Nein, es ist unwahr, wenn der derzeitige SPD-Chef Sigmar Gabriel spdämlich, also spd-typischerweise, also mit schon intellektbeleidigend durchschaubar politischem Kalkül auf extreme Vergeßlichkeit oder Unkenntnis seiner Adressaten setzend behauptet, Egon Bahr wäre „Architekt der deutschen Einheit“ gewesen. Dabei offenkundig die auf Bahr zutreffende Ehrenbezeichnung „Architekt der Ostverträge“ geschichtsklitternd vorsätzlich verbiegend, also mit Halbwahrheiten lügend. Spdämlich auch deshalb, weil hier im Speziellen plumper Legendenbildung der beabsichtigten Wirkung, nämlich einer ungeschmälerten Würdigung der Verdienste dieses außerordentlichen Mannes, kontraproduktive Widerstände entgegenwachsen. Und das wahrlich ohne jede Not. Zugegebenermaßen hat seit dem Fall der Mauer in zunehmendem Maß Bahr selbst versucht, an jener unnötigen Legende mitzustricken.
In der SPD wähnt man ja immer noch, ihr permanentes Umfragetief hinge zusammen mit der Agenda 2010. Wähnen kommt von Wahn. Aber unter uns Pastorentöchtern will ich den Genossen ganz im Vertrauen raten, hinsichtlich der Ursachenforschung lieber einmal als gar nicht an mangelnde Glaubwürdigkeit und fehlende Authentizität zu denken. Und ohne mich jetzt beispielhaft über unseren Justizminister oder die Generalsekretärin der Partei oder andere unendliche Details zu verbreiten: Die Chamäleonhaftigkeit der einstigen Partei Willy Brandts offenbart sich vortrefflich in den wechselnden Verkleidungen ihres derzeitigen Vorsitzenden. Wie etwa, wenn er in Regenjacke zu Pegida schleicht, oder wenn er sich in Sichtweite eines Flüchtlingswohnheims mit einem Insassen parlierend vor den Kameras mitgereister Medien im Trainingsanzug inszeniert.
„Politische Führung gewinnt Respekt, wenn sie ihrer Überzeugung und nicht Meinungsumfragen folgt“, schrieb Egon Bahr anläßlich des machtgefährdenden Mißtrauensvotums 1972 im Hinblick auf die standhafte Haltung Willy Brandts.
Nein, Egon Bahr war nicht der Architekt der deutschen Einheit. Das widerspricht meiner Wahrnehmung. Wer Ende der siebziger und während der achtziger Jahre an Wiedervereinigung auch nur dachte, wurde sofort in die rechte Ecke gerückt und als ewig Gestriger diffamiert. Denn er störte den vertraglich abgesegneten Machtbereich der Russen und der Honecker-Clique. Also die Friedenspolitik. Sowie das Vertrauensverhältnis zwischen den „Kanälen“, wie Bahr die geheimdienstlichen Kontakte zwischen Bonn und Moskau bezeichnete. So konnte man bisweilen ein geradezu kumpaneihaft abgekartetes Spiel vermuten, wenn ungeheuerliche Vorgänge in der DDR auftragsartig wie auf Knopfdruck beschwichtigt oder gar schöngeredet wurden von sozialdemokratischen Honecker-Verstehern.
Selbstverständlich immer im Interesse des Weltfriedens.
Beispielsweise nach dem heimtückischen Einmarsch der keinen Krieg wollenden Russen in Afghanistan am zweiten Weihnachtsfeiertag 1979. Oder als es durch westliche Staaten wegen der Invasion zum Boykott der Olympiade in Moskau kam.
Für dessen Zustandekommen ich meine Daumen gedrückt hatte.
Bei der Eröffnungsveranstaltung der friedlichen, „unpolitischen“ Spiele formten plötzlich 1.600 sowjetische Soldaten im Stadion völlig unpolitisch ein riesiges Hammer-und-Sichel-Emblem.
Das symbolisierte die friedliebende russische Geschmacksresistenz.
Oder als im selben Jahr zwei Tage nach dem „Nationalfeiertag der DDR“ die illegitime Führung der Deutschen Demokratischen Republik den Zwangsumtausch schlicht verdoppelte: Gnadenlos mindestens 25 DM pro Besuchstag und Person mußten Einreisende (aus dem Westen) hinfort eins zu eins eindirektional umtauschen. Auf das Ansinnen der Rücknahme der unsozialen Erhöhung forderte Honecker mit deutscher demokratischer Logik zuvor die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft.
Oder als am 10. April 1982 am Grenzübergang Berlin-Drewitz der bundesdeutsche Reisende Rudolf Burkert an Herzversagen starb. Man vermutete als Ursache die Aufregung über die schikanöse Behandlung im ostdeutschen Grenzregime. Am 26. April starb dann, ebenfalls an Herzversagen, der Bundesdeutsche Heinz Moldenhauer am Grenzübergang Wartha-Herleshausen während der deutschen demokratischen Abfertigungsprozedur.
Dann konnte man, wie bestellt über irgendwelche „Kanäle“, die magengeschwürfördernden sozialdemokratischen Beschwichtigungseiertänze und Tatsachenzerredungen hören. Und nicht das geringste von deutscher Einheit.
Wenn Ostberlin die Abschaffung der Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter verlangte, fiel das regelmäßig auf fruchtbaren Boden in der SPD, und die für Beibehaltung plädierenden Stimmen wurden als „politisch gestrig“ beschimpft. Heutzutage würde man dies wohl mit „politisch inkorrekt“ übersetzen. Also nicht die Verunglimpfung, sondern die Forderung nach Beibehaltung der Erfassungsstelle.
Jene Erfassungsstelle war gefürchtet beispielsweise bei übergriffigen Schließern in DDR-Zuchthäusern oder unter Grenzern, die unbewaffneten DDR-Flüchtlingen in den Rücken schossen. Ich begegnete solchen Exemplaren im Zuchthaus. Also nicht den Grenzern, sondern ihren Opfern.
Immerhin glaubte man also, die Registrierung „souveränen staatlichen Handelns“ als Menschenrechtsverletzungen fürchten zu müssen.
Nicht zuletzt fällt mir, damals noch SPD und dort hochrangig, der Oskar Lafontaine ein, der danach trachtete, die Forderung seines saarländischen Landsmannes Erich Honecker nach Anerkenntnis einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft durchzusetzen. Ein klügelnder Kopf, der Lafontaine, der selbst nach dem neunten November nicht begriffen hatte, daß die sogenannte Deutsche Demokratische Republik 1961 nicht mehr ohne und 1989 nicht mehr mit Mauer zu halten gewesen war, und wenn es nach seiner Logik gegangen wäre, wir wohl heute mit Wladimir Wladimirowitsch Putin die Einheit Deutschlands hätten verhandeln müssen.
Nein, von Wiedervereinigung war im Gefolge der Architektur der Ostverträge und des Grundlagenvertrags die Rede nicht auf Seiten der deutschen Sozialdemokratie. Eher gewann man den Eindruck, man versuche die bestehenden Verhältnisse zu konservieren und gemeinsam mit Honecker und Breshnew über die „Kanäle“ und Geheimdiplomatie zu sichern, also klassisch metternichsche Politik zu betreiben. Auch der renommierte Politologe Alfred Grosser, Weggefährte und Diskussionspartner Bahrs, bestätigte im Kulturkanal des Deutschlandradios: „Er war nicht für die Wiedervereinigung.“
Soweit zur völlig unnötigen und unwürdigen Legendenbildung.
In meinen Augen war Egon Bahr genial. Wer es nicht erlebt hatte, kann sich wahrscheinlich nur schwer die klimatischen Bedingungen vorstellen, unter denen er der an sich simplen Tatsache ins Auge zu sehen anfing, daß auch die Seite der Todfeinde aus Menschen besteht. Daß man angesichts der Overkill-Konfrontation die Dinge nicht bewegt oder eher verschlimmert, indem man wegen unvereinbarer Gegensätze im Haß verharrt. Vielleicht war es kein Zufall, wenn Bahr die Strategieformel „Wandel durch Annäherung“ ausgerechnet im Jahr der Kuba-Krise im Gefolge der kennedyschen Konfliktlösung prägte. Es bleibt genial. Und es blieb ja nicht allein bei der Idee in Zeiten der Hallstein-Doktrin. Die ja nicht schlecht war, sondern eben nur gewöhnlich, naheliegend, ungenial. Und leider nichts verbesserte. Aber im Schatten des Mauerbaus auf die Idee der Annäherung zu kommen und sie im Schatten der Breshnew-Doktrin und unmittelbar nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag umzusetzen (heute jährt sich der unvergessene 21. August), noch dazu angesichts drohenden Verlustes der Regierungsfähigkeit und allen widrigen Anfeindungen einschließlich der Vorwürfe des Landesverrates zum Trotz – man nenne mir einen vergleichbaren Fall aus der Geschichte! Der Mann mit dem Habitus eines Bürokraten war ein verwegener Haudegen und zugleich der zäheste Diplomat und besonnenste Analytiker seiner Zeit. Und es ist so eine Fülle an Leistungen, von denen jede einzelne Vollbringung ein atemberaubendes Epos gäbe. In einem Interview hat er einmal das Wort vom Architekten der Ostverträge aufgegriffen und darauf verwiesen, „Ich war der Architekt, aber der Bauherr war Willy Brandt“. Zu Recht hat Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhalten, aber mindestens ebenso hat Egon Bahr einen solchen verdient. Angefangen vom ersten Passierscheinabkommen und beharrlich und Schritt für Schritt vom Kleinen zum Großen, er hat tatsächlich unser aller Leben verbessert, dies weit über die Grenzen des wiedervereinten Deutschlands hinaus, und mit nicht zu unterschätzender Wahrscheinlichkeit sogar unser Überleben gerettet.