A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Schlagwort-Archiv: Gryphius

Zivilisation

 

23. Februar 2018: Serapion an Mephisto

Glücklicherweise gibt es sogar noch einige notorische Optimisten auf unserem geschundenen Planeten, die man trotz jener Abartigkeit nicht anders als zur Spezies der intelligenten Lebewesen rechnen kann. Mit einem solchen Exemplar findest Du im SPIEGEL voriger Woche ein sehr schönes Gespräch aus Anlaß seiner Teilnahme an der dieses Jahr leider eher unglücklichen Sicherheitskonferenz in München, auf welcher ihr Vorsitzender Wolfgang Ischinger angesichts der Bedrohungslage aus wie stets scharfsinnig analysierten Gründen unsere Welt beschrieben hatte als vor dem Abgrund stehend. Bei dem Optimisten handelt es sich um den sympathischen Harvard-Psychologen Steven Pinker.

Es gibt viel zu wenig solcher Menschen.

Sehr gut: Der Mann fühlt sich in gewissem Sinn der Aufklärung verpflichtet, und er hat ein dickes Buch geschrieben. Diesen Herbst soll es auch auf dem deutschsprachigen Markt erscheinen, und zwar unter dem Titel „Aufklärung jetzt“.

Im Original heißt es „Enlightenment Now – The Case for Reason, Science, Humanism and Progress“.

Anhand statistischer Daten bringt und beweist uns Pinker hier lauter frohe Botschaften, auch als Gegengewicht hinsichtlich einer unaufhörlichen Bevorzugung negativer Meldungen in der weltweiten Nachrichtenberichterstattung.

Der SPIEGEL zitiert aus Pinkers Darstellungen:

Der Anteil der Menschen, die pro Jahr in Kriegen umkommen, liegt heute bei etwa einem Viertel gegenüber den Achtzigerjahren, einem Sechstel gegenüber den frühen Siebzigerjahren, einem Sechzehntel gegenüber den frühen Fünfzigerjahren.“

2016 war bekanntlich ein schreckliches Jahr des Terrorismus in Westeuropa mit 238 Toten. 30 Jahre zuvor aber war es noch viel schlimmer, es gab 440 Todesopfer.“

Die Welt ist heute etwa hundertmal so reich wie vor zwei Jahrhunderten, und der Reichtum wird gleichmäßiger auf Länder und Menschen verteilt.“

Vor 100 Jahren setzten vermögende Länder etwa ein Prozent ihres Reichtums zur Unterstützung von Armen, Kindern und Alten ein, heute sind es rund 25 Prozent.“

Anfang der Neunzigerjahre gab es nur 52 Demokratien auf der Welt, heute gibt es 103 davon.“

Pinkers Intention ist natürlich lobenswert. Nichtsdestotrotz erlaube ich mir, jener Betrachtung menschlichen Fortschritts drei Fakten hinzuzufügen:

1955, exakt heute vor 63 Jahren, schlossen die Türkei, der Irak und der Iran den Bagdad-Pakt mit dem Ziel gemeinsamer Militäroperationen gegen jede kurdische Befreiungsbewegung…

Die russische Seite, die wir ja kennen über die Jahrhunderte als Spezialistin der Nachrichtenberichterstattung, verhinderte gestern erneut im UN-Sicherheitsrat das Zustandekommen eines Waffenstillstandes zur dringendsten Versorgung der Zivilbevölkerung in Ost-Ghouta mit der Begründung, die Welt leide im Hinblick auf die Berichterstattung über das angebliche Leiden der Zivilbevölkerung Syriens an einer Massenpsychose…

Und, gewissermaßen als Krone des menschlichen Fortschritts der letzten 24 Stunden: Der Präsident der Vereinigten Staaten will, finanziell gefördert, Lehrer an den Schulen der Vereinigten Staaten bewaffnen, damit sie schießende Schüler erschießen…

Es ist zwar schon eine Weile her, doch vielleicht erinnerst Du Dich, im April 2015 schickte ich Dir die beiden wichtigsten Gedichte deutscher Zunge (=> Apropos Lyrik). Angesichts all des Fortschritts heute will ich Dir hinzufügen von Andreas Gryphius sein fünfundvierzigstes Sonett:

 

Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.

Ich weine Tag und Nacht; ich sitz‘ in tausend Schmerzen;

Und tausend fürcht‘ ich noch; die Kraft in meinem Herzen

Verschwindt, der Geist verschmacht‘, die Hände sinken mir.

 

Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier

Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.

Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märtzen.

Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?

 

Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?

Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben;

Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

 

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;

Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten

Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

 

Andreas Gryphius (1616 – 1664)

 

Serapion an Mephisto

Apropos Lyrik. Sicher habe ich zehntausende Gedichte gelesen. Darunter einige sehr gute. Ich setze Dir unverfroren zwei davon hierher und sage: Das sind die beiden wichtigsten Gedichte deutscher Zunge. Dabei handelt es sich, wie sollte es anders sein, um zwei Blues. Um zwei deutsche Blues, in Sonettform also. Das mag sich, in mehrfacher Hinsicht gleich, anachronistisch und unsachlich und dreist subjektivistisch anhören. Aber selbst wenn neunundneunzig gesottene Germanisten aufschrien und alles für lächerlich und mich für verrückt erklärten, ich toleriere gern ihren mangelnden Durchblick und bleibe dabei. Obwohl ich gewöhnlich kein Rigorist und heute sogar frühlingshaft milde gestimmt bin. Forsythien betupfen Welt und Umwelt, Amseln trällern, Sperlinge tschilpen, Täubchen turteln…

Entstanden sind beide Sonette im selben Jahrzehnt, und, so ein Zufall aber auch, in Zeiten wahrlich entsetzlichster Pein, in monströsester Ungestalt von Krieg, Pest und Tod. Wenn Baudelaire behauptet, Not sei die Mutter der Intelligenz, möchte man infolge der zeitlichen Kristallisationsnähe gleich zweier derart bedeutsamer Gedichte den Spruch auch abwandeln in: Not ist die Mutter der tiefsten Einsicht. Denn die kommt wahrlich nicht aus sattem Gemüt. („Schlaff ist, was in trägem Behagen gemästet worden ist, und nicht bei Anstrengung allein, sondern bei Bewegung und einfach durch das Gewicht seiner selbst versagt es.“ – Seneca)

Bei allem Glanze des üppigen Elends unserer Hemisphäre sei Einsicht uns besonders wichtig.

Beide Gedichte korrespondieren, und nur aus diesem Grund definiere ich sie umgekehrt zu den Zeitpunkten ihrer Entstehung als erstes und zweites.

Das erste Gedicht der zwei wichtigsten Gedichte, die ich Dir also ans Herz lege, ist später vom Autor noch einmal überarbeitet worden. Ich will Dir hier dennoch die ursprüngliche Fassung geben. Nun denn… Andreas Gryphius (1616 – 1664):

 

 

Vanitas; Vanitatum; et Omnia Vanitas

Es ist alles ganz eytel. Eccl. 1. V. 2.

 

Ich seh‘ wohin ich seh / nur Eitelkeit auff Erden /

Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein /

Wo jtzt die Städte stehn so herrlich / hoch vnd fein /

Da wird in kurzem gehn ein Hirt mit seinen Herden:

Was jtzt so prächtig blüht / wird bald zutretten werden:

Der jtzt so pocht und trotzt / läst vbrig Asch und Bein

Nichts ist / daß auff der Welt könt vnvergänglich seyn /

Jtzt scheint des Glückes Sonn / bald donnerts mit beschwerden.

Der Thaten Herrligkeit muß wie ein Traum vergehn:

Solt denn die Wasserblaß / der leichte Mensch bestehn

Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten!

Alß schlechte Nichtigkeit? als hew / staub / asch vnnd wind?

Als eine Wiesenblum / die man nicht widerfind.

Noch wil / was ewig ist / kein einig Mensch betrachten!

 

Nun gibt es Menschen, zu denen auch ich mich addiere, die tatsächlich, wieder im Gegensatz zur gängigen germanistischen Lesart, jene erste Fassung für stärker halten als die spätere. Germanisten sind ja Wesen, die selbst Goethes Novelle für vortrefflich erachten und nun schon zwei Jahrhunderte selbige Ansicht mit seminaristischem Fleiß einer vom anderen abschreiben. Denn der Kunstgreis persönlich habe jenes Urteil gefällt, vor Eckermann, und, sich bescheiden räuspernd, über die leb- und namenlose Konstruktion bedeutungsvoll hinzugefügt: „Wir wollen sie Novelle nennen…“

Apropos alles sei eitel, dennoch will ich die Nachkriegsfassung des Sonetts über unsere Wesenhaftigkeit nicht im mindesten angreifen. Verfügt sie doch ebenfalls über derartige Stärken und geht mir dermaßen unter die Haut, daß ich mich nicht vermittels Entscheidung von ihr zu trennen vermag und sie Dir vorzuenthalten nicht die geringste Veranlassung sehe. Auch soll doppelt ja besser halten…

 

 

Es ist alles Eitel

 

Du sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.

Was dieser heute baut / reist jener morgen ein:

Wo itzund Städte stehn / wird eine Wisen seyn /

Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden:

Was itzund prächtig blüht / sol bald zutretten werden.

Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein /

Nichts ist / das ewig sey / kein Ertz / kein Marmorstein.

Itzt lacht das Glück uns an / bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.

Soll denn das Spil der Zeit / der leichte Mensch bestehn?

Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten /

Als schlechte Nichtikeit / als Schatten / Staub und Wind;

Als eine Wiesen-Blum / die man nicht wider find’t.

Noch wil was Ewig ist kein einig Mensch betrachten!

 

Und nun das ebenfalls im Dreißigjährigen Kriege, aber noch vor dem gryphiusschen entstandene Gedicht! Paul Fleming (1609 – 1640) hat es geschrieben:

 

 

An Sich

 

SEY dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.

Weich keinem Glücke nicht. Steh‘ höher als der Neid.

Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /

hat sich gleich wieder dich Glück‘ / Ort / und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.

Nim dein Verhängnüß an. Laß‘ alles unbereut.

Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.

Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.

Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke

ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.

Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn /

und eh du förder gehst / so geh‘ in dich zu rücke.

Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann /

dem ist die weite Welt und alles unterthan.

 

Bellarmin an Mephisto

 

Mehr und mehr Ideale werden verdreht, es strebt niemand

Länger nach Bildung, man spottet darüber. Geistigen Reichtum

Kennt man nicht, denn er stellt sich ja nie zu den Schreiern – so pflegt jetzt

Jeder seine Dummheit. Ja, das ist wahrhaft die neue

Ära, in der Unbildung als chic gilt! Welch Stolz der

Leute, Bach nicht zu kennen, Goethe nicht zu ertragen,

Nie hat man etwas von Lessing gehört – und von Gryphius schon gar nicht.

Diese Mühe, wozu, wem sollte sie nützen? Man will sich

Auch in Geschichte nicht auskennen, denn es langweilt. Und wie die

Kinder nimmt man den Film als das Ereignis, und wenn ein

Schauspieler einmal einen Helden mimte, so hält man

Ihn für heldisch, und sein Geschwafel macht ihn dann reich. Man

Hegt eine Pseudobildung über Astrologie und

Film und Sport und Börsenkurse, über das Wetter,

Über esoterische Energien. Die Elite

Weiß Bescheid in Betriebswirtschaft und Jura und liest die

Ratgeberbücher und Managerkurse. Und Popsongs, das sind die

Ewigen Permutationen aus Versatzstücken, kecke

Krämer lassen sie produzieren am laufenden Band in

Ihrem monströsen Trieb, das Geld zu scheffeln, die Popsongs

Also beherrschen alle Kultur, und diejenigen, die

Fähig sind, sich beim Fernsehquiz an ältere Titel

Noch zu erinnern, demnach die Pfiffigeren, die partiell mit

Einem Gedächtnis Begabten, verehrt man als hochmusikalisch.

Und gesungen wird selbst von den Stumpfesten in einer Sprache,

Die sie noch weniger als die eigene Sprache verstehen.

 

Damit beginnt das Reich des Pöbels. Er ist obenauf und

Freut sich dessen in seiner Art. Er trägt Haute Couture und

Sprüht sein Eau de Toilette, er wohnt komfortabel in einem

Haus mit Schwimmbecken und mit Tresor, natürlich besitzt er

Autos und Privatflugzeuge. Sonst fuhr er bei

Einem Kurierdienst, jetzt schickt er andere aus, und er glaubt mit

Diesem Grunde, wichtig zu sein. Er singt Karaoke,

Lädt zu Pressekonferenzen, und die Reporter,

Die ja keinen Konjunktiv mehr kennen, und wenn er

Äußert, er denke dies oder meine jenes, berichten,

Daß er dies denkt oder jenes meint, das Pack von Reportern

Flitzt auch tatsächlich hin und filmt mit Pomp und Gepränge,

Wie er sich spreizt vor seinem Wandschrank mit kantengereihten

Echtgoldverzierten Buchrückenimitaten. Und wenn es

Eine Leifsendung ist, dann flattern die Korrespondenten

Fieberig, heiser, fickerig – leif gilt ihnen als Wert an

Sich, wie vieles erschreckend Bedeutungsloses, sie können

Unwichtiges von Wichtigem nicht mehr scheiden. Und seine

Frau, die früher vierundzwanzig Stunden des Tages

Fernsah und zu dumm ist, auch nur einen von ihren

Sätzen vollständig auszusprechen, prunkt jetzt mit ihrem

Fünfhundertwörterschatz als Moderatorin. Das quatscht aus

Jedem Fernsehsender mit Inbrunst dasselbe und nennt sich

Pluralismus. Und sie behaupten, dies müsse so sein, ihr

Publikum wolle es! Was hieße, das Publikum und das

Fernsehn verblöden sich gegenseitig! Sie normen sich abwärts.

 

Während die Geschmackfreien derart mit einem unsäglich

Zufälligen Allotria, ihrem Verdienst, die Karriere

Machten und reich geworden sind, verlaufen sich schutzlos

Die Gebildeten, obdachlos, zerlumpt und vereinzelt

Unter der Meute, regiert von den Ungebildeten, von den

Ungeduldigen, von den Machern. Was soll das Problem samt

Seinen Gründen? Stolz durchschlagen Pragmatiker jenen

Gordischen Knoten und noch einen Knoten und noch einen Knoten,

Und man wundert sich, warum nichts mehr hält. Doch man denkt nicht

Lange nach und läßt sich darob loben, in seiner

Angst befördert jeder die Parvenüs. Denn das Denken

Koste Zeit, und Zeit wäre Geld, und Nachdenken kennt man

Gar nicht mehr. Man will überhaupt nicht die Information, man

Sendet sich Imels und verlangt die Info. Die Wahrheit

Nervt und dauert zu lange. Man glaubt an Gott nicht, man glaubt an

Höchstgeschwindigkeit und Globalisierung, man glaubt an

Die Geburtenkontrolle. Man merkt nicht, warum es bergab geht.

Fachleute gibt es nicht mehr, und unsere Sprache wird täglich

Unverständlicher. Wer wagt noch, zur Arbeit zu gehen?

Schon die Kinder sind des Lebens müde. Die Menschen

Werden weniger, die Geburtenzahlen vermindern

Sich, und es bleibt nur der Wunsch: So möge sich alles zugrunde

Richten. Das Land wird von vollkommen sinnlosen Leuten beherrscht, von

Schomastern, Rambos und Moddels nach ihrem gesunden Empfinden,

Und vom feiernden Volk auf den „Liebes-Paraden“ der Städte

Werden die Toten der Nacht am Tag in die Flüsse geworfen…