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Thalatta ! Thalatta !

Schlagwort-Archiv: Euro-Stabilitätspakt

Es wieder wagen, das Offensichtliche zu sagen

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30. Juli 2022: Hans Christian an Mephisto

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Des Kaisers neue Kleider

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Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, daß er all‘ sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um Theater, und liebte es nicht, in den Wald zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagt, er ist im Rat, so sagte man hier immer: „Der Kaiser ist in der Garderobe!“

In der großen Stadt, in welcher er wohnte, ging es sehr munter her. An jedem Tage kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, daß sie das schönste Zeug, was man sich denken könne, zu weben verständen. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht wurden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, daß sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.

„Das wären ja prächtige Kleider,“ dachte der Kaiser; „wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinter kommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!“ Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.

Sie stellten auch zwei Webstühle auf, thaten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.

„Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!“ dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zu Mute, wenn er daran dachte, daß der, welcher dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es nicht sehen könne. Nun glaubte er zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft das Zeuge habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.

„Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden,“ dachte der Kaiser; „er kann am besten beurteilen, wie das Zeug sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!“

Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. „Gott behüte uns!“ dachte der alte Minister und riß die Augen auf. „Ich kann ja nichts erblicken!“ Aber das sagte er nicht.

Beide Betrüger baten ihn näher zu treten, und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl und der arme, alte Minister fuhr fort die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. „Herr Gott,“ dachte er, „sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, daß ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!“

„Nun, Sie sagen nichts dazu?“ fragte der eine von den Webern.

„O, es ist niedlich, ganz allerliebst!“ antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. „Dieses Muster und diese Farben! – Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!“

„Nun, das freut uns!“ sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das that er auch.

Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, um es zum Weben zu gebrauchen. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten.

Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob das Zeug bald fertig sei; es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er sah und sah; weil aber außer dem Webstuhle nichts da war, so konnte er nichts sehen.

„Ist das nicht ein hübsches Stück Zeug?“ fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, welches gar nicht da war.

„Dumm bin ich nicht,“ dachte der Mann; „es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muß man sich nicht merken lassen!“ Daher lobte er das Zeug, welches er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. „Ja, es ist ganz allerliebst!“ sagte er zum Kaiser.

Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter welchen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner waren, die schon früher dagewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden.

„Ja, ist das nicht prächtig?“ sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. „Wollen Ew. Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?“ und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, daß die andern das Zeug wohl sehen könnten.

„Was!“ dachte der Kaiser; „ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte. O, es ist sehr hübsch,“ sagte er; „es hat meinen allerhöchsten Beifall!“ und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, daß er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus, als alle die andern, aber sie sagten gleichwie der Kaiser: „O, das ist hübsch!“ und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei dem großen Feste, das bevorstand, zu tragen. „Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!“ ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber.

Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem das Fest statthaben sollte, waren die Betrüger auf und hatten über sechszehn Lichte angezündet. Die Leute konnten sehen, daß sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie thaten, als ob sie das Zeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: „Sieh, nun sind die Kleider fertig!“

Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas hielten, und sagten: „Seht, hier sind die Beinkleider! hier ist das Kleid! hier der Mantel!“ und so weiter. „Es ist so leicht wie Spinnewebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit dabei!“

„Ja!“ sagten alle Beamte, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts.

„Belieben Ew. kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen,“ sagten die Betrüger, „so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!“

Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzögen, welche fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel.

„Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!“ sagten alle. „Welches Muster! welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!“ –

„Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, welche über Ew. Majestät getragen werden soll!“ meldete der Oberceremonienmeister.

„Seht, ich bin ja fertig!“ sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine Kleider recht betrachte.

Die Kammerherren, welche die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und thaten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten.

So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: „Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!“ Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt, oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht als diese.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. „Hört die Stimme der Unschuld!“ sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: „Nun muß ich aushalten.“ Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.

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Hans Christian Andersen (1805 -1875)

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Gleichgeschaltet

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25. September 2021: Bellarmin an Mephisto

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In einem haben sie recht, die deutschen Medien: solch eine Wahl hat es noch nie gegeben in der Bundesrepublik!

Dann beginnen sie gewöhnlich herunterzubeten, daß der Amtsinhaber sich nicht zur Wiederwahl stelle, daß es diesmal höchstwahrscheinlich drei Parteien brauche zur Regierungsbildung, daß es noch nie so viele Wechselwähler gab, und, ach ja, und auch derart viele Briefwähler. Und dergleichen Aufgeregtheiten an bemerktem und für auffällig befundenem sekundären Plunder, über den man sich tagelang wiederkäuend verbreitet, und dann am Morgen immer noch einmal von vorne und am Mittag von der Seite und am Abend von hinten kurz vor dem Erbrechen zwischen den Kinnbacken herumgewälzt: solch eine Wahl habe es noch nie gegeben.

Und das stimmt ja!

Vor allem jedoch hat es noch nie so einen „Wahlkampf“ gegeben!

Wenn man allein schon an die dilettantisch organisierten sogenannten Trielle und „Spitzenrunden“ denkt in einem ganzen Spektrum von Sendern der bundesrepublikanischen privaten und öffentlich-rechtlichen Anstalten! Alle, wie gleichgeschaltet, schon von journalistischer Seite (!), kritische Themen meidend.

Zum Beispiel die sogenannte Flüchtlingspolitik!

Und ihre seit Jahren aus irgend einem Grund vergeblich von der Kanzlerin propagierte europäische Lösung!

Mittels Quotenregelung!

Europapolitik!

Eurokrise!

Staatsverschuldungen!

Mitgliedschaft der Türkei in der EU!

Noch im letzten „Fernsehduell“ vor der Wahl 2017 zwischen Kanzlerin Merkel und Schaumschläger Schulz (SPD) von letzterem lächerlich durchsichtig als Trumpfkarte urplötzlich in Frage gestellt!

Die Politik gegenüber der Türkei!

Noch im letzten Wahlkampf 2017 von Gabriel (SPD) lächerlich durchsichtig urplötzlich als künftig verändert angekündigt!

Der russische Imperialismus!

Der chinesische Imperialismus!

All die Pannen bei der Pandemiebekämpfung!

Nichts von alledem!

Wie auf Kommando!

Und wie auf Kommando diese beängstigend braven Politiker!

Wie als handele es sich bei den Fernsehterminen um Quizrunden!

Da werden sie, um nur einen Tiefpunkt zu nennen, tatsächlich aufgefordert, lediglich stumm per Daumenzeichen zu bekunden, ob sie für oder gegen „Nordstream 2“ seien!

Und da hebt die versammelte Elite unserer gegenwärtigen deutschen Spitzenpolitiker (!), parteiübergreifend artig ihre Fingerchen!

Und macht Männchen!

Und dann ist Schluß!

Damit ist das Thema abgehakt!

Was für ein Schlüsselerlebnis!

„Wahlkampfdebatte“ nach 16 Jahren merkelscher Watte…

Einfach niedlich!

Man stelle sich vor: Brandt, Strauß, Wehner, Scheel, Schmidt, Barzel wären von „Fernsehmoderatoren“ aufgefordert worden, sich per Handzeichen zur neuen Ostpolitik zu äußern…

Etwas sagt mir dezidiert: Das wäre anders ausgegangen!

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Es ist alles derart erbärmlich in diesem insgesamt noch erbärmlicheren Wahlkampf, dass man sich wünscht, die Ergebnisse der übernächsten Bundestagswahl mögen bitte in der Trommel der Lottozahlen ausgelost werden. Hauptsache, nicht noch einmal irgendwelche Aufeinandertreffen von Kanzlerkandidaten zu politischen Themen vor deutschen Fernsehkameras.

Dienstag, 21. September 2021, CICERO

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17.9.16 Mephisto an Bellarmin

 

Ja mach nur einen Plan

Sei nur ein großes Licht!

Und mach dann noch ’nen zweiten Plan

Gehn tun sie beide nicht.

 

Bertolt Brecht (1898 – 1956)

 

Heile heile Gänschen! Die Regierungschefs der sogenannten Europäischen Union, da saßen sie denn zusammen in Bratislava mit den Funktionären der organisierten Verantwortungslosigkeit, um die Union zu retten. Ja, man signalisierte durchaus Bewußtsein für den Ernst der Lage. Was hingegen zu unterscheiden ist und prompt verwechselnd gleichgesetzt wurde mit Einsicht in die Lage. Welche hingegen fehlte. Zur Rettung der sogenannten Europäischen Union, „um Vertrauen zurückzugewinnen“, verfiel man nämlich der Idee, Einmütigkeit „zu zeigen“ und, nach dem originalen Geschwätz der deutschen Kanzlerin, Beschlußfähigkeit „zu demonstrieren“…

Aha, könnte hier der gutmenschliche Betrachter folgern, das Heil der Gemeinschaft krankte an Beschlußunfähigkeit!

Verursacht wohl durch die zu diesem Bratislaver Gipfel ungeladenen, weil beschlußbremsenden Briten. Die aber, angekündigtermaßen von unseren europäischen Durchblickern, nun untergehen werden infolge ihres aus Blödsinn beschlossenen „Brexits“.

Denn die EU ist gerettet! Endlich wieder neue Beschlüsse aus Brüssel! Pardon, aus Bratislava.

Als hervorragendes Exempel stach mir gleich der Beschluß zur Schaffung gemeinsamer militärischer Einheiten und einer europäischen „Kommandozentrale“ in mein ungeschütztes Auge, zur, wie der französische Hollande es ausdrückte, zur Verteidigung der Europäischen Union…

Das ist es ja, wonach wir dürsteten.

Wie nützlich! Neben der Nato eine eigene militärische EU-Formation! Und tatsächlich, diese blöden Briten haben das immer abgelehnt. Fanden diese mittlerweile sehr angejahrte französische Idee konkurrierender Militärverbände zur Nato überflüssig wie einen Kropf…

Ein französisches Prestigeprojekt zu Aufwertung des Stellenwertes der Grande Nation in einem Nicht-Nato-Verband, also ohne die USA! Finanziert, na? Dreimal darfst Du raten… Finanziert durch Eurobonds natürlich…

Also kostet ja niemanden nichts.

Lassen wir das. Daß aus den hehren, allerdings durchschaubar schwachsinnigen Ankündigungen europäischer Politiker nach dem Austrittsbegehren der eindeutigen britischen Volksmehrheit nichts werden würde, war eigentlich nicht schwer zu erahnen, sofern man einigermaßen aufmerksam das Geschehen verfolgte und über ein minimales Gedächtnis verfügt. Zudem ist es für den, der eine funktionierende Europäische Union will, durchaus ein gutes Zeichen. Daß es jedoch zu einer derartig primitiven Publikumsverarschung käme, hat mich denn doch entsetzt.

Und so halte ich es beängstigenderweise für wahrscheinlicher, daß ehe Großbritannien unterginge am „Brexit“ und den Folgen, die sogenannte Europäische Union untergeht.

Und das alles zur Gaudi von Petry, Le Pen und Putin!

 

Mittwoch, 14. September 2016, Deutschlandfunk:

Christiane Kaess: Glauben Sie denn, dass dieses Mehr an Solidarität, das Juncker fordert in der Flüchtlingskrise, dass sich das noch realisieren lässt?

Lüder Gerken: Es zeichnet sich derzeit leider nicht ab.

Diese Egoismen spielen eine sehr starke Rolle und Deutschland ist im Grunde genommen, die Bevölkerung in Deutschland ist im Grunde genommen eine der wenigen in der Europäischen Union, die sagt, die europäische Integration hat einen Eigenwert. Wenn Sie in Frankreich oder in Großbritannien oder in Spanien oder auch in Polen sich umhören, da wird die europäische Integration immer als Mittel zum Zweck der Durchsetzung nationaler Interessen gesehen. Das ist eine ganz andere Bewusstseinslage.

Kaess: Aber man kann ja, Herr Gerken, nationale Interessen haben und dennoch gemeinsame Werte teilen. Deshalb noch mal meine Frage: Teilt man überhaupt gemeinsame Werte noch, wenn wir uns die Flüchtlingspolitik und auf der einen Seite jetzt mal die zwei Extreme Deutschland und auf der anderen Seite Ungarn ansehen?

Gerken: Wie gesagt: auf einem sehr abstrakten Niveau schon. Aber wenn es dann darum geht, das herunterzubrechen auf die konkreten politischen Vorgänge und Ziele und Aufgaben und Tätigkeiten, dann hören diese gemeinsamen Dinge sehr schnell auf und zergliedern sich in verschiedene Präferenzen und Strömungen. Das ist das Problem!

Kaess: Dass nationale Regierungen vor allem an nationale Interessen denken, das entspricht aber durchaus der Stimmung im Volk, oder?

Gerken: Ja, natürlich! Natürlich wollen auch die nationalen Regierungen und Parlamente wiedergewählt werden. Sie müssen natürlich auf das Volk hören. Das ist ja auch einer der Gründe, warum die Franzosen und die Polen und auch die Briten sich in einer ganz bestimmten Weise verhalten.

Wir Deutschen haben eine ganz andere Vorstellung von der weiteren Integration wie etwa die Polen oder auch die Briten, und darüber hat man sich in der Vergangenheit auf europäischer Ebene nicht verständigen können. Nehmen wir den europäischen Verteidigungsfonds, den Herr Juncker heute vorgeschlagen hat. Das geht zurück auf ein Grundsatzpapier von Thierry Breton, dem ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsminister unter Chirac. … Wenn man das Papier von Breton sich genauer anschaut, steht dahinter die Finanzierung dieses Fonds über Eurobonds.

Kaess: Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Aspekt herausgreifen, auch einen wirtschaftlichen. Es geht um die Arbeitslosigkeit. Juncker will diesem schon milliardenschweren Plan für Investitionen verdoppeln. Er will ihn auf 630 Milliarden Euro aufstocken. Was bringt dieser Investitionsplan?

Gerken: Das ist eine große Frage. Man muss bei staatlich geförderten Investitionen immer sehr vorsichtig sein, weil man nicht genau weiß, ob diese Investitionen wirklich marktfähig und damit nachhaltig sind. Der Investitionsfonds mit den 315 Milliarden, der bisher, wie Juncker sagt, zu etwa einem Drittel jetzt wirksam geworden ist, ist so jung, dass man heute entsprechende Effekte noch gar nicht abschätzen kann. Deswegen erscheint es mir relativ früh zu sagen, wir wollen diesen Fonds, weil er erfolgreich sei, verdoppeln.

Kaess: Sagt Lüder Gerken. Er ist Vorsitzender des Centrums für europäische Politik.

 

Freitag, 16. September 2016, Deutschlandfunk:

Dirk Müller: Die EU will besser werden, sie will gut tun – unser Thema jetzt mit dem Europaparlamentarier Richard Sulik, Parteichef der Rechtsliberalen in der Slowakei, die dort die stärkste Oppositionskraft bilden. Richard Sulik ist ein scharfer Kritiker der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel wie auch ein scharfer Kritiker der finanziellen Rettungspolitik der EU gegenüber Griechenland. Guten Morgen!

Richard Sulik: Guten Morgen.

Müller: Herr Sulik, machen Sie jetzt mit bei einem besseren Europa?

Sulik: Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das genau meinen. Das Europa wäre besser, wenn die Herren endlich die Verträge einhalten würden. Das wäre doch schon mal was. Aber das machen die eben nicht.

Müller: Wer bricht welche Verträge?

Sulik: Ja, zum Beispiel der Schengener Vertrag wird nicht eingehalten. Es hat doch die Europäische Kommission schon vor sechs Jahren gegen Griechenland ein Vertragsverletzungsverfahren gestartet und es ist eigentlich nichts passiert, und heute wundern sich alle, dass wir so viele Migranten in Europa haben.

Auch zum Beispiel Frau Merkel hat Verträge gebrochen, als sie so viele Migranten eingeladen hat. Da gibt es doch das Dubliner Abkommen und so weiter. Das hat sie alles nicht eingehalten. Ganz zu schweigen von Herrn Juncker, der Griechenland rettet, immer wieder, und so weiter. Da müssen sich dann die Herren nicht wundern, dass die Leute, dass die Menschen Europa eben nicht so toll finden.

Müller: Sie, Herr Sulik, werfen Juncker wie auch eben Angela Merkel eindeutig Rechtsbruch vor?

Sulik: Ja! Machen die ja auch. Wenn sie damit aufhören, …

Müller: Und Rechtsbruch führt zu Vertrauensbruch?

Sulik: Ja, sicherlich! Die Verträge machen doch Freunde und das eben machen die nicht. Und dann wundern sie sich, dass die Leute, dass die Menschen kein Vertrauen da haben. Ich habe zum Beispiel nicht das geringste Vertrauen in Herrn Juncker. Da heißt es doch, alle Länder müssen ein Drei-Prozent-Defizit einhalten, oder eben weniger, aber Frankreich muss eben doch nicht, weil Herr Juncker so entschieden hat. So geht es doch nicht!

Müller: Herr Sulik, Sie sagen, Rechtsbruch Angela Merkel, Flüchtlingspolitik, Schengener Abkommen, Grenzen. Die Bundeskanzlerin sagt, wir mussten humanitär handeln, ist zur Not wichtiger als das, was wir vorher beschlossen haben. Für Sie nachvollziehbar?

Sulik: Nein!

Müller: Bis zu einem gewissen Punkt?

Sulik: Nein, nein, nein! Die deutsche Verfassung sollte und muss für die Frau Merkel das Allerhöchste sein, und im Rahmen der deutschen Verfassung soll sie humanitär handeln. Aber sie kann doch nicht eine Million Menschen ins Land einladen. Da sieht sie, dass sie das übertrieben hat. Und anstatt, dass sie diesen Fehler zugibt, will sie von allen anderen Ländern, dass wir die Flüchtlinge ihr abnehmen. Aber sie hat vergessen, dass die Politiker in den anderen Ländern sich nicht der Frau Merkel verantworten, sondern den eigenen Wählern.

Müller: Den eigenen Wählern, sagen Sie. Es geht ja auch um die osteuropäischen, um die mitteleuropäischen Länder, die ganz stark kritisiert werden, nicht nur von Frau Merkel, sondern von den meisten Politikern in Deutschland. Dass diese Länder – dazu gehört auch Ihr Land, die Slowakei – nicht bereit sind mitzumachen, die Lasten zu teilen, sondern immer nur nehmen und dafür nichts geben. Warum bewegen Sie sich da nicht ein bisschen? Warum zeigen Sie nicht Solidarität mit Europa?

Sulik: Schauen Sie mal: Die Europäische Union ist eine Vertragsgemeinschaft und wenn sich alle an die Verträge halten, dann wird es funktionieren. Aber es kann doch nicht sein, dass die Frau Merkel oder Herr Schulz sagen, ich möchte heute, dass ihr so viele Flüchtlinge abnehmt. Das war nie vereinbart.

Und wenn Sie von immer nehmen sprechen, dann meinen Sie diese Geldumverteilung und diese Agrarsubventionen. Ich bin der Erste, der sagt, schafft es ab! Schafft das ab! Konkret diese Agrarsubventionen vernichten die Wirtschaft in der Slowakei. Schaffen Sie diese Dinge ab!

Müller: Die 3,3 Milliarden, die die Slowakei empfängt aus Brüssel, wollen Sie die auch abschaffen?

Sulik: Behalten Sie das Geld. Ja, behalten Sie es.

Müller: Brüssel soll es behalten, weil Sie haben Geld genug?

Sulik: Moment! Nein, wir haben nicht Geld genug. Aber lieber werde ich ohne dieses Geld sein, als jetzt Zig-Tausende von Migranten aufzunehmen, nur weil die Frau Merkel schön sein wollte. Das ist das Erste.

Das Zweite: Die Griechenland-Rettung, davon war nie die Rede. Das ist im Gegensatz der Verträge und da hat die Slowakei bereits zwei Milliarden für Griechenland bezahlt.

Müller: Lieber Herr Sulik, wir bekommen jetzt leider Anrufe und auch Hinweise aus der Regie, dass wir kaum zu verstehen sind, dass die Leitung – wir haben mehrfach probiert jetzt im Vorfeld, Sie anzuwählen; Sie haben uns auch angewählt – zu schlecht ist, dass wir Schwierigkeiten haben beziehungsweise die Hörer massive Schwierigkeiten haben, Sie zu verstehen.

Wir haben jetzt fünf Minuten miteinander geredet. Ich schlage jetzt vor, dass wir an diesem Punkt nicht aus inhaltlichen, sondern aus leitungsqualitativen Gründen Schluss machen und uns wieder hören…

Sulik: … Das tut mir sehr leid.

Müller: Uns tut das auch leid. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Wir hören uns wieder in den nächsten Tagen und Wochen hier im Deutschlandfunk. Alles Gute Ihnen! Danke schön!

Sulik: Schönen Tag!

 

Die Leitung war tatsächlich grottenschlecht. Aber eines, wenn es in Brüssel so weitergeht wie in Bratislava, ist indessen völlig klar:

 

„Plus ça change, plus c’est la même chose.“

Alphonse Karr (1808-1890)

 

1.7.16 Serapion an Mephisto

Wenn der Menschheit es nicht gelingt, handlungsfähige überstaatliche Machtzentren zu etablieren, wird sie ihr Wirken auf unserem Planeten kaum überleben. Gleichzeitig sage ich Dir aber auch, wenn die Wolltemalundkonntenicht-Gesellschaft, die sogenannte Europäische Union, weiter derart undurchsichtig, pardon, derart intransparent herumjunckert, wird sie es nicht überleben. Und das wäre, siehe oben, ein verheerender Rückschritt. Dennoch kann die rettende Lösung der Krise nur lauten: Ein paar Schritte zurück! Und dies im Gegensatz zu dem lächerlichen Echo der üblichen Verdächtigen nach dem Austrittsbegehren der Briten, im Gegensatz also zum sofortigen Widerhall der Nichtdenker, die als Antwort wie immer einen stärkeren Zusammenschluß der übrigen Mitglieder fordern.

Und was nicht alles spornstreichs reformiert und getan werden soll für eine stärkere Vergemeinschaftung…

Lustig finde ich dabei, neben Euch Deutschen, stets die Franzosen. Die tatsächlich die Stirn haben, hierbei fleißig unterstützt von der deutschen Sozialdemokratie, eine Vereinheitlichung nicht nur der Schulden, sondern gleich der europäischen Wirtschaftspolitik zu fordern. Die Franzosen! Die seit 2007 den Stabilitätspakt nicht einhalten und ihn bei jeder Gelegenheit durchlöchern und augenblicklich ein riesiges Geschrei erheben gegen Brüssel, sollten Stimmen von dort es wagen, in ihre nationalen Befugnisse einzugreifen. Die Franzosen! Die im Interesse nationaler Politik unbedingt in Brüssel als französischen Währungskommissar Pierre Moscivici durchsetzten. (Hauptargument war übrigens: es müsse unbedingt ein Franzose sein. Wieso eigentlich?) Währungskommissar Pierre Moscivici, welcher als französischer Finanzminister nicht ein einziges Mal die Vorgaben des Paktes einhielt und der seither in Brüssel, wie übrigens allgemein vorhergesehen, rundheraus die nationalstaatlichen Geschäfte Frankreichs betreibt. Indessen das französische Staatsdefizit sich der Schallmauer von 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes nähert. „Die Überwachungsaufgaben der Komission müssen unabhängig von politischen Interessen wahrgenommen werden“, hieß es laut SPIEGEL vom Heiligabend 2015 aus irgendeinem verdammten Grund in einem Papier der Bundesregierung.

Ich glaube, Europa hilft nicht das Aushandeln neuer Pakte, sondern endlich das Einhalten der bestehenden, ohne ständig zu wackeln und zu klüngeln und zu schieben und zu deuteln. Europa helfen Entscheidungen im Interesse der Sache statt des politischen Begehrens. Europa helfen ein paar Schritte zurück. Und zwar zurück zur funktionierenden Gemeinschaft. Gewiß, das war im wesentlichen erst einmal eine Wirtschaftsgemeinschaft. Ich finde nicht, daß ausgerechnet unsere heutigen Wunschdenker, pardon, Politiker Anlaß haben, über sie die Nase zu rümpfen. Ich rümpfe, du rümpfst, er rümpft, wir rümpfen. Die darüber hinaus geschaffenen Mechanismen taugen nichts. Es gibt keine gemeinsame Außenpolitik. Es gibt keine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Was es gibt, ist, obwohl eine Mehrheit hierfür nicht zustandekam, Glyphosat.

Und es gibt den Euro, der ja eine politische Währung ist, für die Millionen Menschen schon teuer bezahlten und bezahlen oder ins Elend gerieten.

„Schulz fordert Austrittsantrag Großbritanniens für Dienstag“, hieß es im Nachrichtenticker des Deutschlandfunks am Samstag vor einer Woche. Tja, jeder aufmerksame Beobachter ahnte natürlich, daß es sich hier um einen typischen Schulz handelt, um die spdämliche Realitätsferne eines deutschen Brüsselokraten.

Der angelsächsische Pragmatismus wird in Brüssel fehlen.

 

22.4.16 Serapion an Mephisto

Nun haben, schon wieder fast vergessen über der Chronik der laufenden Ereignisse, die Holländer ebenfalls falsch abgestimmt. Wie seinerzeit schon die Zyprioten, als sie gegen die Wiedervereinigung mit dem türkisch besetzten Inselteil stimmten. Obwohl doch die üblichen Verdächtigen der Brüsseler EU-Elite ausdrücklich für die Wiedervereinigung Zyperns gewesen waren! Denn nach Brüsseler Logik, wenn Zypern sich wiedervereinigt hätte, dann hätte man doch so tun können, als wäre das Problem der türkischen Aggression erledigt. Und wenn es da kein Problem mehr gegeben hätte … könnte … würde … Das wäre alles so schön gewesen. Dann wären die leidigen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei lange abgeschlossen, die Türkei wäre gestandenes EU-Mitglied, gehörte gewissermaßen schon zum EU-Adel, Erdogan könnte keine Kurden und Journalisten tyrannisieren, denn das dürfte der dann ja nicht nach unseren gemeinsamen Werten, und die Europäische Union grenzte an Georgien, Armenien, Iran, Irak, Syrien…

Diese dummen Zyprioten haben all diese Herrlichkeiten vermasselt.

Dabei war man sich absolut sicher gewesen. Die Abstimmung war nur noch Formsache, alle verfügbaren Gutmenschen der Union waren ja dafür. Wo doch die Vorteile, also quasi die Vernunft selbst, auf der Hand lagen. Die Vernunft war sozusagen mit den Händen zu greifen: Wer für Frieden und Wohlstand war, mußte für die Vereinigung sein! Wer für den Frieden ist, wählt die Kandidaten der Nationalen Front, hieß das immer bei Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik. Davon hätten die Zyprioten sich doch eine Scheibe abschneiden können.

Jetzt haben also auch die Holländer falsch abgestimmt.

Und gewissermaßen als Wiederholungstäter! 2005 lehnten sie beispielsweise die EU-Verfassung ab. Haben die nichts dazugelernt?

Was? Ich höre gerade, in Brüssel weiß man, woran es lag. Man gibt sich zerknirscht: Die Holländer hätten deshalb nichts lernen können, sind dumm geblieben, weil man habe vergessen, ihnen zu erklären. Man müsse den Holländern besser erklären. Und obwohl eigentlich nur ein Sechshunderttausendstel der Unionsbevölkerung das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ablehnte, müsse man auch den Nichtholländern besser erklären. Gewissermaßen prophylaktisch. Das heiße „Transparenz“. Also Durchsichtigkeit.

Dann fangt mal langsam an.

Was? Man halte sich nicht auf mit derartigen Kleinigkeiten und habe schon längst angefangen und lasse sich von den Unverständigen nicht abhalten und mache unbeirrt weiter und tue so, als wäre das Assoziierungsabkommen längst von allen ratifiziert?

Ach so.

„Feste, Jungs, immer weiter so, ihr bekommt schon alles kaputt!“

Freitag, 8. April 2016, DER STANDARD:

Die Bürger verstehen nicht, was ihre politischen Anführer in den Regierungen für sie bestimmen. Es wird kaum erklärt. Dass Rechtspopulisten ebenso wie radikale Linke diese Stimmung nützen, um die bestehende EU zu Fall zu bringen, ist wenig überraschend. Man kann sich darüber aufregen. Es hilft nur nichts. Woran Europa am meisten krankt, ist die Trägheit derer, die die Vorteile der Integration genießen, aber bei Wahlen und Referenden lieber zu Hause bleiben.

Bei allem Respekt vor dem STANDARD wage ich es zu bezweifeln, ob es ausgerechnet das ist, woran Europa am meisten krankt. Und ob wenigstens die Zuhausegebliebenen richtig abgestimmt hätten.

Freitag, 8. April 2016, LA REPUBLICA:

Die Populisten jubeln, die Ultrarechte freut sich, die Europagegner erklären den Sieg. Putin leckt sich die Lippen. Und Europa zittert. Irgendetwas fühlt sich da gründlich falsch an.

Freitag, 8. April 2016, NEPSZABADSAG:

Mit ihrem Votum verhalfen die niederländischen Wähler dem russischen Präsidenten Putin zu einem unverhofften Geschenk. Denn dieser arbeitet unermüdlich an der Spaltung Europas und an der Isolierung der Ukraine.

Freitag, 8. April 2016, WASHINGTON POST:

Das Referendum ist ein Beispiel dafür, wie die russische Regierung Abstimmungen in Westeuropa beeinflusst. Bereits zuvor gab es den Verdacht, dass Moskau extremistische politische Gruppierungen in der EU unterstützt. So lässt Kanzlerin Merkel ihre Sicherheitsexperten untersuchen, welchen Einfluss Russland auf deutsche Onlinemedien hat. In Frankreich hat der rechtsgerichtete Front National Kredite von einer russischen Bank erhalten. In den Niederlanden bediente sich die Nein-Kampagne der Rechts- und Linksextremen direkt bei russischen Medien wie dem Fernsehsender Russia Today und der Propagandawebseite Sputnik.

Freitag, 8. April 2016, DENNIK N:

Die Menschen, die in den Niederlanden gegen das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine stimmten, lassen sich nicht alle als Putin-Anhänger bezeichnen. Für viele war das Abkommen nur ein Ersatzproblem, über das sie ihre Unzufriedenheit mit den europäischen und niederländischen Verhältnissen ausdrückten. Ihre Argumente kopierten aber gerade das, was Moskaus Propaganda behauptet. Und so wie Politik und Geheimdienste Russlands funktionieren, war das wohl kein Zufall.

„Für viele war das Abkommen nur ein Ersatzproblem…“ Da ist wohl eher was dran. Zumal ich glaube, eine Wahrheit wird nicht deshalb unwahr, weil auch Idioten oder Schufte oder Auftraggeber von Auftragsmorden sie im Munde führen.

Der Schuß vor den Bug der sogenannten Wertegemeinschaft, vielleicht die letzte Warnung, ist jetzt zwei Wochen her. Die geistfreien Erklärungen der Glatten aus Brüssel, es habe an mangelhafter Erklärung gelegen, kamen darüber nicht hinaus und sind verhallt. Statt einer ernsthaften Analyse wurstelt man weiter mit hehren Absichten und Abkommen, um deren Umsetzung sich dann keiner schert. Alles gilt nur bei schönem Wetter. Dublin-Vereinbarung, Flüchtlingsverteilung, Stabilitätspakt…

Apropos „Eurorettung“. Wie oft ich in der Zwischenzeit, tatsächlich ernstgemeint, von diversen gutsituierten Verantwortlichen der organisierten Verantwortungslosigkeit vernahm, die Eurokrise wäre erledigt, habe ich nicht gezählt. Doch nun, Karussell, Karussell, zurück zur dummen, überhaupt nicht vorhersehbaren Realität (=> Karussell):

Montag, 4. April 2016, Deutschlandfunk:

Die Bundesregierung ist weiterhin gegen einen Schuldenerlass für Griechenland.

Dies stehe im Augenblick nicht zur Debatte, sagte ein Sprecher von Bundesfinanzminister Schäuble in Berlin. Athens Schuldentilgung sei ohnehin bis 2020 und länger ausgesetzt. Entscheidend sei, dass das Land einen nachhaltigen Haushalt aufstelle. Ziel bleibe eine Rückkehr zum Kapitalmarkt. Athen selbst lehnte zusätzliche Spar- oder Reformmaßnahmen ab. Vielmehr müssten die Gespräche sofort abgeschlossen werden, teilte das Büro von Ministerpräsident Tsipras mit.
Derzeit überprüfen die internationalen Geldgeber die Voraussetzungen für weitere Mittel aus dem Hilfspaket von insgesamt 86 Milliarden Euro. Von einem positiven Befund hängt ab, inwieweit daraus weitere Gelder nach Athen fließen.

Dienstag, 5. April 2016, Deutschlandfunk:

Die griechische Regierung geht davon aus, dass sie weit weniger Privatisierungserlöse erzielen wird als mit den internationalen Geldgebern vereinbart.

Wirtschaftsminister Stathakis sagte auf einer Konferenz in Berlin, die ursprünglich angepeilten 50 Milliarden Euro seien realitätsfern. Am Ende würden es vielleicht sechs bis sieben Milliarden Euro werden. Die Privatisierungen waren im vergangenen Jahr eine der Bedingungen für weitere Kredite. Derzeit überprüfen die internationalen Geldgeber, ob weitere Tranchen an Athen überwiesen werden können.

Mittwoch, 6. April 2016, Deutschlandfunk:

Eine Sprecherin von Finanzminister Schäuble sagte in Berlin, die Summe von 50 Milliarden Euro sei in der Euro-Zone unter Einschluss Athens vereinbart worden. Dies gelte als Gegenleistung für weitere Finanzhilfen unverändert fort.
Griechenlands Wirtschaftsminister Stathakis hatte gestern erklärt, ein Erlös von 50 Milliarden Euro durch Verkauf von Staatsbesitz sei realitätsfern. Am Ende würden es „vielleicht sechs bis sieben Milliarden Euro werden“.

Montag, 11. April 2016, Deutschlandfunk:

Die Regierungen von Griechenland und Portugal dringen auf ein Ende der strikten Sparpolitik in der EU.

Der griechische Ministerpräsident Tsipras und sein portugiesischer Kollege Costa unterzeichneten in Athen eine gemeinsame Erklärung. Darin fordern beide Politiker ein Europa mit sozialer Gerechtigkeit. Die Austeritätspolitik in der EU habe die Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen, hohe Arbeitslosenraten verursacht und die Gesellschaften gespalten.
Die Gespräche Griechenlands mit den internationalen Gläubigern gestalten sich weiterhin zäh. Dem Vernehmen nach gibt es erhebliche Differenzen über Maßnahmen, die zu Einsparungen in Höhe von 5,4 Milliarden Euro führen sollen. Dabei geht es um Rentenkürzungen, Erhöhungen von Steuern sowie die sogenannten faulen Kredite.

Montag, 11. April 2016, Deutschlandfunk:

Die Gespräche Griechenlands mit den internationalen Gläubigern gestalten sich weiter zäh.

Finanzminister Tsakalotos verließ den Verhandlungsort erst am Morgen, ohne etwas zum Stand der Dinge mitzuteilen. Wie das staatliche Fernsehen berichtete, sollen die Beratungen am Nachmittag fortgesetzt werden. Dem Vernehmen nach gibt es erhebliche Differenzen über Maßnahmen, die zu Einsparungen in Höhe von 5,4 Milliarden Euro führen sollen. Dabei geht es um Rentenkürzungen, Erhöhungen von Steuern sowie die sogenannten faulen Kredite. Letztere sollen bereits ein Volumen von über 100 Milliarden Euro erreicht haben.
Im Sommer vergangenen Jahres hatten die Institutionen ein drittes Hilfspaket für Griechenland von bis zu 86 Milliarden Euro geschnürt. Die Auszahlung weiterer Tranchen ist an eine Einigung mit den Gläubigern geknüpft.

Dienstag, 12. April 2016, Deutschlandfunk:

Die Verhandlungen zwischen der Regierung in Athen und den Gläubigern sind bislang ohne konkretes Ergebnis geblieben.

Nach Angaben des griechischen Finanzministers Tsakalotos sollen die Gespräche am Montag weitergehen. Differenzen gebe es vor allem darüber, welche Maßnahmen zu Einsparungen in Höhe von 5,4 Milliarden Euro führen sollten. Dabei geht es um Rentenkürzungen, Erhöhungen von Steuern sowie die sogenannten faulen Kredite. Im Sommer 2015 hatten die internationalen Gläubiger ein drittes Hilfspaket für Griechenland im Umfang von bis zu 86 Milliarden Euro geschnürt. Ohne eine Einigung der Gläubiger mit der Regierung in Athen kann jedoch kein Geld in die Staatskasse fließen.

Dienstag, 19. April 2016, Deutschlandfunk:

Der Europäische Rechnungshof hat die Defizitkontrollen in der EU als nicht ausreichend und widersprüchlich kritisiert.

Die Kommission wende die bestehenden Regeln nicht konsequent an, teilte der Rechnungshof mit. Zudem sei das Verfahren intransparent.
Die Kontrollen sind entscheidend für die Einhaltung der Stabilitätsregeln im gemeinsamen Währungsraum und der EU insgesamt. Die sogenannten Maastricht-Kriterien schreiben den EU-Staaten vor, dass die staatliche Neuverschuldung drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten darf. Heute kündigte Spanien an, das vereinbarte Ziel erneut zu verfehlen. Die EU-Kommission wies die Kritik an ihren Kontrollen zurück.

Donnerstag, 21. April 2016, Deutschlandfunk:

Das hoch verschuldete Griechenland bekommt die Sanierung der Staatsfinanzen nicht in den Griff.

Wie die europäische Statistikbehörde – Eurostat – in Luxemburg mitteilte, stieg die Neuverschuldung im vergangenen Jahr auf 7,2 Prozent der Wirtschaftsleistung. Im Jahr zuvor hatte sie bei 3,5 Prozent gelegen. – Das dritte Hilfspaket, das im vergangenen Sommer beschlossen wurde, hat ein Volumen von rund 84 Milliarden Euro. Erste Milliardentranchen wurden bereits ausgezahlt.
Auch Spanien und Portugal haben die Ziele zum Abbau ihrer Haushaltsdefizite deutlich verfehlt. Mit den Daten befassen sich die Euro-Finanzminister morgen bei einem Treffen in Amsterdam.

Und zur Erinnerung:

Freitag, 27. Februar 2015, Deutschlandfunk (=> Der listenreiche Odysseus):

Die Reformpläne der neuen griechischen Regierung sind nach den Worten von Finanzminister Varoufakis absichtlich unbestimmt formuliert. Sonst würden sie nicht die notwendige Zustimmung der Parlamente der Euroländer erhalten, sagte er heute früh im griechischen Fernsehen. Dies sei mit den übrigen Euro-Ländern so abgestimmt. Varoufakis bezeichnete dieses Vorgehen als – so wörtlich – produktive Undeutlichkeit.

„Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“ (Aus Artikel 125 des Euro-Stabilitätspakts)

Ob bei alldem wenigstens in Großbritannien die Wähler richtig abstimmen werden?

 

Bellarmin an Mephisto

Wir leben in äußerst lehrreicher Zeit!

Wie immer…

Als Du gerade den für die deutsche Debattenkultur lächerlichen Anspruch „Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft“ erwähntest, fiel mir aus irgend einem Grund sofort die sogenannte Europäische Union ein, und wie sie gerade an allen Ecken und Enden so hart aus den wirklichkeitsfremden Blütenträumen ihrer wohlbestallten Funktionäre gerissen wird. Wobei ich die Ecken und Enden natürlich nicht allein auf ihre geographischen reduziert wissen möchte. Dennoch will ich heute nicht anfangen zu reden über Maastricht, den Euro-Stabilitätspakt, imaginäre Verschuldungsobergrenzen oder über das unsägliche Griechenland oder das Euro-Unding allgemein oder über den speziell galoppierenden Wahnsinn, die Türkei als Beitrittskandidat zu hofieren oder Serbien, Montenegro, das Kosovo, Albanien und und und. Oder über das Dublin-Verfahren oder die gemeinsame europäische Außenpolitik. Schwachsinn und Wirklichkeit. Das Wetter ist heute zu schön dafür, und ich komme bei Regen vielleicht darauf zurück mit einer mehr als oberflächlichen Analyse. Angesichts der Völkerwanderung aber weise ich Dich studienempfehlend nur schnell hin auf den Umstand des typischen nicht Wahrhabenwollens unserer Politiker, wobei man zwar entrüstet mit dem gemeinhin für den Sitz eines Hirns gehaltenen Organ schüttelt über die sich der Aufnahme von Flüchtlingen selbst in quantenhafter Quotenform verweigernden Staaten, aber über ein „die müssen doch!“ und „aber unsere Werte!“ nicht weiter hinauskommt als mit „So geht das doch nicht!“. Was man tatsächlich für Strategie hält.

Anstatt einmal zielführende Fragen zu stellen oder gar zu diskutieren.

Die oberste jener vermiedenen Fragen aller Fragen, die Zauberfrage, beginnt meist mit einem schlichten „Warum?“.

Warum mögen denn fast alle Staaten der Union mit den angeblich gemeinsamen Werten Flüchtlinge noch nicht eimal in homöopathischen Dosierungen ins Land lassen?

Nun, und bei der Antwort sehen wir auch gleich den Grund für das Augenverschließen vor der Gretchenfrage unserer Tage:

Weil die jeweiligen Regierungen Angst haben.

Wovor haben sie denn Angst, die jeweiligen Regierungen?

Sie haben Angst vor ihrem Volk!

Ach? Und warum haben sie Angst vor ihrem Volk?

Weil sie wissen, wie ihr Volk denkt.

Wie denkt denn ihr Volk?

Nun, beispielsweise in der tschechischen Republik denkt das Volk zu etwa 92 Prozent, es will keine Flüchtlinge bei sich aufnehmen im Land. Und in Polen denkt die Ministerpräsidentin Ewa Kopacz, daß ihr Volk ähnlich denkt, und sie denkt simultan, daß am 25. Oktober Wahlen sind in ihrem Volk…

Ach?

Ja, all diese Völker denken populistisch!

Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft… Problemlösungen beginnen damit, die Augen nicht zu verschließen vor der Wirklichkeit, oder besser, da wir seit Sokrates wohl zu unterscheiden wissen zwischen Wirklichkeit und Realität, daß wir versuchen sollten, unsere Wirklichkeiten der Realität weitmöglichst anzupassen.

Das wäre zumindest ein erster Schritt.

Es wird wohl zu keiner Quotenregelung kommen.

Ferner ist es interessant zu sehen, wohin die Flüchtenden nicht fliehen. Es ist nicht banal festzuhalten: Sie fliehen nicht zu ihren Glaubensbrüdern der reinen Lehre, zum IS. Sie fliehen begreiflicherweise vor ihm. Aber sie fliehen noch nicht einmal zu ihren Glaubensbrüdern des sogenannten friedlichen Islam in die Vereingten Arabischen Emirate oder nach Saudi Arabien. Wofür es auch spezielle Gründe gibt, unter anderen.

Nein, sie fliehen zu den Ungläubigen!

Und dort auch nicht ins riesige ruhmredige Rußland, sondern ins zivilisierte Europa!

Was eigentlich ein Grund wäre zum Stolzsein!

En passant bemerkt, ganz ganz nebenbei und unter uns, denn unsere öffentlich-rechtlichen Medien berichten nicht gern darüber aus irgend welchen Gründen: Im unarmen Saudi-Arabien soll man jetzt, nach äußerer Kritik, darauf gekommen sein, einen zusätzlichen Beitrag zu leisten für die Flüchtenden, pardon, für die Glaubensbrüder. Für die Glaubensbrüder, die zu den Ungläubigen fliehen. Und zwar soll man wohlwollend erwägen, in die Tasche zu greifen und den Bau von 300 Moscheen, wenn ich es richtig verstand, in Deutschland zu finanzieren. Also wir sind doch nicht ganz allein gelassen.

Welche großzügige Hilfe bei der Bewältigung der aktuellen Probleme allerdings nicht weiter erörtert wird in unseren Medien.

Wir könnten doch im herzlichen Austausch auch einmal 300 Kirchen bauen in Saudi-Arabien! Was, da gibt es keine 300 Christen? Oder im Irak oder wenigstens in dem bei Rot-Grün so beliebten EU-Beitrittskandidaten Türkei….

Ich stelle mir manchmal vor in meinem naiven Sinn, wie schön es doch wäre, wenn die derzeit seltsamerweise schweigenden Beitrittsapologeten über ihre als fremdenfeindlich verunglimpften Gegner gesiegt hätten, und die Türkei wäre nun EU-Mitglied. Dann könnte man ihren Chef doch endlich bessern und das Land würde genesen am europäischen Wesen. Und der derzeitige Chef des gesetzlich geschützten Türkentums käme nicht nur zu türkischen Wahlkämpfen nach Deutschland, sondern säße in Brüssel mit am Tisch, käme angeflogen mit seinem Problemlösungstalent  zu den Nachtsitzungen, wenn die europäischen Krisen bewältigt werden oder wenigstens die nächste Eurorettung ansteht. Komisch, warum die Befürworter sich nicht melden und das ins Spiel bringen.

Noch was ganz nebenbei: Das neue unüberlegte oder überlegte deutsche Hüllwort „Migrant“, das unsere Politiker und unbekümmerten Journalisten jetzt derart hartnäckig wiederkäuen in ihren Mündern, statt deutsch und verständlich zu reden, das Wort existiert gar nicht in meinen unwenigen Duden-Ausgaben. Aber das Wort „Migration“ kommt übrigens vom lateinischen migratio = (Aus)wanderung. Was dem Wort „Migrant“ eine etwas andere Bedeutung verleiht als „Flüchtling“.

Um zurückzukehren auf die Routen der Migranten, es handelt sich also um die Süd-Nord-Richtung. Und angesichts dieser Zugorientierung wollte ich nur noch einwerfen, ich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß es sich bei den gegenwärtigen (Aus)wanderungen nicht um eine Völkerwanderung handelt. Sondern um den Beginn einer Völkerwanderung. Ich stelle mir vor, wir könnten vielleicht noch während unserer Generation oder in der folgenden in die Lage kommen, selbst vor den verschlossenen Grenzen Dänemarks zu stehen auf der Durchreise nach Schweden. Doch vielleicht wären die Dänen dann schon selber migriert und siedelten derweil auf Grönland. Und im Staate Dänemarks verwehrten uns die Ungarn die Weiterfahrt. Weil in Ungarn die Türken säßen. Und in der Türkei säßen die Saudis.

Durch die Erderwärmung ist das Eis in der Arktis inzwischen soweit weggeschmolzen, daß man dort endlich die Stoffe fördern kann, welche die Erderwärmung soweit beschleunigen, daß man noch leichter an Stoffe herankommt, die die Erderwärmung beschleunigen. Das wird ein riesiges Geschäft!

Es wird heiß werden auf unserem Planeten.

Und noch grausamer.

Serapion an Mephisto

In diesen Tagen erlaube mir, Dich zu erinnern an meines weidwunden Freundes Adelberts „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. Die ich ihrer immensen Popularität zum Trotze dennoch für unterschätzt ansehe und, vor allem, deren enorm praxistauglichen Lebensbezug, im Großen wie im Kleinen, ich für noch immer unerkannt halte während der letzten zweihundertundzwei Ellipsen unseres Planeten. Man hat vor zwei Jahren der Novelle runden Geburtstag ungeehrt verstreichen lassen, dabei war und ist die Story derart reich an Bezügen und Möglichkeiten ihrer Interpretation und glich ja auch bereits einem wahrhaften Tummelplatz scharfsinniger Geister mit durchaus dankenswerten Einsichten und wirklichen Erkenntnissen. Vor allem grübelte man natürlich, was wohl der mit Fortunati Glücksseckel ausgetauschte Schatten bedeuten möge. Du entsinnst Dich sicher, der unreiche Peter Schlemihl gerät in eine ihm unbekannte Vergnügungsgesellschaft Betuchter und handelt dort bei einem ihm ebenfalls unbekannten Mann im grauen Rock, dem gewissermaßen biedermeierlichen Mephisto, seinen für wertlos erachteten Schatten ein gegen jenen mäßig großen, festgenähten Beutel von starkem Korduanleder an zwei tüchtigen ledernen Schnüren, der ihm hinfort unbeschränkten Reichtum beschert. Schnell muß der arme Schlemihl aber feststellen, daß alle Leute, sobald sie das Fehlen seines doch eigentlich belanglosen Schlagschattens bemerken, ihn beschimpfen, verspotten, sich entsetzt zurückziehen, ihn meiden, so daß er nun ausgestoßen ist aus jeder menschlichen Gesellschaft. Was selbstverständlich auch seine zuspitzenden Auswirkungen findet beim Finden einer Braut. Wobei mir einfällt am Rande, daß im Playboy-Ersatz der Deutschen Demokratischen Republik, der Zeitschrift „Magazin“ mit ihrem monatlichen antiseptischen Aktfoto – welches also nichts zu tun hatte mit westlicher Dekadenz und mit Schund- und Schmutzliteratur – daß bisweilen dort in den Heiratsannoncen ein meist männlicher Inserent sein Interesse kundgab an einem weiblichen Wesen „mit ML-Weltanschauung“. ML stand für „marxistisch-leninistisch“ und wurde mitunter gleich in den Heiratsannoncen abgefragt. Auch Geheimpolizisten spüren bisweilen einen Drang, sich zu vermehren, sogar auf biologischem Wege. Irgendwie menschlich. Doch da der „Lebensborn“ gegen Kriegsende in Mißkredit geraten war und das geheimpolizeiliche Ministerium unter dem Tarnnamen „Staatssicherheit“ Mischehen mit einer womöglich katholischen Braut oder auch nur einer mit „Westkontakten“ nicht gestattete, jawoll, das hatte gemeldet und beantragt zu werden, blieb nur, die atheistische Rechtgläubigkeit in den lückenlos überwachten Anzeigen von vornherein abzuklären.

So geht das, wenn man seinen Schatten wegtauscht für irgendeinen festgenähten Beutel.

Da gibt es plötzlich auch kein Zurück mehr in die menschliche Gesellschaft und noch nicht einmal ein Entweder-Oder.

Die bei all den Schattenhypothesen in den Hintergrund gedrängte Szene, die ich meine, steht im achten Abschnitt der chamissoschen Novelle und ist doch, soweit ich sehen kann, in der deutschen Literatur von Weltgeltung einzig. Schlemihl kann Mina nicht heiraten und ist unter Menschen auf ewig verfemt und am Ende. Er will nur seinen Schatten zurück, doch der Herr im grauen Rock spielt mit ihm, verfolgt und verhöhnt ihn tagelang in einem Gebirg, halb geduldet, denn Schlemihl kämpft um seinen Schatten. Er bietet den Rücktausch des Beutels für seinen Schatten und versucht sogar, selbigen dem Herrn rechtswidrig zu entwenden – vergeblich. Das teuflische Angebot: Schlemihl erhalte den Schatten zurück und könne sogar den Beutel behalten – allerdings nur gegen die Überlassung seiner Seele.

Wir saßen einst vor einer Höhle, welche die Fremden, die das Gebirg bereisen, zu besuchen pflegen. Man hört dort das Gebrause unterirdischer Ströme aus ungemessener Tiefe heraufschallen, und kein Grund scheint den Stein, den man hineinwirft, in seinem hallenden Fall aufzuhalten. Er malte mir, wie er öfters tat, mit verschwenderischer Einbildungskraft und im schimmernden Reize der glänzendsten Farben, sorgfältig ausgeführte Bilder von dem, was ich in der Welt, kraft meines Säckels, ausführen würde, wenn ich erst meinen Schatten wieder in meiner Gewalt hätte. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, hielt ich mein Gesicht in meinen Händen verborgen und hörte dem Falschen zu, das Herz zwiefach geteilt zwischen der Verführung und dem strengen Willen in mir. Ich konnte bei solchem innerlichen Zwiespalt länger nicht ausdauern, und begann den entscheidenden Kampf:

„Sie scheinen, mein Herr, zu vergessen, daß ich Ihnen zwar erlaubt habe, unter gewissen Bedingungen in meiner Begleitung zu bleiben, daß ich mir aber meine völlige Freiheit vorbehalten habe.“ – „Wenn Sie befehlen, so pack ich ein.“ Die Drohung war ihm geläufig. Ich schwieg; er setzte sich gleich daran, meinen Schatten wieder zusammenzurollen. Ich erblaßte, aber ich ließ es stumm geschehen. Es erfolgte ein langes Stillschweigen. Er nahm zuerst das Wort:

„Sie können mich nicht leiden, mein Herr, Sie hassen mich, ich weiß es; doch warum hassen Sie mich? Ist es etwa, weil Sie mich auf öffentlicher Straße angefallen, und mir mein Vogelnest mit Gewalt zu rauben gemeint? oder ist es darum, daß Sie mein Gut, den Schatten, den Sie Ihrer bloßen Ehrlichkeit anvertraut glaubten, mir diebischer Weise zu entwenden gesucht haben? Ich meinerseits hasse Sie darum nicht; ich finde ganz natürlich, daß Sie alle Ihre Vorteile, List und Gewalt geltend zu machen suchen; daß Sie übrigens die allerstrengsten Grundsätze haben und wie die Ehrlichkeit selbst denken, ist eine Liebhaberei, wogegen ich auch nichts habe. – Ich denke in der Tat nicht so streng als Sie; ich handle bloß, wie Sie denken. Oder hab ich Ihnen etwa irgend wann den Daumen auf die Gurgel gedrückt, um Ihre werteste Seele, zu der ich einmal Lust habe, an mich zu bringen? Hab ich von wegen meines ausgetauschten Säckels einen Diener auf Sie losgelassen? hab ich Ihnen damit durchzugehen versucht?“ Ich hatte dagegen nichts zu erwidern; er fuhr fort: „Schon recht, mein Herr, schon recht! Sie können mich nicht leiden; auch das begreife ich wohl, und verarge es Ihnen weiter nicht. Wir müssen scheiden, das ist klar, und auch Sie fangen an, mir sehr langweilig vorzukommen. Um sich also meiner ferneren beschämenden Gegenwart völlig zu entziehen, rate ich es Ihnen noch einmal: Kaufen Sie mir das Ding ab.“ – Ich hielt ihm den Säckel hin: „Um den Preis.“ – „Nein!“ – Ich seufzte schwer auf und nahm wieder das Wort: „Auch also. Ich dringe darauf, mein Herr, laßt uns scheiden, vertreten Sie mir länger nicht den Weg auf einer Welt, die hoffentlich geräumig genug ist für uns beide.“ Er lächelte und erwiderte: „Ich gehe, mein Herr, zuvor aber will ich Sie unterrichten, wie Sie mir klingeln können, wenn Sie je Verlangen nach Ihrem untertänigsten Knecht tragen sollten: Sie brauchen nur Ihren Säckel zu schütteln, daß die ewigen Goldstücke darinnen rasseln, der Ton zieht mich augenblicklich an. Ein jeder denkt auf seinen Vorteil in dieser Welt; Sie sehen, daß ich auf Ihren zugleich bedacht bin, denn ich eröffne Ihnen offenbar eine neue Kraft. – O dieser Säckel! – Und hätten gleich die Motten Ihren Schatten schon aufgefressen, der würde noch ein starkes Band zwischen uns sein. Genug, Sie haben mich an meinem Gold, befehlen Sie auch in der Ferne über Ihren Knecht, Sie wissen, daß ich mich meinen Freunden dienstfertig genug erweisen kann, und daß die Reichen besonders gut mit mir stehen; Sie haben es selbst gesehen. – Nur Ihren Schatten, mein Herr – das lassen Sie sich gesagt sein – nie wieder, als unter einer einzigen Bedingung.“

Da wirft der Peter Schlemihl den Glückssack unwiederzurückholbar in den Abgrund.

Und verzichtet trotz aller Folgen auf Schatten, Geld und jegliche Paktmöglichkeit mit dem Teufel.

Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter von den Grünen wurden mir dieser Tage auffällig mit ihrer teuren Forderung, Kanzlerin Merkel habe nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Griechenland nun unverzüglich einen europäischen Sondergipfel einzuberufen und eine politische Lösung des Schuldenstreits herbeizuführen. Denn man könne solche Frage ja nicht Finanzministern mit ihren „Rechenschiebern“ überlassen. Nun will ich den billig Fordernden gern zugestehen, daß sie wohl wissen, daß Rechenschieber bei Bilanzierungen grundsätzlich fehl am Platze sind, ihr Bild also von vornherein schief ist, und daß sie im wirklichen Leben zwischen Addition und Multiplikation zu unterscheiden wissen. Allein schon wegen jener Forderung wage ich es jedoch, ihnen die Kompetenz, auch als bloße Politiker, in diesem Punkt abzusprechen.

Die Frage nach der Kompetenz ist übrigens immer wieder eine gute Frage bei Vielrednern.

Was wäre Griechenland und dem Rest Europas nicht alles erspart geblieben, wenn über die Euromitgliedschaft dieses Landes eben nicht politisch entschieden worden wäre!

Oder wenn man sich daran hielte:

„Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“ ( Aus Artikel 125 des Euro-Stabilitätspakts)