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Thalatta ! Thalatta !

Kategorie-Archiv: Literatur

Serapion an Mephisto

In diesen Tagen erlaube mir, Dich zu erinnern an meines weidwunden Freundes Adelberts „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. Die ich ihrer immensen Popularität zum Trotze dennoch für unterschätzt ansehe und, vor allem, deren enorm praxistauglichen Lebensbezug, im Großen wie im Kleinen, ich für noch immer unerkannt halte während der letzten zweihundertundzwei Ellipsen unseres Planeten. Man hat vor zwei Jahren der Novelle runden Geburtstag ungeehrt verstreichen lassen, dabei war und ist die Story derart reich an Bezügen und Möglichkeiten ihrer Interpretation und glich ja auch bereits einem wahrhaften Tummelplatz scharfsinniger Geister mit durchaus dankenswerten Einsichten und wirklichen Erkenntnissen. Vor allem grübelte man natürlich, was wohl der mit Fortunati Glücksseckel ausgetauschte Schatten bedeuten möge. Du entsinnst Dich sicher, der unreiche Peter Schlemihl gerät in eine ihm unbekannte Vergnügungsgesellschaft Betuchter und handelt dort bei einem ihm ebenfalls unbekannten Mann im grauen Rock, dem gewissermaßen biedermeierlichen Mephisto, seinen für wertlos erachteten Schatten ein gegen jenen mäßig großen, festgenähten Beutel von starkem Korduanleder an zwei tüchtigen ledernen Schnüren, der ihm hinfort unbeschränkten Reichtum beschert. Schnell muß der arme Schlemihl aber feststellen, daß alle Leute, sobald sie das Fehlen seines doch eigentlich belanglosen Schlagschattens bemerken, ihn beschimpfen, verspotten, sich entsetzt zurückziehen, ihn meiden, so daß er nun ausgestoßen ist aus jeder menschlichen Gesellschaft. Was selbstverständlich auch seine zuspitzenden Auswirkungen findet beim Finden einer Braut. Wobei mir einfällt am Rande, daß im Playboy-Ersatz der Deutschen Demokratischen Republik, der Zeitschrift „Magazin“ mit ihrem monatlichen antiseptischen Aktfoto – welches also nichts zu tun hatte mit westlicher Dekadenz und mit Schund- und Schmutzliteratur – daß bisweilen dort in den Heiratsannoncen ein meist männlicher Inserent sein Interesse kundgab an einem weiblichen Wesen „mit ML-Weltanschauung“. ML stand für „marxistisch-leninistisch“ und wurde mitunter gleich in den Heiratsannoncen abgefragt. Auch Geheimpolizisten spüren bisweilen einen Drang, sich zu vermehren, sogar auf biologischem Wege. Irgendwie menschlich. Doch da der „Lebensborn“ gegen Kriegsende in Mißkredit geraten war und das geheimpolizeiliche Ministerium unter dem Tarnnamen „Staatssicherheit“ Mischehen mit einer womöglich katholischen Braut oder auch nur einer mit „Westkontakten“ nicht gestattete, jawoll, das hatte gemeldet und beantragt zu werden, blieb nur, die atheistische Rechtgläubigkeit in den lückenlos überwachten Anzeigen von vornherein abzuklären.

So geht das, wenn man seinen Schatten wegtauscht für irgendeinen festgenähten Beutel.

Da gibt es plötzlich auch kein Zurück mehr in die menschliche Gesellschaft und noch nicht einmal ein Entweder-Oder.

Die bei all den Schattenhypothesen in den Hintergrund gedrängte Szene, die ich meine, steht im achten Abschnitt der chamissoschen Novelle und ist doch, soweit ich sehen kann, in der deutschen Literatur von Weltgeltung einzig. Schlemihl kann Mina nicht heiraten und ist unter Menschen auf ewig verfemt und am Ende. Er will nur seinen Schatten zurück, doch der Herr im grauen Rock spielt mit ihm, verfolgt und verhöhnt ihn tagelang in einem Gebirg, halb geduldet, denn Schlemihl kämpft um seinen Schatten. Er bietet den Rücktausch des Beutels für seinen Schatten und versucht sogar, selbigen dem Herrn rechtswidrig zu entwenden – vergeblich. Das teuflische Angebot: Schlemihl erhalte den Schatten zurück und könne sogar den Beutel behalten – allerdings nur gegen die Überlassung seiner Seele.

Wir saßen einst vor einer Höhle, welche die Fremden, die das Gebirg bereisen, zu besuchen pflegen. Man hört dort das Gebrause unterirdischer Ströme aus ungemessener Tiefe heraufschallen, und kein Grund scheint den Stein, den man hineinwirft, in seinem hallenden Fall aufzuhalten. Er malte mir, wie er öfters tat, mit verschwenderischer Einbildungskraft und im schimmernden Reize der glänzendsten Farben, sorgfältig ausgeführte Bilder von dem, was ich in der Welt, kraft meines Säckels, ausführen würde, wenn ich erst meinen Schatten wieder in meiner Gewalt hätte. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, hielt ich mein Gesicht in meinen Händen verborgen und hörte dem Falschen zu, das Herz zwiefach geteilt zwischen der Verführung und dem strengen Willen in mir. Ich konnte bei solchem innerlichen Zwiespalt länger nicht ausdauern, und begann den entscheidenden Kampf:

„Sie scheinen, mein Herr, zu vergessen, daß ich Ihnen zwar erlaubt habe, unter gewissen Bedingungen in meiner Begleitung zu bleiben, daß ich mir aber meine völlige Freiheit vorbehalten habe.“ – „Wenn Sie befehlen, so pack ich ein.“ Die Drohung war ihm geläufig. Ich schwieg; er setzte sich gleich daran, meinen Schatten wieder zusammenzurollen. Ich erblaßte, aber ich ließ es stumm geschehen. Es erfolgte ein langes Stillschweigen. Er nahm zuerst das Wort:

„Sie können mich nicht leiden, mein Herr, Sie hassen mich, ich weiß es; doch warum hassen Sie mich? Ist es etwa, weil Sie mich auf öffentlicher Straße angefallen, und mir mein Vogelnest mit Gewalt zu rauben gemeint? oder ist es darum, daß Sie mein Gut, den Schatten, den Sie Ihrer bloßen Ehrlichkeit anvertraut glaubten, mir diebischer Weise zu entwenden gesucht haben? Ich meinerseits hasse Sie darum nicht; ich finde ganz natürlich, daß Sie alle Ihre Vorteile, List und Gewalt geltend zu machen suchen; daß Sie übrigens die allerstrengsten Grundsätze haben und wie die Ehrlichkeit selbst denken, ist eine Liebhaberei, wogegen ich auch nichts habe. – Ich denke in der Tat nicht so streng als Sie; ich handle bloß, wie Sie denken. Oder hab ich Ihnen etwa irgend wann den Daumen auf die Gurgel gedrückt, um Ihre werteste Seele, zu der ich einmal Lust habe, an mich zu bringen? Hab ich von wegen meines ausgetauschten Säckels einen Diener auf Sie losgelassen? hab ich Ihnen damit durchzugehen versucht?“ Ich hatte dagegen nichts zu erwidern; er fuhr fort: „Schon recht, mein Herr, schon recht! Sie können mich nicht leiden; auch das begreife ich wohl, und verarge es Ihnen weiter nicht. Wir müssen scheiden, das ist klar, und auch Sie fangen an, mir sehr langweilig vorzukommen. Um sich also meiner ferneren beschämenden Gegenwart völlig zu entziehen, rate ich es Ihnen noch einmal: Kaufen Sie mir das Ding ab.“ – Ich hielt ihm den Säckel hin: „Um den Preis.“ – „Nein!“ – Ich seufzte schwer auf und nahm wieder das Wort: „Auch also. Ich dringe darauf, mein Herr, laßt uns scheiden, vertreten Sie mir länger nicht den Weg auf einer Welt, die hoffentlich geräumig genug ist für uns beide.“ Er lächelte und erwiderte: „Ich gehe, mein Herr, zuvor aber will ich Sie unterrichten, wie Sie mir klingeln können, wenn Sie je Verlangen nach Ihrem untertänigsten Knecht tragen sollten: Sie brauchen nur Ihren Säckel zu schütteln, daß die ewigen Goldstücke darinnen rasseln, der Ton zieht mich augenblicklich an. Ein jeder denkt auf seinen Vorteil in dieser Welt; Sie sehen, daß ich auf Ihren zugleich bedacht bin, denn ich eröffne Ihnen offenbar eine neue Kraft. – O dieser Säckel! – Und hätten gleich die Motten Ihren Schatten schon aufgefressen, der würde noch ein starkes Band zwischen uns sein. Genug, Sie haben mich an meinem Gold, befehlen Sie auch in der Ferne über Ihren Knecht, Sie wissen, daß ich mich meinen Freunden dienstfertig genug erweisen kann, und daß die Reichen besonders gut mit mir stehen; Sie haben es selbst gesehen. – Nur Ihren Schatten, mein Herr – das lassen Sie sich gesagt sein – nie wieder, als unter einer einzigen Bedingung.“

Da wirft der Peter Schlemihl den Glückssack unwiederzurückholbar in den Abgrund.

Und verzichtet trotz aller Folgen auf Schatten, Geld und jegliche Paktmöglichkeit mit dem Teufel.

Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter von den Grünen wurden mir dieser Tage auffällig mit ihrer teuren Forderung, Kanzlerin Merkel habe nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Griechenland nun unverzüglich einen europäischen Sondergipfel einzuberufen und eine politische Lösung des Schuldenstreits herbeizuführen. Denn man könne solche Frage ja nicht Finanzministern mit ihren „Rechenschiebern“ überlassen. Nun will ich den billig Fordernden gern zugestehen, daß sie wohl wissen, daß Rechenschieber bei Bilanzierungen grundsätzlich fehl am Platze sind, ihr Bild also von vornherein schief ist, und daß sie im wirklichen Leben zwischen Addition und Multiplikation zu unterscheiden wissen. Allein schon wegen jener Forderung wage ich es jedoch, ihnen die Kompetenz, auch als bloße Politiker, in diesem Punkt abzusprechen.

Die Frage nach der Kompetenz ist übrigens immer wieder eine gute Frage bei Vielrednern.

Was wäre Griechenland und dem Rest Europas nicht alles erspart geblieben, wenn über die Euromitgliedschaft dieses Landes eben nicht politisch entschieden worden wäre!

Oder wenn man sich daran hielte:

„Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“ ( Aus Artikel 125 des Euro-Stabilitätspakts)

Serapion an Mephisto

Apropos Lyrik. Sicher habe ich zehntausende Gedichte gelesen. Darunter einige sehr gute. Ich setze Dir unverfroren zwei davon hierher und sage: Das sind die beiden wichtigsten Gedichte deutscher Zunge. Dabei handelt es sich, wie sollte es anders sein, um zwei Blues. Um zwei deutsche Blues, in Sonettform also. Das mag sich, in mehrfacher Hinsicht gleich, anachronistisch und unsachlich und dreist subjektivistisch anhören. Aber selbst wenn neunundneunzig gesottene Germanisten aufschrien und alles für lächerlich und mich für verrückt erklärten, ich toleriere gern ihren mangelnden Durchblick und bleibe dabei. Obwohl ich gewöhnlich kein Rigorist und heute sogar frühlingshaft milde gestimmt bin. Forsythien betupfen Welt und Umwelt, Amseln trällern, Sperlinge tschilpen, Täubchen turteln…

Entstanden sind beide Sonette im selben Jahrzehnt, und, so ein Zufall aber auch, in Zeiten wahrlich entsetzlichster Pein, in monströsester Ungestalt von Krieg, Pest und Tod. Wenn Baudelaire behauptet, Not sei die Mutter der Intelligenz, möchte man infolge der zeitlichen Kristallisationsnähe gleich zweier derart bedeutsamer Gedichte den Spruch auch abwandeln in: Not ist die Mutter der tiefsten Einsicht. Denn die kommt wahrlich nicht aus sattem Gemüt. („Schlaff ist, was in trägem Behagen gemästet worden ist, und nicht bei Anstrengung allein, sondern bei Bewegung und einfach durch das Gewicht seiner selbst versagt es.“ – Seneca)

Bei allem Glanze des üppigen Elends unserer Hemisphäre sei Einsicht uns besonders wichtig.

Beide Gedichte korrespondieren, und nur aus diesem Grund definiere ich sie umgekehrt zu den Zeitpunkten ihrer Entstehung als erstes und zweites.

Das erste Gedicht der zwei wichtigsten Gedichte, die ich Dir also ans Herz lege, ist später vom Autor noch einmal überarbeitet worden. Ich will Dir hier dennoch die ursprüngliche Fassung geben. Nun denn… Andreas Gryphius (1616 – 1664):

 

 

Vanitas; Vanitatum; et Omnia Vanitas

Es ist alles ganz eytel. Eccl. 1. V. 2.

 

Ich seh‘ wohin ich seh / nur Eitelkeit auff Erden /

Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein /

Wo jtzt die Städte stehn so herrlich / hoch vnd fein /

Da wird in kurzem gehn ein Hirt mit seinen Herden:

Was jtzt so prächtig blüht / wird bald zutretten werden:

Der jtzt so pocht und trotzt / läst vbrig Asch und Bein

Nichts ist / daß auff der Welt könt vnvergänglich seyn /

Jtzt scheint des Glückes Sonn / bald donnerts mit beschwerden.

Der Thaten Herrligkeit muß wie ein Traum vergehn:

Solt denn die Wasserblaß / der leichte Mensch bestehn

Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten!

Alß schlechte Nichtigkeit? als hew / staub / asch vnnd wind?

Als eine Wiesenblum / die man nicht widerfind.

Noch wil / was ewig ist / kein einig Mensch betrachten!

 

Nun gibt es Menschen, zu denen auch ich mich addiere, die tatsächlich, wieder im Gegensatz zur gängigen germanistischen Lesart, jene erste Fassung für stärker halten als die spätere. Germanisten sind ja Wesen, die selbst Goethes Novelle für vortrefflich erachten und nun schon zwei Jahrhunderte selbige Ansicht mit seminaristischem Fleiß einer vom anderen abschreiben. Denn der Kunstgreis persönlich habe jenes Urteil gefällt, vor Eckermann, und, sich bescheiden räuspernd, über die leb- und namenlose Konstruktion bedeutungsvoll hinzugefügt: „Wir wollen sie Novelle nennen…“

Apropos alles sei eitel, dennoch will ich die Nachkriegsfassung des Sonetts über unsere Wesenhaftigkeit nicht im mindesten angreifen. Verfügt sie doch ebenfalls über derartige Stärken und geht mir dermaßen unter die Haut, daß ich mich nicht vermittels Entscheidung von ihr zu trennen vermag und sie Dir vorzuenthalten nicht die geringste Veranlassung sehe. Auch soll doppelt ja besser halten…

 

 

Es ist alles Eitel

 

Du sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.

Was dieser heute baut / reist jener morgen ein:

Wo itzund Städte stehn / wird eine Wisen seyn /

Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden:

Was itzund prächtig blüht / sol bald zutretten werden.

Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein /

Nichts ist / das ewig sey / kein Ertz / kein Marmorstein.

Itzt lacht das Glück uns an / bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.

Soll denn das Spil der Zeit / der leichte Mensch bestehn?

Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten /

Als schlechte Nichtikeit / als Schatten / Staub und Wind;

Als eine Wiesen-Blum / die man nicht wider find’t.

Noch wil was Ewig ist kein einig Mensch betrachten!

 

Und nun das ebenfalls im Dreißigjährigen Kriege, aber noch vor dem gryphiusschen entstandene Gedicht! Paul Fleming (1609 – 1640) hat es geschrieben:

 

 

An Sich

 

SEY dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.

Weich keinem Glücke nicht. Steh‘ höher als der Neid.

Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /

hat sich gleich wieder dich Glück‘ / Ort / und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.

Nim dein Verhängnüß an. Laß‘ alles unbereut.

Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.

Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.

Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke

ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.

Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn /

und eh du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke.

Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann /

dem ist die weite Welt und alles unterthan.

 

Mephisto an Serapion

 

Die meisten Selbstmorde finden im Frühjahr statt, und nur für die wenigsten findet sich selbst bei genauester Analyse von Persönlichkeit, Milieu, Familie ein klar erkennbarer Grund. Nur in etwa zwanzig Prozent aller Selbstmordfälle – und ich habe Tausende durchstudiert – liegt ein sachlich feststellbares Motiv vor wie Ehekonflikte, Furcht vor Strafe, Geschlechtskrankheit, Liebeskummer – in den übrigen Fällen bleibt das Motiv völlig dunkel. Ich habe daraufhin, da ich für diese Fragen Spezialist in der Versorgung wurde, die ganze sehr umfangreiche Literatur der ganzen Welt durchstudiert und fand meine Beobachtung bestätigt. Die meisten Selbstmorde sind Spontanhandlungen, oft unter Alkoholeinwirkung, selten vorher bedacht. Offenbar sind wir den Reizen zum Selbstmord innerlich viel näher, als wir vermuten und bei der Art unserer moralischen Selbstaufrüstung zugeben wollen.

Gottfried BennDoppelleben

Mephisto an Bellarmin

Warum wollte Griechenland in die Eurozone, und wie kam es hinein?

Auf dem Schlachtfeld vor dem skäischen Tore Trojas begegnen sich der griechische Held Diomedes und auf trojanischer Seite der Recke Glaukos im Kampfe, wie Homer uns im sechsten Gesang der Ilias in vossischer Übersetzung berichtet:

Glaukos nun, des Hippolochos Sohn, und der Held Diomedes

Kamen hervor aus den Heeren gerannt in Begierde des Kampfes.

Als sie nunmehr sich genaht, die Eilenden, gegeneinander,

Redete also zuerst der Rufer im Streit Diomedes:

Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdenbewohner?

Nie ersah ich ja dich in männerehrender Feldschlacht

Vormals, aber anjetzt erhebst du dich weit vor den andern,

Kühnes Muts, da du meiner gewaltigen Lanze dich darstellst.

Meiner Kraft begegnen nur Söhn‘ unglücklicher Eltern! …

Wenn du ein Sterblicher bist und genährt von Früchten des Feldes,

Komm dann heran, daß du eilig das Ziel des Todes erreichest.

Ihm antwortete drauf Hippolochos‘ edler Erzeugter:

Tydeus‘ mutiger Sohn, was fragst du nach meinem Geschlechte?

Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen,

Einige streut der Wind auf die Erd hin, andere wieder

Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlinges Wärme;

So der Menschen Geschlecht; dies wächst und jenes verschwindet. …

Aber Hippolochos zeugete mich, ihn rühm ich als Vater.

Dieser sandt in Troja mich her und ermahnte mich sorgsam,

Immer der erste zu sein und vorzustreben vor andern,

Daß ich der Väter Geschlecht nicht schändete, welches die ersten

Männer in Ephyra zeugt‘ und im weiten Lykierlande.

Sieh, aus solchem Geschlecht und Blute dir rühm ich mich jetzo.

Sprachs, doch freudig vernahm es der Rufer im Streit Diomedes.

Eilend steckt‘ er die Lanz in die nahrungsprossende Erde,

Und mit freundlicher Rede zum Völkerhirten begann er:

Wahrlich, so bist du Gast aus Väterzeiten schon vormals! …

Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos,

Du in Lykia mir, wann jenes Land ich besuche;

Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Getümmel. …

Aber die Rüstungen beide vertauschen wir, daß auch die andern

Schaun, wie wir Gäste zu sein aus Väterzeiten uns rühmen.

Also redeten jen‘, und herab von den Wagen sich schwingend,

Faßten sie beid einander die Händ‘ und gelobten sich Freundschaft.

Doch den Glaukos erregete Zeus, daß er ohne Besinnung

Gegen den Held Diomedes die Rüstungen, goldne mit ehrnen,

Wechselte, hundert Farren sie wert, neun Farren die andern.

Und noch vor dem „Rufer im Streit“ Diomedes gilt seit Zeiten des trojanischen Krieges den Griechen der „listenreiche Odysseus“ als ihr Nationalheld. Wobei es zum einen bei der Auslöschung Trojas wohl eher gegen einen konkurrierenden Handel und Wandel gegangen sein dürfte statt um die Rückführung der schöne Helena in Menelaos Bett, und zum andern Odysseus beim Tricksen und Täuschen durchaus nicht zimperlich war. Erinnert sei etwa an die Aussetzung des unheilbar verwundeten Philoktetes „an der wüsten und unbewohnbaren Küste der Insel Lemnos“ durch den „verschlagenen Odysseus“, weil Philoktetes ewig eiternde Wunde ihnen zu sehr stank und sein Wehklagen die gen Troja segelnden Krieger nervte. „Der schlaue Odysseus“ vollführte „diesen hinterlistigen Anschlag“, indem er den schlafenden Helden am Strand ablegte mit „so viel Kleidungsstücken und Lebensmittel“, „als zur kümmerlichen Fristung seines Lebens für die nächsten Tage nötig waren“, wie uns Gustav Schwab in den „Sagen des klassischen Altertums“ zu berichten wußte. Doch hatten die achäischen Recken sich insofern verrechnet, als ihnen im neunten Jahre der vergeblichen Belagerung der trojanischen Feste ihr Seher Kalchas verkünden mußte, sie könnten sich ewig im sieglosen Streite gegen diese Stadt abmühen, solange sie nicht Philoktetes mit seinen unwiderstehlichen herakleidischen Pfeilen von der Insel Lemnos herbeischafften.

Zwecks dessen Entführung schifften der „kluge Odysseus“ mit dem „tapferen Jüngling Neoptolemos“ zurück nach „der unbetretenen, unbewohnten Küste der wüsten Insel Lemnos“. „Das erste, was sie taten, war, daß ein Diener auf die Lauer ausgesandt wurde, damit der Kranke sie nicht überraschen könnte“, während sie sich berieten, „denn nur durch Täuschung können wir uns seiner bemächtigen“, meinte der Sage nach Odysseus. Denn man hatte natürlich Angst vor Philoktetes „unbesiegbaren Geschossen“, weswegen: „ohne List bekommen wir den Mann und die Pfeile nicht“. Neoptolemos plädiert für kämpferische Überwältigung, Odysseus hingegen für arglistige Täuschung. Sein Plan ist derart heimtückisch, daß Neoptolemos sich wehrt, „eine Tat, die ich ohne Abscheu nicht hören kann, vermag ich auch nicht zu tun; weder ich noch mein Vater sind zu so böser Kunst geboren worden. Gern bin ich bereit, den Mann mit Gewalt zu fangen; nur erlaß mir die Arglist!“

Odysseus erwidert, auch er sei „in der Jugend mit der Zunge langsam und rasch mit der Hand“ gewesen. „Erst die Erfahrung mußte mich belehren, daß die Welt weniger durch Taten als durch Worte gelenkt wird.“

Wie wir wissen, gelang Odysseus Plan, und die Welt kennt seiner listigen Worte Ergebnis. Troja lag in Trümmern und Helena im Bett des alten Gatten.

Etliche Jahre später verbrannten die historischen Griechen das persische Schiffslager bei Mykale. Und schlossen zur Vorsorge gegen künftige persische Angriffsgelüste den Delischen Verteidigungsbund. Für den Ausbau von Befestigungen, den Unterhalt der Kriegsflotte und Zurüstungen wurden die von den souveränen Stadtstaaten aufgebrachten finanziellen Mittel im Schatzamt des Bundes gehortet in einem Tempel auf der Insel Delos, hier traten die Abgeordneten der Bundesmitglieder regelmäßig zusammen. Bis auf das Betreiben des Perikles der delische Schatz nach Athen, sagen wir einmal, listenreich „verlegt“ wurde. Um nicht von Heimtücke zu sprechen. Hinsichtlich ihrer Beiträge wurden die ehemaligen Bundesgenossen hinfort tributpflichtig, und ihre Eulen wanderten fleißig nach Athen. Was nun begann, war die klassische Ära. Phidias und Iktinos wurden mit dem Wiederaufbau der durch die Perser zerstörten Akropolis von Athen beauftragt. Als Krönung schmückte die Akropolis der Parthenon, das Haus der Jungfrau, der Tempel der Athene aus reinstem weißen Marmor. Darin die Cella, die Wohnung der Göttin mit ihrem zwölf Meter hohen Standbild aus Gold und Elfenbein. Als Eingang zur Akropolis die Propyläen, die auch zur Beherbergung von Weihegeschenken und als Kultstätten dienten. Die ganze Bergoberfläche wurde in eine von der Heiligen Straße durchschnittenen ebene Terrasse verwandelt, hinauf führte die imposante Treppe. Perikles ließ auch den Hafen von Piräus ausbauen, die langen Mauern errichten und auch das Odeion. Voilà, Athen stand in schönster Blüte.

Das nötige Kleingeld der griechischen Klassik, für all ihre feinen Bauten und Kunstwerke, ließ Perikles der Kasse des Delischen Bundes, sagen wir einmal, listenreich „entnehmen“.

Während all jener berühmten perikleidischen Prachtjahre der griechischen Klassik verkam Athen im Dreck. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wurden die Abfälle durchs Fenster auf die meist ungepflasterten Straßen geworfen. Ekelerregend stanken während der Sommerhitze die Müllhaufen vor den Häusern. Es gab keinerlei Sanitäranlagen, und wenn es regnete, versank man knöcheltief im Morast. Aufgeräumt wurde nur vor Festumzügen und Paraden. In der ganzen Stadt existierte nicht ein einziges prunkvolles Haus! Je reicher man war, um so höher die Steuern, also stellte man doch seine Habe nicht listenarm zur Schau…

Denn Handel und Gewerbe blühten. In Athen wimmelte es vor Gerbern, Lampenmachern, Müllern, Bäckern, Kleiderfabrikanten, Eisengießern, Goldschmieden, Steinmetzen, Zimmerern, Anstreichern, Metallarbeitern, Bergarbeitern, Sägemüllern, Ziegelmachern, Dachdeckern, Bildhauern, Maurern, Bauunternehmern, Schneidern, Spinnern, Webern, Wollbereitern, Färbern, Stickerinnen, Krankenschwestern, Winzern, Wagenbauern, Seilern, Flachsarbeitern, Lederzurichtern, Straßenbauern und Kaufleuten, Kaufleuten, Kaufleuten. Exportiert wurden Weine, Öle, Wolle, Marmor und an Kunstgegenständen nicht nur die überall begehrten attischen Vasen.

Perikles starb, kaum von der Pestseuche genesen, an der Pockenseuche.

Was fällt mir noch ein?

Am 24. Oktober 1862, also mehr als zwei Jahrtausende später, wurde der Griechenkönig Otto durch einen Militärputsch zur Abdankung und zum Verlassen des Landes gezwungen. Der Wittelsbacher war dreißig Jahre zuvor, nach dem griechischen Befreiungskampf gegen die türkische Fremdherrschaft, von der griechischen Nationalversammlung zum König gewählt worden. Hauptgründe für seine Vertreibung: Er hatte deutsche Architekten, Beamte, Gelehrte, Lehrer, Offiziere in das Land geholt und die Vorrechte der mächtigen Familienclans nicht respektieren wollen.

Also, wie ich letzte Woche mitbekam, denkt man jetzt, im siebten Jahr der Krise, tatsächlich schon daran, daß man in Griechenland Steuern nicht nur erheben, sondern sogar eintreiben müsse. Es geht voran!