A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

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Schaut in die Bücher!

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29. Mai 2021: Serapion an Mephisto

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Zur Macht gelangt nur, wer die Macht begehrt

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Zur Macht gelangt nur, wer die Macht begehrt.

Ihm winkt sie zu. Ihm gibt sie dunkle Zeichen.

Und ihm befiehlt sie, eh sie ihm gehört:

„Stell unser Bett auf einen Berg von Leichen!“

Die Macht liebt den, der sie entehrt.

Denn sie ist eine Hure ohnegleichen.

Sie liebt die Mörder, und sie schläft mit Dieben.

Schaut in die Bücher! Dort steht’s aufgeschrieben!

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Und dann blickt hoch und von den Büchern fort!

Die alte Hure ist sich treu geblieben.

Noch immer liebt sie Gauenerei und Mord

und schläft wie einst mit Räubern und mit Dieben.

Sie beugt das Recht. Sie bricht ihr Wort.

Und immer gibt es Männer, die sie lieben.

Das heilige Gesetz, nach dem sie leben,

ist alt und heißt: Wer hat, dem wird gegeben.

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Seht ihr die Wolke, die am Himmel schwimmt?

Dahinter, sagt man, würden Engel schweben,

und alles, was man euch auf Erden nimmt,

das würde man euch droben wiedergeben.

Die Mächtigen beschwören, daß es stimmt.

Drum nehmt euch, eh man es euch nimmt, das Leben!

Vielleicht könnt ihr zu guter Letzt als Leichen,

was euch als Lebenden mißlang, erreichen.

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Erich Kästner (1899 – 1974)

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Seit gestern Nacht

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10. April 2021: Mephisto an Serapion

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Vorfrühling

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Es läuft der Frühlingswind

Durch kahle Alleen,

Seltsame Dinge sind

In seinem Wehn.

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Er hat sich gewiegt,

Wo Weinen war,

Und hat sich geschmiegt

In zerrüttetes Haar.

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Er schüttelte nieder

Akazienblüten

Und kühlte die Glieder,

Die atmend glühten.

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Lippen im Lachen

Hat er berührt,

Die weichen und wachen

Fluren durchspürt.

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Er glitt durch die Flöte

Als schluchzender Schrei,

An dämmernder Röte

Flog er vorbei.

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Er flog mit Schweigen

Durch flüsternde Zimmer

Und löschte im Neigen

Der Ampel Schimmer.

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Es läuft der Frühlingswind

Durch kahle Alleen,

Seltsame Dinge sind

In seinem Wehn.

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Durch die glatten

Kahlen Alleen

Treibt sein Wehn

Blasse Schatten.

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Und den Duft,

Den er gebracht,

Von wo er gekommen

Seit gestern Nacht.

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Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929)

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Und verstehe die Freiheit

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Ostern 2021: Serapion an Mephisto

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Lebenslauf

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Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt

All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,

Doch es kehret umsonst nicht

Unser Bogen, woher er kommt.

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Aufwärts oder hinab! herrschet in heilger Nacht,

Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,

Herrscht im schiefesten Orkus

Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?

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Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,

Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,

Daß ich wüßte, mit Vorsicht

Mich des ebenen Pfads geführt.

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Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,

Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern,

Und verstehe die Freiheit,

Aufzubrechen, wohin er will.

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Friedrich Hölderlin (1770 – 1843)

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In memoriam Uta Ranke-Heinemann

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26. März 2021: Serapion an Mephisto

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Verkündigung

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Und der Engel kam zu mir herein, und er sprach: „Der

Herr ist mit dir! Gegrüßt seist du Begnadete!“ Ich war

Über die Rede erschrocken! Welch ein Gruß ist das? Der Engel

Sprach zu mir: „Fürchte dich nicht, Maria, denn Gnade bei Gott hast

Du gefunden. Siehe, schwanger sollst du nun werden,

Einen Sohn sollst du gebären, groß wird der sein und

Sohn des Höchsten genannt wird er werden, sein Reich wird kein Ende

Haben.“ Ich sprach zu dem Engel: Wie soll das zugehn, da ich von

Keinem Manne weiß? Mir antwortend sprach da der Engel:

„Über dich wird kommen der heilige Geist, und die Kraft des

Höchsten wird dich überschatten, denn unmöglich war bei

Gott noch keinerlei Ding.“ Ich bin die Magd meines Herrn, so

Antwortete ich, es geschehe, wie du gesagt hast!

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Und der Engel schied von mir. Ich sprach: Meine Seele erhebt den

Herrn, mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er

Hat die Niedrigkeit seiner Magd gesehen. Und sieh, von

Nun an werden mich selig preisen all meine Kinder

Samt den Kindeskindern. Denn an mir hat er große

Dinge getan, der da waltet und dessen Name ist heilig.

Seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei all denen,

Die ihn fürchten. Mit seinem Arm, da übt er Gewalt, die

Hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn, die zerstreut er.

Die Gewaltigen stößt er vom Thron hinab und erhebt die

Niedrigen. Hungrige füllt er mit Gütern, die Reichen jedoch, die

Läßt er leer ausgehn. Er gedenkt der Barmherzigkeit, und er

Hilft seinem Diener. Und selig bist du, wenn du geglaubt hast,

Josef, denn alles, was dir gesagt ist von unserem Herrn, mein

Lieber, lieber Josef, all das wird auch vollendet!

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Also Papst Benedikt hat ja jetzt sein neuestes Buch geschrieben, „Über die Kindheit Jesu“. Er schreibt in diesem Buch, Maria habe ihren Sohn durch ihr Ohr empfangen, durch ihre Worte zu dem Engel: „Mir geschehe nach deinem Worte.“ Durch ihren Gehorsam sei Maria Mutter geworden. Ich sage, die Gynäkologen können jetzt ihre Praxis schließen, und werden durch Hals-Nasen-Ohrenärzte ersetzt. Der Ohrsex als Durchbruch in der Sexualforschung, in der neuen Vatikanstudie des Buches von Joseph Ratzinger „Jesus von Nazareth“, Auflage eine Million.

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Also die ganzen Missbrauchsfälle können gar nicht, dürfen gar nicht aufgedeckt werden … Denn Ratzinger hat – damals noch Kardinal, 2001 – ein lateinisches Schreiben, was da bei allen Bischöfen im Tresor liegt, „De delictis gravioribus“, „Über schwererwiegende Verbrechen“, geschrieben. Und da ist ausdrücklich gesagt, unter Strafe der Exkommunikation sind die Bischöfe verpflichtet, alle Fälle ausschließlich an den Vatikan zu melden. … es ist nicht möglich, da irgendwie ein Licht rein zu bringen, solange der Papst sein Schreiben „De delictis gravioribus“ nicht zurücknimmt, aber das habe ich noch nicht gehört.

Uta Ranke-Heinemann (2013)

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Doch uns ist gegeben

 

24. Dezember 2020: Serapion an Mephisto

 

 

Ihr wandelt droben im Licht

 Auf weichem Boden, selige Genien!

  Glänzende Götterlüfte

   Rühren euch leicht,

    Wie die Finger der Künstlerin

     Heilige Saiten.

 


Schicksallos, wie der schlafende

 Säugling, atmen die Himmlischen;

  Keusch bewahrt

   In bescheidener Knospe,

    Blühet ewig

     Ihnen der Geist,

      Und die seligen Augen

       Blicken in stiller

        Ewiger Klarheit.

 


Doch uns ist gegeben,

 Auf keiner Stätte zu ruhn,

  Es schwinden, es fallen

   Die leidenden Menschen

    Blindlings von einer

     Stunde zur andern,

      Wie Wasser von Klippe

       Zu Klippe geworfen,

        Jahr lang ins Ungewisse hinab.

 

 

Friedrich Hölderlin (1770 – 1843)

 

An solchem Ort

 

5. Dezember 2020: Serapion an Mephisto

 

Ich irre durch Straßen,

Wie sind die leer!

Die Hunde fraßen

Wohl lang nichts mehr.

 

Sie blicken rüde,

Sie machen halt.

Ich bin so müde,

Der Wind weht kalt.

 

Ich fürchte sehr mich

Vor ihrer Gier,

Was trieb denn her mich,

Was hält mich hier?

 

Nur Fenstersteine!

Kein Mensch umher!

Ich bin alleine!

Die Welt ist leer!

 

Unwetter

 

12. September 2020: Serapion an Mephisto

 

Auf dem Atem der Menschen lastet die Schwüle des heißen

Tages, und Schweiß betaut ihnen die Hand für ihr Tun,

Kein erfrischendes Wehen der Luft ermuntert die Glieder.

Dunkelt der Horizont? Südlich, am Ende des Blicks

Glimmt es trübe, Wind rauscht heran! Es wird düster, die Schwalben

Schwirren tiefer, laut grollen jetzt Wolken von fern,

Böiger tanzen die Winde, die Boten des prasselnden Wassers

Drängen die Menschen zum Schluß, holen die Pflücker vom Feld.

Pfirsich zu ernten, wird es zu dunkel, schon knattert ein Blitz, und

Ausholend stockt des Sturms pappelnverbiegender Arm…

Unwetter sind Gewitter, die ohne zu regnen vergehen,

Was für ein Kraftwüten als üppiges Elend vertan!

 

Korona

 

12. Juni 2020: Serapion an Mephisto

 

 

Eklipse

 

Zur selben Zeit, spricht der HERR HERR, will ich die Sonne am Mittag untergehen lassen und das Land am hellen Tage lassen finster werden.

Amos 8,9

 

Einst kommt der Tage Tag, da wird berühren

Der Mond von Ost der Sonnenscheibe Rand,

Wird ihren Kreis in einer Delle schnüren

Und langsam bannen ihrer Strahlen Brand.

 

Und dann, wenn seine Schatten fast verdecken

Des allernächsten Sternes letztes Licht,

Wird plötzlich Kühle jedes Wesen schrecken –

Ein herber Hauch zieht Menschen ins Gesicht.

 

Es steigt herauf ein wolkiges Gewebe

Im Westen düster überm Horizont,

Das drohend überdeckt des Himmels Schwebe,

Nur ferne Streifen bleiben noch besonnt.

 

Ein Wind erhebt sich leise und strömt milde,

Die Vögel werden stumm und alles schweigt

Erstarrt und wie gelähmt in dem Gefilde,

Wie wenn sich Stille vor dem Sturme zeigt.

 

Von Westen rast heran des Mondes Schatten,

Fliegt flimmernd über jede Häuserwand,

Trifft rauhe und die weiß gestrichnen glatten,

Die Finsternis kennt keinen Widerstand.

 

Im Augenblick verlöschen letzte Strahlen,

Die eben noch geblitzt wie Diamant

Schmal in des Sonnenrandes Arealen

Als Perlenkette, die den Stern umspannt.

 

Das Schwarz der Scheibe bläulich weiß umhüllen

Nun plötzlich Zacken, die als Strahlenkranz

Im Drumherum den dunklen Raum erfüllen

Mit unheimlich beklemmend kaltem Glanz.

 

In der Korona aber Flammen tanzen

Gewaltig, eruptiv und schimmernd rot,

Dämonisch züngelnde Protuberanzen,

Sie spein ins All der Höllen Feuertod.

 

Ich will den Tag verfinstern euch zur Plage,

In Nacht ihn wandeln ohne Unterschied!

Ich will in Trauer eure Feiertage

Verkehren und in Klage jedes Lied!

 

Frieden und Glück und Wohlstand

 

9. April 2020: Serapion an Mephisto

 

 

Bruchstück einer akkadischen Schrifttafel (etwa 2016 v. Chr.):

 

Einst waren die Menschen zerstreut und zerstritten

Und lebten in weiter Welt verloren.

Da haben sie Kummer und Not erlitten

Und endlich Frieden sich geschworen

Und sich gen Morgen zusammengefunden

Und waren in Mühe und Arbeit verbunden.

 

Dasselbige Land hieß Sinear,

Dort wohnten sie nun manches Jahr,

Lispelten milde, lächelten nett,

Wurden reicher und fraßen sich fett,

Gingen nach dem Dernier Cri

Geschmückt mit Gold bis über die Knie

Und Kupfer viel und Karneol,

Weideten Schafe, pflanzten Kohl,

Regelten Streit per Gleichstellungsquoten

Und hatten verletzende Wörter verboten.

 

Da sprach unter ihnen der Gleicheste

(Das war zudem der Reicheste):

„So laßt uns bauen eine Stadt

Mit einen Turm in ihrem Center,

Der nirgendwo seinesgleichen hat.

Dann wird das Leben effizienter!

Den höchsten Turm mit einer Spitze,

Die den Zenit des Himmels ritze.

Hier machen wir uns einen Namen!

Daß nicht zerstreut sei unser Samen

Unter Barbaren fremder Länder

Bis an des Mundus entlegenste Ränder!

 

Selbst aus der Ferne wie ein Berg,

Einzig in diesem flachen Lande,

Erhebe sich das Meisterwerk

Aus Sinears ödweilig tristem Sande!

 

Über durch Pfeiler gegliederten Wänden

Sieht man in unterschiedlichen Höhn

Dann Gärten den Menschen Schatten spenden,

Die dort auf den Terrassen gehn.

 

Zur ersten drei mächtige Treppen führen,

Ihr Winkel wird lassen Erhabenheit spüren

Auf jeder ihrer hundert Stufen,

Wenn zur Prozession berufen

Von oben über dem ebenen Land,

Wie herab vom Himmel gesandt,

In langem Zug gehüllt in Schweigen

Die Priester in wollenen Mänteln steigen

Vom krönenden Tempel der höchsten Etage

Hinab zu den Speichern und Webereien

Und Banken, die das Geld verleihen

An Bürger mit geringerer Gage.

 

Der höchste Tempel dien’ einzig nur

Der Anbetung unseres Gottes Merkur

Mit seinem schlangenumwundenen Stab,

Dieweil er uns den Wohlstand gab.

In seinem Gemach hinter güldenen Riegeln

Wird glänzen tiefblau die Glasur auf den Ziegeln.

 

Neben den Tempel kommt gleich das Archiv

Für Schuldverschreibung und Mahnungsbrief,

Die Registratur sowie der Kataster

Nebst Steuerverzeichnis der läßlichen Laster.

 

Hoch auf des obersten Tempels Dache

Halten dann Astrologen Wache,

Zählen im nächtlichen Dunkel die Sterne.

Deren Bewegungen selbst aus der Ferne

Sollen beeinflussen all unser Streben

Nach Reichtum und Glück, das menschliche Leben

Wie ebenso das Fließen der Flüsse,

Nach Dürren den Tag der Regengüsse,

Und daß die Fruchtbarkeit im Boden

Im Herbst uns schenke die Reineclauden.

 

Auch haben die weisen Astrologen

Berechnet des Mondes Umlaufbogen

Und in Monat und Woche, wie wunderbar,

Uns eingeteilt das ganze Jahr.

 

So sei es uns als Menschenwerk,

Das Höchste zu bauen den Götterberg

Für Gott Merkur, dann wird er uns gönnen,

Das Letzte zu wissen und jedes zu können!

 

Karret an denn den schluffigen Lehm, den weichen,

Und lasset uns daraus Ziegel streichen!

Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk!

Das Feuer entfache der Blasebalg!

Wie wir es von den Vätern her kennen,

So wollen steinhart die Ziegel wir brennen!

Und Frieden und Glück und Wohlstand fürwahr

Wird einziehn beim Turmbau in Sinear!“

 

Nun war es ein lachend und scherzend Beginnen,

Ein freudiges in die Hände gespuckt,

Ein Schippen und Karren ohne Besinnen,

Da wurde nicht lange grübelnd geguckt.

Doch als gerade nach sieben mal sieben Jahren

Mit der siebten Terrasse sie fertig waren,

Da zeigten sich in der dritten Risse.

Und als sie beseitigt die Ärgernisse,

Da knirschten in der zweiten die Träger,

In der vierten neigten die Wände sich schräger,

Und Unmut zog ein im ganzen Land.

 

Die Agitatoren, redegewandt,

Entfachten das allgemeine Lästern,

Und allenthalben aus ihren Nestern

Krochen hervor die Brunnenvergifter,

Volksverführer und Unruhestifter!

Die Demagogen und Doktrinäre

Verkündeten als Heil die Lehre:

„Lasset aus unserer Mitte uns jagen

Die vordem hatten die Macht und das Sagen!“

 

Es drehte sich, wie eine Töpferscheibe,

Das Land: Es hungerten die hohen Räte,

Die Damen stopften selber die Nähte

Der Lumpen, die ihnen hingen am Leibe,

Und wagten sich zu sprechen nicht mehr.

Die Bürger mußten schuften schwer

Und rackernd sich abmühn, sich regen und schwitzen

Und mußten selbst an der Mühle sitzen!

Nicht wieder waren die Noblen zu erkennen,

Als man befahl, von ihrer Brut sie zu trennen,

Das zog durchs Land wie Fieberschauer!

Man warf ihre Kinder auf die Straße,

Die Meute schlug sie an die Mauer

Und schmiß sie hin, den Geiern zum Fraße.

 

Auch die Beamten waren abgetan,

Kein Amt stand mehr an seinem Platze,

Das Chaos zeigte seine Fratze,

Sinnlose Leute in ihrem Wahn

Der unbeschränkten Selbstentfaltung,

Die raubten dem Lande Maß und Verwaltung.

 

Und wo du sonst nie hingekommen,

Jedwede Bureaus, die standen offen!

Niemand ward mehr angetroffen,

Weit und breit stand alles leer!

Personenlisten weggenommen!

Und Untertanen gab’s nicht mehr!

 

Wohin sind gekommen all die Listen

Der Sackschreiber, die sich verpißten?

Oder sie wurden umgebracht,

Ausgetilgt durch Narrenmacht,

Und jeder folgte nun dem System,

Daß derart viel vom Korn er nehm’,

Wie er vom Korn sich nehmen will!

 

Selbst in den Sälen der Gerichte

Stolzierten blasiert die geringsten Wichte.

Niemand da, der sie verstößt!

Das Haus der Dreißig stand entblößt!

 

Keiner wagte mehr zu ackern,

Sich beim Bauen abzurackern.

Kein Holz mehr ward ins Land gebracht.

Der Boden lag wüst und außer Acht

Und alles Feld blieb unbestellt.

 

Jetzt gab es bald kein Getreide mehr,

Denn alle Speicher blieben leer,

Bis in Hungerqualen und Höllenpeinen

Das Futter sie klaubten aus Trögen von Schweinen.

 

Von nun an hielt man sich nicht mehr reinlich,

Grind und Dreck schienen keinem mehr peinlich,

Kot und Mist lagen kreuz über quer.

Man blickte gehässig, man lachte nicht mehr.

Die Wörter wurden fast täglich diffuser,

Die Sprache unverständlich konfuser.

Die Schreiblehrer waren überflüssig,

Die Kinder des Lebens überdrüssig.

 

Die Geburten nahmen ab zumal,

Vermindern tat sich der Menschen Zahl,

Und von der Wüste bis hin an das Meer,

Wuchs bei den Menschen nur ein Begehr,

Daß alles sich in den Abgrund zöge

Und endlich zugrunde gehen möge.

 

Und da begann das Reich des Pöbels

 

(Hier bricht der lesbare Teil der Tafel noch vor ihrer Bruchstelle ab…)

 

Zur Erinnerung

 

28. März 2020: Serapion an Mephisto

 

Sicher habe ich zehntausende Gedichte gelesen. Darunter einige sehr gute. Ich setze Dir unverfroren zwei davon hierher und sage: Das sind die beiden wichtigsten Gedichte deutscher Zunge. Dabei handelt es sich, wie sollte es anders sein, um zwei Blues. Um zwei deutsche Blues. In Sonettform also. Das mag sich, in mehrfacher Hinsicht gleich, anachronistisch und unsachlich und dreist subjektivistisch anhören. Aber selbst wenn neunundneunzig gesottene Germanisten aufschrien und alles für lächerlich und mich für verrückt erklärten, ich toleriere gern ihren mangelnden Durchblick und bleibe dabei. Obwohl ich gewöhnlich kein Rigorist und heute sogar frühlingshaft milde gestimmt bin. Forsythien betupfen Welt und Umwelt, Amseln trällern, Sperlinge tschilpen, Täubchen turteln…

Entstanden sind beide Sonette im selben Jahrzehnt, und, so ein Zufall aber auch, in Zeiten wahrlich entsetzlichster Pein, in monströsester Ungestalt von Krieg, Pestseuche und Tod. Wenn Baudelaire behauptet, Not sei die Mutter der Intelligenz, möchte man infolge der zeitlichen Kristallisationsnähe gleich zweier derart bedeutsamer Gedichte den Spruch auch abwandeln in: Not ist die Mutter der tiefsten Einsicht. Denn die kommt wahrlich nicht aus sattem Gemüt:

Schlaff ist, was in trägem Behagen gemästet worden ist, und nicht bei Anstrengung allein, sondern bei Bewegung und einfach durch das Gewicht seiner selbst versagt es.“ (Seneca)

Bei allem Glanz des üppigen Elends unserer Hemisphäre sei Einsicht uns besonders wichtig!

Beide Gedichte korrespondieren, und nur aus diesem Grund definiere ich sie umgekehrt zu den Zeitpunkten ihrer Entstehung als erstes und zweites.

Das erste Gedicht der zwei wichtigsten Gedichte, die ich Dir also ans Herz lege, ist später vom Autor noch einmal überarbeitet worden. Ich will Dir hier dennoch die ursprüngliche Fassung geben. Nun denn… Andreas Gryphius (1616 – 1664):

 

 

Vanitas; Vanitatum; et Omnia Vanitas

Es ist alles ganz eytel. Eccl. 1. V. 2.

 

Ich seh‘ wohin ich seh / nur Eitelkeit auff Erden /

Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein /

Wo jtzt die Städte stehn so herrlich / hoch vnd fein /

Da wird in kurzem gehn ein Hirt mit seinen Herden:

Was jtzt so prächtig blüht / wird bald zutretten werden:

Der jtzt so pocht und trotzt / läst vbrig Asch und Bein

Nichts ist / daß auff der Welt könt vnvergänglich seyn /

Jtzt scheint des Glückes Sonn / bald donnerts mit beschwerden.

Der Thaten Herrligkeit muß wie ein Traum vergehn:

Solt denn die Wasserblaß / der leichte Mensch bestehn

Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten!

Alß schlechte Nichtigkeit? als hew / staub / asch vnnd wind?

Als eine Wiesenblum / die man nicht widerfind.

Noch wil / was ewig ist / kein einig Mensch betrachten!

 

Nun gibt es Menschen, zu denen auch ich mich addiere, die tatsächlich und wieder im Gegensatz zur gängigen germanistischen Lesart, jene erste Fassung für stärker halten als die spätere. Germanisten sind ja Wesen, die selbst Goethes Novelle für vortrefflich erachten und nun schon zwei Jahrhunderte selbige Ansicht mit seminaristischem Fleiß einer vom anderen abschreiben. Denn der Kunstgreis persönlich habe jenes Urteil gefällt, vor Eckermann, und, sich bescheiden räuspernd, über die leb- und namenlose Konstruktion bedeutungsvoll hinzugefügt: „Wir wollen sie Novelle nennen…“
Apropos alles sei eitel, dennoch will ich die Nachkriegsfassung des Sonetts über unsere Wesenhaftigkeit nicht im mindesten angreifen. Verfügt sie doch ebenfalls über derartige Stärken und geht mir dermaßen unter die Haut, daß ich mich nicht vermittels Entscheidung von ihr zu trennen vermag und sie Dir vorzuenthalten nicht die geringste Veranlassung sehe.

Auch soll doppelt ja besser halten…

 

 

Es ist alles Eitel

 

Du sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.

Was dieser heute baut / reist jener morgen ein:

Wo itzund Städte stehn / wird eine Wisen seyn /

Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden:

Was itzund prächtig blüht / sol bald zutretten werden.

Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein /

Nichts ist / das ewig sey / kein Ertz / kein Marmorstein.

Itzt lacht das Glück uns an / bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.

Soll denn das Spil der Zeit / der leichte Mensch bestehn?

Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten /

Als schlechte Nichtikeit / als Schatten / Staub und Wind;

Als eine Wiesen-Blum / die man nicht wider find’t.

Noch wil was Ewig ist kein einig Mensch betrachten!

 

Und nun das ebenfalls im Dreißigjährigen Kriege, aber noch vor dem gryphiusschen entstandene Gedicht!

Paul Fleming (1609 – 1640) hat es geschrieben:

 

 

An Sich

 

SEY dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.

Weich keinem Glücke nicht. Steh‘ höher als der Neid.

Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /

hat sich gleich wieder dich Glück‘ / Ort / und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.

Nim dein Verhängnüß an. Laß‘ alles unbereut.

Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.

Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.

Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke

ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.

Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn /

und eh du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke.

Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann /

dem ist die weite Welt und alles unterthan.