leben sie nicht ewig wie wir, sie sind sterblich, nur eine kurze Spanne Zeit ist ihnen vergönnt, das Glück zu suchen, sie müssen es schnell erhaschen, hastig ans Herz drücken, ehe es entflieht – deshalb sind ihre Liebeslieder auch so zart, so innig, so süßängstlich, so verzweiflungsvoll lustig, ein so seltsames Gemisch von Freude und Schmerz. Der Gedanke des Todes wirft seinen melancholischen Schatten über ihre glücklichsten Stunden und tröstet sie lieblich im Unglück. Sie können weinen. Welche Poesie in so einer Menschenträne!«

Heinrich Heine (1797 – 1856): Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski

 

22.1.16 Bellarmin an Mephisto

 

Bruchstück einer akkadischen Schrifttafel  (etwa 2016 v. Chr.):

 

„Einst waren die Menschen zerstreut und zerstritten

Und lebten in weiter Welt verloren.

Da haben sie Kummer und Not erlitten

Und endlich Frieden sich geschworen

Und sich gen Morgen zusammengefunden

Und waren in Mühe und Arbeit verbunden.

 

Dasselbige Land hieß Sinear,

Dort wohnten sie nun manches Jahr,

Lispelten milde, lächelten nett,

Wurden reicher und fraßen sich fett,

Gingen nach dem Dernier Cri

Geschmückt mit Gold bis über das Knie

Und Kupfer viel und Karneol,

Weideten Schafe, pflanzten Kohl,

Regelten Streit per Gleichstellungsquoten

Und hatten verletzende Wörter verboten.

 

Da sprach unter ihnen der Gleicheste

(Das war zudem der Reicheste):

‚So lasst uns bauen eine Stadt

Mit einen Turm im Handelscenter,

Der nirgendwo seinesgleichen hat.

Dann wird das Leben effizienter!

Den höchsten Turm mit einer Spitze,

Die den Zenit des Himmels ritze.

Hier machen wir uns einen Namen!

Dass nicht zerstreut sei unser Samen

Unter Barbaren fremder Länder

Bis an des Mundus entlegenste Ränder!

 

Selbst aus der Ferne wie ein Berg,

Einzig in diesem flachen Lande,

Erhebe sich das Meisterwerk

Aus Sinears ödweilig tristem Sande!

 

Über durch Pfeiler gegliederten Wänden

Sieht man in unterschiedlichen Höh’n

Dann Gärten den Menschen Schatten spenden,

Die dort auf den Terrassen gehn.

 

Zur ersten drei mächtige Treppen führen,

Ihr Winkel wird lassen Erhabenheit spüren

Auf jeder ihrer zahllosen Stufen,

Wenn zur Prozession berufen

Von oben über dem ebenen Land,

Wie herab vom Himmel gesandt,

In langem Zug gehüllt in Schweigen

Die Priester in wollenen Mänteln steigen

Vom krönenden Tempel der höchsten Etage

Hinab zu den Speichern und Webereien

Und Banken, die das Geld verleihen,

An Bürger mit geringerer Gage.

 

Der höchste Tempel dien‘ einzig nur

Der Anbetung unseres Gottes Merkur

Mit seinem schlangenumwundenen Stab,

Dieweil er uns den Wohlstand gab.

In seinem Gemach hinter güldenen Riegeln

Wird glänzen tiefblau die Glasur auf den Ziegeln.

 

Neben den Tempel kommt gleich das Archiv

Für Schuldverschreibung und Mahnungsbrief,

Die Registratur sowie der Kataster

Nebst Steuerverzeichnis der lässlichen Laster.

 

Hoch auf des obersten Tempels Dache

Halten dann Astrologen Wache,

Zählen im nächtlichen Dunkel die Sterne.

Deren Bewegungen selbst aus der Ferne

Sollen beeinflussen all unser Streben

Nach Reichtum und Glück, das menschliche Leben

Wie ebenso das Fließen der Flüsse,

Nach Dürren den Tag der Regengüsse,

Und dass die Fruchtbarkeit im Boden

Im Herbst uns schenke die Reineclauden.

 

Auch haben die weisen Astrologen

Berechnet des Mondes Umlaufbogen

Und in Monat und Woche, wie wunderbar,

Uns eingeteilt das ganze Jahr.

 

So sei es uns als Menschenwerk,

Das Höchste zu bauen den Götterberg

Für Gott Merkur, dann wird er uns gönnen,

Das Letzte zu wissen und jedes zu können!

 

Karret an denn den schluffigen Lehm, den weichen,

Und lasset uns daraus Ziegel streichen!

Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk!

Das Feuer entfache der Blasebalg!

Wie wir es von den Vätern her kennen,

So wollen steinhart die Ziegel wir brennen!

Und Frieden und Glück und Wohlstand fürwahr

Wird einziehn beim Turmbau in Sinear!‘

 

Nun war es ein lachend und scherzend Beginnen,

Ein freudiges in die Hände gespuckt,

Ein Schippen und Karren ohne Besinnen,

Da wurde nicht lange grübelnd geguckt.

Doch als gerade nach sieben mal sieben Jahren

Mit der siebten Terasse sie fertig waren,

Da zeigten sich in der dritten Risse.

Und als sie beseitigt die Ärgernisse,

Da knirschten in der zweiten die Träger,

In der vierten neigten die Wände sich schräger,

Und Unmut zog ein im ganzen Land.

 

Die Agitatoren, redegewandt,

Entfachten das allgemeine Lästern,

Und allenthalben aus ihren Nestern

Krochen hervor die Brunnenvergifter,

Volksverführer und Unruhestifter!

Die Demagogen und Doktrinäre

Verkündeten als Heil die Lehre:

‚Lasset aus unserer Mitte uns jagen

Die vordem hatten die Macht und das Sagen!‘

 

Jetzt drehte sich, wie eine Töpferscheibe,

Das Land: Es hungern nun die hohen Räte,

Die Damen stopfen selber die Nähte

Der Lumpen, die ihnen hängen am Leibe,

Und wagen sich zu sprechen nicht mehr.

Die Bürger müssen schuften schwer

Und rackernd sich abmühn, sich regen und schwitzen

Und müssen selbst an der Mühle sitzen!

Nicht wieder die Noblen sind zu erkennen,

Seit man befahl, von ihrer Brut sie zu trennen,

Das zieht durch’s Land wie Fieberschauer!

Man wirft ihre Kinder auf die Straße,

Die Meute schlägt sie an die Mauer

Und schmeißt sie hin, den Geiern zum Fraße.

 

Auch die Beamten sind abgetan,

Kein Amt steht mehr an seinem Platze,

Das Chaos zeigt hier seine Fratze,

Sinnlose Leute in ihrem Wahn

Der unbeschränkten Selbstentfaltung,

Die rauben dem Lande Maß und Verwaltung.

 

Und wo du sonst nie hingekommen,

Jedwede Bureaus, sie stehen offen!

Niemand wird mehr angetroffen,

Weit und breit steht alles leer!

Personenlisten weggenommen!

Und Untertanen gibt’s nicht mehr!

 

Wohin sind verschwunden all die Listen

Der Sackschreiber, die sich verpissten?

Oder sie wurden umgebracht,

Ausgetilgt durch Narrenmacht,

Und jeder folgt nun dem System,

Dass derart viel vom Korn er nehm‘,

Wie er vom Korn sich nehmen will!

 

Selbst in den Sälen der Gerichte

Stolzieren die geringsten Wichte.

Niemand da, der sie verstößt!

Das Haus der Dreißig steht entblößt!

 

Keiner wagt da mehr zu ackern,

Sich beim Bauen abzurackern.

Kein Holz mehr wird ins Land gebracht.

Der Boden liegt wüst und außer Acht

Und alles Feld bleibt unbestellt.

 

Jetzt gibt es kein Getreide mehr,

Denn alle Speicher blieben leer,

Und in Hungerqualen und Höllenpeinen

Das Futter sie klauben aus Trögen von Schweinen.

 

Die Menschen halten sich nicht mehr reinlich,

Grind und Dreck scheinen keinem mehr peinlich,

Kot und Mist liegen kreuz über quer.

Man blickt gehässig, man lacht nicht mehr.

Die Wörter werden fast täglich diffuser,

Die Sprache unverständlich konfuser.

Die Schreiblehrer sind überflüssig

Und Kinder lebensüberdrüssig.

 

Die Geburten nehmen ab zumal,

So vermindert sich täglich der Menschen Zahl,

Und von der Wüste bis hin an das Meer,

Wächst bei allen nur ein Begehr,

Dass alles sich in den Abgrund zöge

Und endlich zugrunde gehen möge.

 

Und nun beginnt das Reich des Pöbels

…“

 

 

(Hier bricht der lesbare Teil der Tafel kurz vor ihrer Bruchstelle ab. Doch von der aus anderweitigen Quellen überlieferten Historie jenes Reiches hatte ich ja dereinst Dir berichtet: => Das Reich des Pöbels.)

 

23.12.15 Mephisto an Bellarmin

Meine Lieblingsstelle in Saint-Exupérys „Le Petit Prince“ ist die zweitkürzeste nach Abschnitt XVIII, in welchem die Wüstenblume, die einmal in der Ferne eine Karawane hatte vorbeiziehen sehen in ihrem Wüstenblumenleben, glaubt, es existierten sechs oder sieben Menschen auf unserem Planeten, aber ihnen fehlten die Wurzeln.

– Adieu, fit le petit prince.

– Adieu, dit la fleur.

Den zweitkürzesten Abschnitt XXIII will ich Dir hier zu Fuß freihändig übersetzen:

„Guten Tag, sagt der kleine Prinz.

– Guten Tag“, sagt der Händler.

Das war ein Händler perfektionierter Pillen, welche den Durst stillen. Man schluckt davon eine pro Woche, und man spürt kein Bedürfnis mehr zu trinken.

„Warum verkaufst du das? sagt der kleine Prinz.

– Das ist eine große Ersparnis an Zeit, sagt der Händler. Die Sachverständigen haben Berechnungen angestellt. Man spart dreiundfünfzig Minuten in der Woche.

– Und was macht man mit diesen dreiundfünfzig Minuten?

– Man macht damit, was man will…“

„Ich, sagt sich da der kleine Prinz, wenn ich dreiundfünfzig Minuten übrig hätte, würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen…“

Was ich im übrigen noch sagen wollte, letzten Sonntag vor siebzig Jahren war das damals ein Donnerstag. Und an jenem Donnerstag wurde in Bayern die Herstellung und der Verkauf von Kriegsspielzeug verboten. So war das einst aus irgend einem Grunde.

Und anthropologisch interessant ist es, daß es heute nicht mehr so ist.

So ist es.

Heute ist es anders.

27.11.15 Serapion an Mephisto

 

H y b r i s

 

Wir sind nicht mehr die gleichen.

Uns ätzte das Leben leer.

Es gibt keine mystischen Zeichen,

es gibt kein Geheimnis mehr.

 

Wir treiben durch luftlose Räume,

erloschenen Angesichts.

Die Nächte verweigern uns Träume,

die Sterne sagen uns nichts.

 

Wir haben den Himmel zertrümmert.

Das Weltall umklammert uns kalt.

Der Tod läßt uns unbekümmert.

Wir haben Gewalt.

 

Dagmar Nick

 

23.10.15 Mephisto an Serapion

Märchen? Das ist kein Märchen, das ist Geschichte! Was derzeit an den Küsten des Mittelmeeres, was auf der sogenannten Balkanroute nach Deutschland und in Deutschland und Europa sich ereignet, das ist sogar Weltgeschichte. Mit tausenden Toten verzweifelter Menschen! Dramatischer geht’s kaum. Oder? Wir werden uns noch wundern! Und wir werden einmal sagen müssen, wir seien dabei gewesen. Ein Weltreich, dessen Bürger sich betäubten an Zirkusspielen und Wagenrennen, war einst zugrunde gegangen am Nichtwahrhabenwollen.

Doch mittlerweile sind selbst die chronischen Gesundbeter mit den grünen Rote-Bete-Gesichtern über den „Abschiebestop!“-Plaketten mehr und mehr gezwungen, anstelle des Märchens von der Europäischen Union mit ihren gemeinsamen Werten, die übrigens per demokratischem Referendum zum übernationalen Verfassungsentwurf abgelehnt wurden, endlich einmal wahrzunehmen, was im ordinären Sprachgebrauch bezeichnet wird als

 

 

Die Wirklichkeit

 

Er zieht es unterm Tisch hervor,

Er macht kein Federlesen;

Das Geißlein kreischt, sein Knochen knackt,

Das Geißlein ist gewesen.

 

Der Boden bebt beim Sprung aufs Bett,

Er macht kein Federlesen,

Brutal reißt er die Decke weg,

Nie wird dies Geiß genesen!

 

Nun nimmt er sich das nächste vor!

Er stochert mit dem Besen,

Er zerrt es aus dem Ofen raus

Und macht kein Federlesen.

 

Dann platzt er durch die Küchentür,

Er macht kein Federlesen,

Ein dumpfer Schlag, dann wird es still,

So liegt’s in seinem Wesen.

 

Die Schranktür knarrt, und flink heraus

Will’s fünfte Geißlein pesen –

Er packt’s blitzschnell am Hinterbein

Und macht kein Federlesen.

 

Nun stülpt er noch die Schüssel um,

Er macht kein Federlesen,

Das sechste Geiß liegt schreckensstarr,

Er läßt es nicht verwesen.

 

Im Uhrenkasten krümm‘ ich mich!

Ich hör das Pendel schwingen!

Ich bin ganz klein, hier paß ich rein,

Gleich wird der Gong erklingen!

 

Serapion an Mephisto

Du erinnerst Dich? Im Frühling, als die Forsythien blühten, da habe ich Dir die beiden wichtigsten Gedichte deutscher Zunge präsentiert (=> SEY dennoch unverzagt). Nun es Herbst ist, und Du so jammerst über das Märchen von der Europäischen Union, will ich nichtsdestotrotz Dir empfehlen: Du solltest wieder Märchen lesen! Grimm, Hauff, Andersen!

Das ist wichtig!

Von den Grimmschen will ich Dir ebenfalls, wie seinerzeit bei den Gedichten, zwei lebenswichtige hierhersetzen.

Also da wäre einmal das Märchen vom

 

 

Dornröschenprinz

 

Da hörst du deinen Atem in der Stille

Und siehst: Die Fliegen stehen an der Wand!

Am Boden vor dem Spinnrad liegt die Spille,

Und durch den Vorhang lugt die kleine Hand.

 

Und wieder träumt ein Schloß im Sehnsuchtsschlummer!

Erwartend dich! Damit du es entdeckst!

Doch sage mir mein Prinz, was soll dein Kummer?

Bist du am Ende selber gar verhext?

 

 

Okay?

Und nun das Märchen vom

 

 

Rapunzelprinz

 

Seit Jahr und Jahren irrte er

Heillos blind im Wald umher,

Von Wurzeln und Beeren kümmerlich,

Am Boden tastend, nährend sich.

 

Da jammernd und weinend um den Verlust,

Daß er von Rapunzel nichts mehr gewußt,

Mit Weh ihn schüttelnd der Frage Not,

War sie lebendig? War sie tot?

 

Sein Leben fristend Stück um Stück,

Im Märchen nur kehrt Glück zurück!

Nie wieder sah er das schöne Kind,

Sie blieb verschollen und er blieb blind.

 

Mephisto an Serapion

 

Die Wanderratten

 

Es gibt zwei Sorten Ratten:

Die hungrigen und die satten.

Die satten bleiben vergnügt zu Haus,

Die hungrigen aber wandern aus.

 

Sie wandern viel tausend Meilen,

Ganz ohne Rasten und Weilen,

Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,

Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

 

Sie klimmen wohl über die Höhen,

Sie schwimmen wohl durch die Seen;

Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,

Die lebenden lassen die toten zurück.

 

Es haben diese Käuze

Gar fürchterliche Schnäuze;

Sie tragen die Köpfe geschoren egal,

Ganz radikal, ganz rattenkahl.

 

Die radikale Rotte

Weiß nichts von einem Gotte.

Sie lassen nicht taufen ihre Brut,

Die Weiber sind Gemeindegut.

 

Der sinnliche Rattenhaufen,

Er will nur fressen und saufen,

Er denkt nicht, während er säuft und frißt,

Daß unsre Seele unsterblich ist.

 

So eine wilde Ratze,

Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;

Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld

Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.

 

Die Wanderratten, o wehe!

Sie sind schon in der Nähe.

Sie rücken heran, ich höre schon

Ihr Pfeifen – die Zahl ist Legion.

 

O wehe! wir sind verloren,

Sie sind schon vor den Toren!

Der Bürgermeister und Senat,

Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.

 

Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,

Die Glocken läuten die Pfaffen.

Gefährdet ist das Palladium

Des sittlichen Staats, das Eigentum.

 

Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,

Nicht hochwohlweise Senatsdekrete,

Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,

Sie helfen euch nicht, ihr lieben Kinder!

 

Heut helfen euch nicht die Wortgespinste

Der abgelebten Redekünste.

Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,

Sie springen über die feinsten Sophismen.

 

Im hungrigen Magen Eingang finden

Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,

Nur Argumente von Rinderbraten,

Begleitet mit Göttinger Wurstzitaten.

 

Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,

Behaget den radikalen Rotten

Viel besser als ein Mirabeau

Und alle Reden seit Cicero.

 

Heinrich Heine (1797 – 1856)